Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit beschränke ich mich auf eine allgemeine Stellungnahme. Ich nehme dabei an, daß es in diesem abendländisch-demokratischen Parlament möglich und erlaubt ist, Auffassungen zu äußern, die nicht diejenigen der Mehrheit dieses Hauses sind.
Die politischen, psychologischen und militärpolitischen Voraussetzungen des noch aus dem Jahre 1950 stammenden EVG-Vertrags scheinen weitgehend verändert oder fortgefallen. Das Feuer der Begeisterung für EVG-Europa ist herabgebrannt, der Nationalismus in allen Ländern wieder im Kommen. Verlauf und Nachhall der Konferenz der sechs Montanminister in Rom, die bisherige Entwicklung in den Fragen der Saar und der Zusatzprotokolle sowie das offenkundige Schicksal des
Straßburger Verfassungsentwurfs zeigen, wie fragwürdig der Optimismus der westdeutschen Politik ist.
Niemand kann Frankreich, dessen Furcht- und Mißtrauenskomplex offenbar durch nichts zu verdrängen ist, hindern wollen, französische statt europäische Politik zu treiben. Aber dann muß man auf bundesrepublikanischer Seite die Tatsache der Zweideutigkeit dieser Politik in Rechnung stellen. Der Plan einer politischen europäischen Gemeinschaft steckt schon in der Stunde der Geburt in den gleichen Schwierigkeiten wie die EVG. Auch hier bildet, wie die Verhandlungen über den Art. 101 des Verfassungsentwurfs offenbarten, allein schon. der ungeklärte Saarstatus, von allem anderen abgesehen, ein unüberwindbares Hindernis, und auch hier wurde der offizielle westdeutsche Optimismus desillusioniert. Herr Dr. Adenauer glaubte, der Entwurf würde zur Verfügung und Entscheidung des Ministerrats der Montan-Union stehen, er dürfe nicht in die Hände der Ministerialbürokratie geraten, die ihn zerfetzen würde. Gerade das aber geschah prompt gemäß der kategorischen Forderung Bidaults und van Zeelands, daß der Entwurf, der übrigens vom Ministerrat des Europarats als noch nicht diskussionsreif bezeichnet wurde, den Regierungen selbst zur Prüfung und Entscheidung überlassen werden müsse. Auch die Saarverhandlungen sind wieder auf den normalen diplomatischen Weg, also in die Hände dieser Ministerialbürokratie verwiesen worden.
Überdies lehnt Bidault die vorzeitige Einbringung des europäischen Verfassungsentwurfs in der Nationalversammlung ab; er ist auch gegen eine mit dem EVG-Vertrag gleichzeitige Einbringung. Er ist überhaupt gegen den Entwurf, er hält das ganze Projekt für zu kühn und zu plötzlich, für eine Utopie, er will Frankreich — so lautet seine These — nicht in Europa ertränken lassen, nicht Europa auf- und Frankreich abbauen. Natürlich, wer die politische europäische Oberbehörde will, der müßte auch die EVG wollen. Ohne politische Oberbehörde aber bliebe die EVG nur ein militärpolitisches Kartell der Generäle innerhalb der Atlantikpaktorganisation, und es würde sich sehr rasch die Entwicklung vom großen Kanzler und kleinen General zum großen General und kleinen Kanzler vollziehen.
Frankreich, durch seinen Kolonialkrieg in Indochina strapaziert, Nordafrikas wegen mit den Vereinigten Staaten und der UNO in Streit, hält, wahrscheinlich seit dem letzten Sommer heimlich verhandelnd, seinen Pakt mit der Sowjetunion aufrecht, den de Gaulle und sein Außenminister Bidault im September 1944 abgeschlossen haben. Hat nicht Frau Tabouis schon im vergangenen Mai im Radio Luxemburg von einer West-Ost-Entente über die Aufrechterhaltung der Teilung Deutschlands gesprochen? Haben nicht im Zusammenhang mit dem im vergangenen Jahre zwischen dem Westen und dem Osten erfolgten Notenwechsel sozusagen offiziöse Publizisten des Westens, haben nicht namhafte Publizisten wie Walter Lippmann, Middleton und Frau Ward, haben nicht alle diese in ihren Aufsätzen die Aufrechterhaltung der deutschen Teilung in einer bestürzenden Weise geradezu als selbstverständlich vorausgesetzt? Gewinnt es nicht neuerdings den Anschein, als ob der alte Gedanke einer Entente cordiale zwischen Frankreich, England und Italien von der französischen Politik wieder hervorgeholt werden wollte? Durch
seine Regierungskrise und deren Lösung, die Schuman durch Bidault ersetzte und die Gaullisten beteiligte, hat Frankreich deutlich gemacht, daß es die Westverträge zumindest in der gegenwärtigen Form als überholt ansieht. Es will eine EVG, die dazu bestimmt und geeignet ist, die Bundesrepublik an die Kette zu legen, die ihm, Frankreich selbst aber erlaubt, im wesentlichen außerhalb zu bleiben.
Herr Dr. Adenauer setzt nun, da die Gesamtheit der Gaullisten kontra ist, seine Hoffnungen auf die französischen Sozialisten und neue englische Garantiezusagen an Frankreich. Auch dieser Traum dürfte nicht reifen.. Die französische Absicht, die Entscheidung über die Ratifizierung in der Schwebe zu lassen, sie zumindest bis nach den Bundestagswahlen zu verzögern, tritt immer unverkennbarer hervor.
Frankreich hat vor die Verträge die Barriere einer zweifachen Koppelung gewälzt: das Junktim mit dem Status der Saar und mit den Zusatzprotokollen. Schon Schuman hat die Koppelung mit der Saarfrage in einer Äußerung vor der Presse Ende Mai 1952 und in einer Stellungnahme vor dem außenpolitischen Ausschuß des Rates der Republik am 11. September des gleichen Jahres verkündet.
Ministerpräsident René Mayer hat am 6. Januar zu Beginn der Investiturdebatte in der Nationalversammlung die Erklärung Schumans wiederholt, daß die Verträge solange nicht ratifiziert werden könnten, als nicht der europäische Status der Saar „definiert" - so drückte er sich aus — worden sei, und am 9. Februar beharrte Bidault bei der Eröffnung der Konferenz mit den Delegierten des Saargebiets wiederum auf dem Junktim. So wurde der Optimismus des Herrn Bundeskanzlers grausam widerlegt, der am 6. Juli 1951 vor dem Hohen Hause prognostiziert hatte: „Ich bin der Auffassung, daß wir die ganze Saarfrage in gar nicht so langer Zeit so gelöst sehen werden, wie wir es wünschen."
Der Bundeskanzler klammert sich jetzt daran, daß René Mayer und Bidault von einer Definierung des Saarstatus gesprochen hätten. Das bedeute nur eine Klärung, nicht schon eine Lösung. Dieser begriffliche Euphemismus gibt jedoch seiner Hoffnung keinerlei Stütze. Er muß doch wissen, daß Frankreich den verbindlichen Charakter einer solchen Festlegung mindestens auf Regierungsebene unterstellt und daß es sich um einen bindenden Vorvertrag handeln würde, der integral in das spätere förmliche Abkommen überginge. Entweder nimmt der Kanzler das Junktim an, dann muß der Abschluß der dritten Beratung nach § 30 Abs. 2 der Geschäftsordnung ausgesetzt werden, bis das Ergebnis der Verhandlungen vorliegt, oder er lehnt es tatsächlich ab, dann ist die EVG überhaupt gegenstandslos, da Frankreich von dem Junktim nicht abgehen wird.