Rede von
Ernst
Lemmer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der sozialdemokratische Antrag findet selbstverständlich die volle Unterstützung meiner politischen Freunde. Er hat das Verdienst, dieses Einzelschicksal, wie es Kollege Brandt schon bezeichnete, hier in ein breiteres Licht der Öffentlichkeit zu rücken, weil es um einen grundsätzlichen Vorgang geht, nicht nur deshalb, weil es sich um einen in unserm Gebiet lebenden Journalisten handelt, der nichts anderes getan hat, als seinen beruflichen Pflichten nachgegangen zu sein. Es handelt sich — um das zweideutige Wort „berichtet" hier zu erläutern — nicht darum, daß sich dieser Journalist irgendwelche Nachrichten beschafft hätte, um sie an irgendwelche Stellen weiterzuleiten, sondern er hat als Journalist über das berichtet, was öffentlich zu berichten gewesen ist.
Aber . unter einem anderen Gesichtspunkt verdient dieser Vorgang ernsteste Beachtung. Ich darf darauf hinweisen, daß der Journalist Kluge mit einem ordentlich von einer Besatzungsmacht ausgestellten Interzonenpaß auf einem für den Interzonenverkehr von Berlin nach dem Westen vorgeschriebenen Wege gereist ist.
Ich kann nicht umhin, doch auch die Mitverantwortung aller Besatzungsmächte in diesem Augenblick einmal festzustellen, wenn sie es sich gefallen lassen, daß die von ihnen gestempelten und auf Grund von Vereinbarungen mit der Sowjetunion ausgestellten und unterzeichneten Interzonenpässe wie Fetzen Papier behandelt werden.
Ich meine deshalb, daß im Zeichen der Bemühungen, die zur Zeit in Berlin in verschiedenen Quartieren der vier Sektoren abwechselnd über die Ordnung des Luftkorridors stattfinden, die Verhandlungen der Westmächte mit der Sowjetunion mit dem Ziel, für die Zukunft Zwischenfälle auszuschalten, erweitert werden sollten, sobald sie im Speziellen zu einem Resultat gekommen sein sollten, um auch in den Landkorridorverkehr zwischen Berlin und dem Bundesgebiet Ordnung hineinzubringen.
Es muß aufhören, daß an der Schwelle des neunten Nachkriegsjahrs unschuldige und ehrliche Menschen aus rein politischen Gründen nach Willkür verhaftet und für Jahrzehnte ihrer Freiheit beraubt werden. Aus diesem Grunde möchte ich also
wiederholen und unterstreichen, daß der gegenwärtige Ost-West-Kontakt in Fragen des Luftkorridors zum Anlaß genommen werden sollte, den Verbindungsweg des westlichen Berlin nach dem Westen so zu sichern, wie es modernen Verkehrs-und Rechtsbedürfnissen entsprechen dürfte.
Lassen Sie mich ein letztes Wort sagen. Wenn wir Wert darauf legen müssen, daß dieser Fall Kluge — ich wiederhole alles das nicht, was vom Herrn Minister und von meinem Kollegen Brandt richtig gesagt worden ist — zum Anlaß genommen werden sollte, Maßnahmen zu erwirken, die eine Wiederholung solcher Fälle für die Zukunft ausschließen, dann, glaube ich, dürfen wir Deutsche noch ein allgemeines Wort daran knüpfen. Ich sprach von der Schwelle des neunten Nachkriegsjahrs. Man sollte meinen, daß es allerdings im neunten Nachkriegsjahr deutschen Menschen möglich sein sollte, sich in ihrer eigenen Heimat frei und sicher zu bewegen.
Wir haben geradezu das Menschenrecht zu vertreten, wenn wir auf die Unmöglichkeit der Zustände hinweisen, die seit 1945 in immer verschärfter Form eingetreten sind, so daß beispielsweise Kinder aus der Sowjetzone, wenn sie nicht zu den politisch Privilegierten gehören, keine Möglichkeit haben, etwa zum sterbenden Vater oder zur sterbenden Mutter in das Bundesgebiet zu reisen, weil ihnen der Interzonenpaß vorenthalten wird, während es umgekehrt, wenn Eltern im Bundesgebiet nun nach Jahren ihre Kinder in der Sowjetzone besuchen wollen, nur ein Zufall wäre, wenn sie das Glück haben sollten, nach monatelangem Warten ein Interzonenpapier zu erhalten. Ich finde, daß es unerträglich ist, wenn nun schon acht Jahre lang der Bruder nicht zur Schwester, das Kind nicht zum Vater, die Mutter nicht zur Tochter innerhalb des deutschen Gebietes fahren kann. Dagegen erheben wir in Verbindung mit dem Fall Kluge vor der Öffentlichkeit dieses Hohen Hauses feierlichen Protest.
Dieser Protest kann nicht mit politischen Einwänden zurückgewiesen werden. Wir kennen den tragischen Zwiespalt der Teilung unseres Vaterlandes in der Nachkriegssituation und die Entwicklung, die gefolgt ist. Aber dieser politische Zwiespalt rechtfertigt es nicht, daß es von Bonn aus leichter ist, die Möglichkeit zur Reise nach Buenos Aires zu erhalten als etwa von Braunschweig nach Magdeburg. Das sind unerträgliche Zustände. Wir wünschen, dieses furchtbare Urteil gegen den Berufsjournalisten Herbert Kluge möge dazu beitragen, die Aufmerksamkeit auf solche Zustände hinzulenken. Denken wir auch daran, daß erst vor vier Tagen ein 18jähriger Junge bei dem Versuch, illegal die Demarkationslinie bei Helmstedt zu überschreiten, erschossen worden ist.
Dieser Junge wollte vielleicht zu seinen Eltern und hatte nicht die Möglichkeit, einen Interzonenpaß zu bekommen. Gewiß hat er sich des Versuchs einer Gesetzesübertretung schuldig gemacht, indem er illegal die Grenze zu überschreiten suchte. Sorgen wir aber dafür, daß selbst Kinder nicht mehr
gezwungen sind, über solche Wege ihre natürlichen Menschenrechte wahrnehmen zu wollen!