Rede von
Willy
Brandt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 7. März dieses Jahres hat die Hauptversammlung des Deutschen Journalistenverbandes eine Entschließung angenommen, die ich mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten hier verlesen darf:
Der Deutsche Journalistenverband hat mit Entrüstung von der Verurteilung des Journalisten Herbert Kluge zu 15 Jahren Zuchthaus in der sowjetischen Besatzungszone Kenntnis genommen. Dieses Urteil hat mit Recht und Gesetz nichts zu tun. Kluge wurde ins Zuchthaus gebracht, weil er in der Bundesrepublik und in Berlin über die Verhältnisse in der sowjetischen Besatzungszone berichtet hatte. Jeder Journalist, der dasselbe tut, hat mit der gleichen Gefahr zu rechnen. Das ist ein unerträglicher Zustand, der jede freie Berichterstattung unmöglich macht. Der Deutsche Journalistenverband wendet sich deshalb an den Deutschen Bundestag und fordert die Abgeordneten auf, alle Maßnahmen zu treffen, um Kluge zu befreien und die freie journalistische Tätigkeit auf deutschem Boden zu sichern.
Meine Fraktion hat sich die Forderung der deutschen Journalisten zu eigen gemacht. Man mag vielleicht die Frage stellen, welche Veranlassung für den Deutschen Bundestag besteht, sich mit einem Einzelfall der sowjetzonalen Justizverfolgung zu befassen. Wir haben das in früheren Fällen getan und wir meinten, es heute wiederum tun zu sollen, nicht um eine bestimmte Person hervorzuheben und dabei andere zu übergehen — erst heute wieder melden die Zeitungen aus Leipzig ein Todesurteil und eine Reihe von Verurteilungen zu langjährigen Zuchthausstrafen —, sondern weil durch den Einzelfall die Aufmerksamkeit auf das tragische Schicksal der Vielen gelenkt werden muß und weil das, was durch die Statistik nicht ausgedrückt werden kann, durch das menschliche Einzelschicksal anschaulich gemacht werden muß.
Aber es geht hier noch um ein zweites: Der Fall Kluge hat seine besondere Bedeutung deswegen, weil hier ein Mann der Presse zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden ist. Ich stelle dabei ausdrücklich fest, daß das Berufungsverfahren vor dem obersten Gericht der Sowjetzone noch aussteht. Er ist also in erster Instanz zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden, weil er für westdeutsche Zeitungen über Verhältnisse in der Sowjetzone berichtet hat. Es geht in diesem Zusammenhang jetzt gar nicht darum, wie es mit der in der Verfassung der sogenannten DDR verankerten Pressefreiheit aussieht, es geht vielmehr darum, daß die Machthaber der Sowjetzone einen deutschen Bürger außerhalb des Gebiets der Sowjetzone verfolgen, weil sich dieser Bürger der in unserem Grundgesetz und in den Grundsätzen der Vereinten Nationen gesicherten Pressefreiheit bedient hat.
Der 52jährige Herbert Kluge war vor 1933 Berichterstatter für das „Berliner Tageblatt" in Lon-
don und Rom. Er wurde nach 1933 von der Berufsliste gestrichen. Nach seiner Rückkehr aus englischer Gefangenschaft war er 1947 kurze Zeit bei der „Berliner Zeitung" und später Mitarbeiter westdeutscher Blätter. Bis zuletzt war er auch als Berichterstatter bei den Ostberliner Stellen registriert. Am 19. Juni des vergangenen Jahres fuhr Kluge mit einem Interzonenautobus, dem sogenannten „Bayern-Expreß" aus Berlin ab. Er wurde in Stuttgart erwartet, wo seine einige Monate zuvor begonnene Mitarbeit beim Südfunk in festere Formen gebracht werden sollte. Aber er kam nicht so weit. Am Kontrollpunkt Juchhöh-Toepen wurde Kluge festgenommen. In seiner Aktentasche befanden sich Ausschnitte aus Tageszeitungen und Bewerbungsunterlagen, die dann im sogenannten Gerichtsverfahren gegen ihn verwandt wurden.
Am 23. August des vergangenen Jahres hat ein Beauftragter des Generals Tschuikow, der wahrscheinlich von den sowjetzonalen Stellen falsch unterrichtet worden ist, gegenüber dem amtierenden Hohen Kommissar der Vereinigten Staaten behauptet, Kluge sei von den Behörden der DDR — ich zitiere — „wegen begangener Verbrechen auf diesem Territorium und wegen umstürzlerischer Bestrebungen, die gegen die Republik gerichtet sind", in Haft genommen. Das damals noch nicht aufgelöste sowjetzonale Informationsamt und der Generalstaatsanwalt in Ostberlin erklärten öffentlich und übereinstimmend, Kluge solle wegen angeblicher Spionage belangt werden, nicht wegen seiner journalistischen Tätigkeit in Westberlin oder in Westdeutschland. Die Anklage stützte sich auf den schwammigen Begriff der Boykotthetze, von der in Art. 6 der DDR-Verfassung die Rede ist, und sie stützte sich weiter auf Art. III A III der Kontrollratsdirektive Nr. 38.
Die Hauptverhandlung, die dann am 6. Februar dieses Jahres in Gera stattgefunden hat, ergab entgegen den früheren Behauptungen, daß die Vorwürfe gegen Kluge ausschließlich auf dessen journalistischer Tätigkeit beruhten. Ein auch nur andeutungsweise erfolgreicher Beweis für irgendwelche Spionagehandlungen konnte nicht geführt werden.
Kluge ist trotzdem unter effektiver Rechtsbeugung zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden.
Er hat mannhaft vor Gericht erklärt, daß er dieses Terrorurteil niemals annehmen werde.
Das vorliegende Material, vor allem auch die eingangs von mir zitierte Entschließung des Deutschen Journalistenverbandes, erscheint uns ausreichend, die Forderung auf sofortige Freilassung von Kluge zu erheben und, wie wir es in unserem Antrag tun, die Bundesregierung aufzufordern, die Alliierte Hohe Kommission um geeignete Schritte bei der Sowjetischen Kontrollkommission zu ersuchen. Wir möchten darüber hinaus, wie wir das in Punkt 3 unseres Antrags ausführen, daß sich der Ausschuß für gesamtdeutsche Fragen über die näheren Umstände dieses Falles und über das Schicksal anderer in die Zone verschleppter oder dort verurteilter Journalisten informiert und dem Bundestag schriftlich Bericht erstattet.
Vor mir liegt eine Liste, die der Presseverband Berlin vor einigen Monaten herausgegeben hat.
Auf dieser Liste befinden sich die Namen von 32 verschwundenen und verhafteten Journalisten.
Ich nenne aus dieser Liste vier Namen: Dieter Friede, Mitarbeiter des „Abend"; in den sowjetischen Sektor gelockt; zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Wolfgang Hansske, Mitarbeiter des „Tagesspiegel"; beim kommunistischen Putsch im September 1948 im Neuen Stadthaus in der Parochialstraße verhaftet, damals 21 Jahre alt, vom Militärtribunal in Potsdam zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt.
Die Strafe soll dann auf 15 Jahre herabgesetzt worden sein. Ich nenne Horst Vollrath, redaktioneller Mitarbeiter beim damaligen „Sozialdemokrat" in Berlin. Im Alter von 21 Jahren 1949 in der Wohnung seiner Mutter in Friedrichshagen verhaftet. Durch sowjetisches Militärtribunal zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. Ich nenne Alfred Weiland, Journalist und Dozent an der Volkshochschule Schöneberg; im Alter von 44 Jahren im November 1950 in einem Kraftwagen in den Ostsektor verschleppt und seitdem verschollen.
Heute steht der Willkürakt gegen Herbert Kluge auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestags. Aber der Name von Kluge steht heute für all die vielen unschuldigen Opfer der Gewaltherrschaft. Wir sind ihnen allen verpflichtet: den Kriegs- und den Zivilgefangenen in den Gefängnissen der Sowjetzone und in den Lagern, die weiter im Osten zu suchen sind. Die Zeitungen waren in den vergangenen Tagen und Wochen voll von Meldungen darüber, daß möglicherweise neue Signale in der internationalen Politik zu vernehmen seien. Ich darf dazu folgendes bemerken: Meine politischen Freunde und ich wünschen nichts mehr, als daß sich Möglichkeiten einer Entspannung der internationalen Lage bieten möchten, und wir meinen, die deutsche Politik müßte aktiv und initiativ bestrebt sein, auf solche Möglichkeiten einzuwirken, unter der einen unabdingbaren Voraussetzung, daß es sich um Lösungsmöglichkeiten auf der Basis von Freiheit und Menschlichkeit handeln muß.
Lassen Sie mich diese Begründung damit schließen, daß ich sage: Es gäbe für diejenigen, die es angeht, kein geeigneteres Gebiet, die Bereitschaft zu einer neuen Deutschland-Politik ernsthaft zu erkennen zu geben, als das Gebiet der Polizei, der Justiz und der Gefangenenbehandlung.
Wer ein friedliches Zusammenleben der Völker will, der möge zumindest und zuerst den unschuldig Verurteilten und Festgehaltenen die Kerkertüren öffnen.
Ich bitte Sie namens meiner Fraktion um die Annahme des Antrags gemäß Drucksache Nr. 4194.