Rede von
Helene
Wessel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(Fraktionslos)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist natürlich unmöglich, in einigen Minuten darüber zu sprechen,
was die Annahme des Generalvertrags und des EVG-Vertrags für das Schicksal des deutschen Volkes bedeuten wird. Jeder in diesem Hohen Hause wird sich der Verantwortung seiner Entscheidung nicht entziehen können.
Zunächst möchte ich aber einige Ausführungen zu der Rede des Herrn Abgeordneten Reimann machen. Wir sind nicht in der Lage, die Maßnahmen anzuerkennen, die die Sowjetunion jetzt in der Ostzone anwendet. Die Vorgänge in der Ostzone stehen der gesamtdeutschen Lösung, wie sie in der russischen Note vom 10. März 1952 und in den folgenden Noten dargestellt worden sind, entgegen. Wir haben alle soeben mit Interesse vom Herrn Abgeordneten Reimann gehört, daß die russischen Noten in ihrer Stellungnahme zur deutschen Frage noch gültig sind. Wir sprechen aber demgegenüber offen aus, daß wir keineswegs akzeptieren können, was in der Ostzone vor sich geht, und daß es uns angesichts dieser Vorgänge nicht leicht fällt, wenn nicht andere gewichtige Gründe dafür sprechen, gegen die Westverträge zu kämpfen. Die Politik, die in der Ostzone angewendet wird, trägt wirklich nicht dazu bei, die Hoffnung auf eine gesamtdeutsche Lösung zu stärken.
Das möchte ich dem, was ich jetzt sage, zunächst vorausgeschickt haben.
Bei der gestrigen Debatte über das Wahlgesetz ist das Ermächtigungsgesetz von 1933 zitiert worden. Was uns jetzt hier vorliegt, scheint mir ein neues Ermächtigungsgesetz zu sein. Es wird nämlich der Regierung eine Vollmacht gegeben, die nicht dem Willen der Mehrheit des deutschen Volkes entspricht. Wäre man sich nämlich dieser Zustimmung des Volkes so sicher gewesen, hätte eine demokratische Regierung es nicht nötig gehabt, die Durchführung eines Volksentscheides zu verhindern.
Es ist Hegel, der gesagt hat, die Geschichte beweist, daß die Völker aus der Geschichte nichts lernen. Als vor 20 Jahren die nicht nichtnationalsozialistischen Abgeordneten des Reichstages Hitlers Ermächtigungsgesetz zustimmten, gingen sie von der trügerischen Annahme aus, sich damit in die dynamische Entwicklung des Nationalsozialismus einschalten zu können. Heute plädiert man für die Verträge in der ebenso trügerischen Hoffnung, sich in die dynamische Außenpolitik Amerikas gegenüber Rußland einschalten zu können, um mit der Politik der starken Faust, die am Ende eine Politik der starken Fäuste werden wird, Rußland auf die Knie zwingen zu können und auf diesem Wege die Ostgebiete zurückzubekommen. Glaubt man denn wirklich, die umfassende Neuordnung Ostasiens und Osteuropas, d. h. die Befreiung dieser Länder vom Kommunismus, auf friedlichem Wege durchführen zu können? Es war der amerikanische Präsidentschaftskandidat Stevenson, der am 14. Februar 1953 gegenüber dieser Politik erklärt hat: „Die USA können die Sowjets mit Drohungen an Westeuropa nicht erschrecken." Kann es die Aufgabe des zweigeteilten Deutschlands sein, in diesem Kampf zwischen Amerika und Rußland in West- wie in Ostdeutschland den Festlandsdegen für einen dritten Weltkrieg abzugeben? Wir haben wahrhaftig aus der Geschichte nichts gelernt.
Für den Herrn Bundeskanzler ist das von der neuen amerikanischen Regierung verkündete Programm zweifellos keine Überraschung; denn es liegt in der folgerichtigen Entwicklung der von ihm laut Heidelberger Rede vom 1. März 1952 angestrebten Neuordnung Osteuropas.
Auch in seiner heutigen Rede hat der Herr Bundeskanzler wieder gesagt, daß der Abmarsch der Bundesrepublik in die westliche Aufrüstung der einzige Weg zur Herstellung der Einheit Deutschlands ist. Der Herr Bundeskanzler weiß doch genau, daß zu einer friedlichen Wiedervereinigung die Zustimmung aller Besatzungsmächte, also auch Rußlands, erforderlich ist. Begreift man denn nicht, je ausschließlicher .wir uns in der gegenwärtigen Weltsituation auf die westliche Seite, und zwar nun auch militärisch, festlegen, um so mehr verhindern wir, daß die östliche Seite ihre Zustimmung zu einer Wiedervereinigung Deutschlands gibt? Sei man doch wenigstens so ehrlich, bei den 20 Millionen Menschen der Ostzone nicht eine Hoffnung zu wecken, die sich nicht erfüllen wird. In dieser Erkenntnis scheint mir das Ausland viel ehrlicher zu sein. Aus den zahlreichen Ausführungen hierüber möchte ich die Feststellung der „Times" vom 24. Februar 1953 erwähnen, daß durch die Verträge die Wiedervereinigung Deutschlands für eine Generation oder für noch längere Zeit verschoben wird. Und die „Tat" schrieb im Januar 1952, daß diese Politik den Verzicht bedeute, den geteilten deutschen Staatskörper je wieder zusammenzuführen. Mit der Annahme dieser Verträge wird die Spaltung Deutschlands weiter vertieft, und damit rücken wir der Gefahr eines dritten Weltkrieges um einen verhängnisvollen Schritt näher; denn das geteilte Deutschland wird immer eine Gefahr für den Weltfrieden sein.
Noch ein letztes. Dieser Bundestag ist nicht mit dem Auftrag gewählt worden, eine Wiederaufrüstung Deutschlands durchzuführen.
Man hat das deutsche Volk zu dieser gefährlichen Politik, zu der wir jetzt ja sagen sollen, in keiner Weise gefragt. Aber das Volk wird dazu noch sprechen, und wenn es nicht früher gehört wird, dann bei den Bundestagswahlen. Geben Sie sich doch in diesem Hause keineswegs der Hoffnung hin, es könnte in einer Schicksalsfrage, die über Leben und Tod des deutschen Volkes in West- wie in Ostdeutschland entscheiden wird, gegen den Willen des Volkes regiert werden.