Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Abgeordnete Scharnberg hat mich gleich zu Beginn seiner Ausführungen einer unwahren Berichterstattung über das Zustandekommen des Wahlgesetzes von 1949 bezichtigt. Ich darf dazu feststellen, daß ich bei der Begründung des sozialdemokratischen Gesetzentwurfs nach dem Stenogramm — und zwar zu den Abgeordneten der CDU/CSU gewandt — folgendes erklärt habe:
Sie sind heute so gegen den Entwurf der SPD, und Sie verschweigen schamhaft, daß dieser Entwurf — ich sagte es vorhin schon — auf dem Wahlgesetzentwurf von 1949 aufbaut, den Sie doch alle durch Ihre Länderministerpräsidenten mitgemacht haben.... Die Länder haben 1949 durch ihre Ministerpräsidenten — auch
durch die, die politisch zu Ihnen gehören dieses Gesetz akzeptiert.
Meine Damen und Herren, an Stelle dieser polemischen Anwürfe hätte uns von der Sozialdemokratie viel mehr interessiert, einmal von Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, noch mehr aber von dem Herrn Bundesinnenminister zu
hören, was denn nun eigentlich in der Zwischenzeit aus dem Regierungsentwurf geworden ist.
Der Herr Vizepräsident des Hohen Hauses, Herr Kollege Dr. Schäfer, hat sich ja sehr reserviert gegenüber diesem Entwurf geäußert, und Herr Kollege Jaeger hat ihm — zumindest zum erheblichen Teil — eine klare Absage erteilt. Und wenn die Zeitungen nicht völlig falsch berichten, hat es in der letzten Woche im Kabinett erhebliche Auseinandersetzungen, um nicht zu sagen einen solennen Krach darüber gegeben, was denn nun aus dem Regierungswahlgesetzentwurf werden solle. Ob also die Regierung heute überhaupt noch an ihrem Entwurf festhält, weiß niemand. Ich darf daher die Bitte wiederholen, der Herr Bundesinnenminister möchte doch die Öffentlichkeit einmal darüber aufklären, ob die Regierung noch bei ihrem — wie er genannt worden ist — Wechselbalg bleibt. Dieses Hin und Her bei dem Wahlgesetzentwurf erinnert an jenen Zweizeiler von Schiller, der den ewigen Zwiespalt zwischen Hoffnung und Erfüllung formuliert hat:
In den Ozean schifft mit tausend Masten der Jüngling,
Still auf gerettetem. Boot treibt in den Hafen der Greis.
Dieses Durcheinander bei der Regierung und den Regierungsparteien ist durchaus verständlich. Man braucht sich nur einmal zu überlegen, wie dieser Gesetzentwurf durch Haupt- und Hilfsstimmen, durch Teil- und Gesamtlistenverbindungen, durch einen äußeren und inneren Proporz ein heilloses Wirrwarr schafft; und dabei sollte eine solche Gesetzesvorlage über das Wahlrecht für den einzelnen Wähler klar und übersichtlich sein. Dieses Durcheinander läßt sich am besten durch zwei Beispiele der amtlichen Begründung demonstrieren. In der amtlichen Begründung zu dem merkwürdigen Instrument der Hilfsstimme heißt es unter anderem, wenn in einem Wahlkreis auf die Partei A 25 000 Stimmen, auf die Partei B 20 000 Stimmen und auf die Partei C 10 000 Stimmen entfielen und wenn dann von der Partei B 4000 Wähler ihre Hilfsstimme für A und von der Partei C 6000 Wähler ihre Hilfsstimme für B gäben, dann werde — immer nach der amtlichen Begründung — A 29 000 und B 26 000 Stimmen haben, d. h. A hätte die meisten Stimmen und müßte nach dem Grundsatz der von Ihnen proklamierten Mehrheitswahl als gewählt gelten. Aber was macht hieraus der Regierungsentwurf? Er denkt gar nicht daran, den Kandidaten A als gewählt anzuerkennen: In solchem Fall dürfen — so meint die Regierung — nur die 6000 Stimmen von C zugunsten von B gelten, aber nicht die 4000 Hilfsstimmen von B zugunsten des A; und wenn Sie sich dann die Sache bei Licht ansehen, ist plötzlich nicht der Kandidat gewählt, der 29 000 Stimmen hat, sondern der, der 26 000 Stimmen erhält.
Es wird niemand sagen wollen, daß es der Wille der Wähler sei — und zwar derjenigen Wähler, die von ihrer Hilfsstimme Gebrauch gemacht haben —, zugunsten der Hilfsstimmen anderer Wähler auf ihre eigene Hilfsstimme zu verzichten.
Ein zweites Beispiel aus der amtlichen Begründung. Die verfassungsrechtlichen Schlußfolgerungen sollen gleich gezogen werden. Nach dieser amtlichen Begründung — ich darf mit Erlaubnis des
Herrn Präsidenten einige Sätze aus der amtlichen, wobei ich dieses Wort unterstreiche, Begründung verlesen — soll der Listenausgleich wie folgt durchgeführt werden. Der Herr Bundesminister des Innern erklärte, diese Begründung sei klar und verständlich!
Das Auszählverfahren geht wie folgt vor sich: Zunächst wird für jede Bundesliste die Zahl der auf sie entfallenden Stimmen ermittelt. Sodann werden die Gesamtzahlen der Stimmen zusammengezählt, die auf die durch Listenverbindung zusammengeschlossenen Gruppen entfallen. Nach dem Höchstzahlverfahren wird nunmehr die Verteilung der Sitze auf die einzelnen Bundeslisten und Verbindungen und sodann die Unterverteilung der den Verbindungen zugefallenen Sitze auf die beteiligten Bundeslisten vorgenommen. Dann werden die Sitze innerhalb der Bundesliste auf die einzelnen Landeswahivorschläge verteilt und dort den Bewerbern in ihrer Reihenfolge zugewiesen.
Meine Damen und Herren, wer von Ihnen hat das verstanden? Das nennt sich nun ein einfaches, klares und übersichtliches Wahlrecht!
Was folgt aus diesen beiden Beispielen? Ich will mich zunächst auf die verfassungsrechtlichen Konsequenzen beschränken. Das amtliche Beispiel über die Verwertung der Hilfsstimmen zu § 8 — daß also nur in bestimmten Fällen alle Hilfsstimmen gerechnet werden, in einigen Fällen aber nicht — beweist zunächst, daß hier der Grundsatz der Gleichheit bei der Wahl ganz eklatant verletzt ist;
denn és gibt bei den Wahlgängen in den einzelnen Wahlkreisen — auch nach Auffassung der Bundesregierung — Fälle, in denen nur ein Teil der abgegebenen Hilfsstimmen zum Zuge kommen darf und ein anderer Teil nicht.
Die zweite Verletzung liegt in der Nichtbeachtung des Art. 38 des Grundgesetzes. Art. 38 verlangt in Anlehnung an die Vorschriften der Weimarer Verfassung freie Wahlen. Aber freie Wahlen heißt nicht nur, daß kein äußerer Zwang, daß kein Terror sein darf, es heißt vor allem auch, Freiheit der Wähler von dem Gewissenszwang, ob sie überhaupt und wen sie wählen sollen. Nach dem Regierungsentwurf ist der Wähler zwar frei darin, wen er wählen will, aber er ist nicht frei, ob er auf das Recht der Hilfsstimme verzichtet oder nicht. Hier nämlich wird der Wähler unter einen Gewissenszwang gestellt. Er muß, wenn er einer Partei angehört, die keine wesensgleiche andere Partei neben sich hat, auf das Recht der Hilfsstimme verzichten, oder er wird gezwungen — um nicht gegenüber anderen Wählern benachteiligt zu sein —, einer anderen Partei, die nicht seinen Vorstellungen entspricht, seine Hilfsstimme zu geben. Damit fördern Sie übrigens die politisch Labilen, die Lauen; Sie fördern diejenigen, denen es im Grunde genommen gar nicht so wichtig ist, ob diese oder jene Partei gewählt wird; Sie fördern diejenigen, die gern bereit sind, ihr Mäntelchen nach dem Winde zu hängen, während Sie denjenigen, die aus der Tradition ihrer politischen Vergangenheit ein klares politisches Vorstellungsbild von dem haben, was sie erreichen wollen, praktisch nicht die Möglichkeit geben, von ihrer Hilfsstimme Gebrauch zu machen. Die Bundesregierung meint — Kollege Wuermeling hat das an anderer Stelle wieder-
holt —, es bestünde doch die Möglichkeit, daß ein Wähler draußen seine Stimme für eine Partei der jetzigen Regierung und seine Hilfsstimme für einen SPD-Abgeordneten abgebe. Aber ist es nicht grotesk, ein Wahlrecht zu machen, wonach ein Wähler bei der entscheidenden Wahl 1953 sagen kann: „Ich bin für die Regierung Adenauer; hilfsweise bin ich. dagegen."?
Die Benachteiligung bei diesem System der Hilfsstimme — es fällt uns auf, daß man auf sie in der Aussprache nicht mehr zurückgekommen ist — trifft natürlich auch die heute zur Regierungskoalition gehörenden Parteien FDP und DP; denn mit ihren Hilfsstimmen — das ist ja auch die Absicht des Gesetzentwurfs — werden in den einzelnen Wahlkreisen mehr CDU-Abgeordnete gewählt werden als umgekehrt Abgeordnete der FDP und DP durch Stimmen der CDU-Wähler. Der Ausgleich soll nun über den merkwürdigen neuerfundenen inneren Proporz geschehen. Damit schaffen Sie praktisch einen Zwang zur Listenverbindung. Denn was bleibt der FDP und DP anders übrig, wenn sie ihre Hilfsstimmen im Wahlkreis der CDU geben sollen, als eine Listenverbindung einzugehen, weil sonst ihre Stimmen restlos und endgültig verlorengehen?
Dieses Wahlgesetz der Bundesregierung widerspricht aber auch dem von der Verfassung geforderten Grundsatz der unmittelbaren Wahl. Nach dem Regierungsentwurf wählt der Wähler über seine Hauptstimme vielleicht einen Kandidaten der CDU, über die Hilfsstimme vielleicht — er weiß das vorher nicht — einen Kandidaten der FDP, durch die merkwürdige neue Art der Teillistenverbindung wählt er vielleicht einen DP-Abgeordneten und schließlich durch die Gesamtlistenverbindung vielleicht einen Abgeordneten der Bayernpartei. Aber damit nur kein Rest an Gewißheit für ihn verbleibt, was aus seiner Stimme wird, kann es ihm passieren, daß er als süddeutscher liberaler Wähler plötzlich einen Kandidaten der schwarz-weiß-roten nationalen Rechten in Nordrhein-Westfalen gewählt hat, die dort mit Herrn Dr. Middelhauve eine Fraktionsgemeinschaft eingegangen ist.
Da noch von unmittelbaren Wahlen zu sprechen, — ich glaube, das ist verfassungsrechtlich überhaupt nicht zu verteidigen. Man kann schließlich auch zu diesem System sagen:
Rechte Hand, linke Hand, alles vertauscht,
Wahlrecht, wie schaust du mir wunderlich aus!
Dabei ist es nicht ohne Reiz, daß ausgerechnet diejenige Partei, die sich sonst nicht genug für das Persönlichkeitswahlrecht einsetzt, durch dieses System praktisch keine Persönlichkeiten wählen läßt, sondern den Wähler zwingt, seine Stimme in der Gewißheit in den Kasten zu geben, daß er nicht weiß, wer daraufhin gewählt wird.
Nach § 12 des Gesetzentwurfs ist die Durchführung der Wahl Bundessache. Mit Recht hat der Bundesrat hierin eine Verletzung des Art. 83 des Grundgesetzes gesehen, wonach die Durchführung von Bundesgesetzen Aufgabe der Länder ist. Der Regierungsentwurf sieht darüber hinaus weder bundeseigene, noch eine Auftragsverwaltung vor. Er versucht, eine völlig neue, in der Verfassung nicht bekannte Form einer Verwaltung zu schaffen. Es ist kein Grund ersichtlich, warum die Länder, die auch 1949 die Wahlen durchgeführt haben, das nicht auch 1953 tun sollten.
Die Regierung hat demgegenüber darauf hingewiesen, die Wahl zum Bundesparlament sei aus ihrer ganzen staatsrechtlichen Natur heraus eine Bundessache, weil es sich dabei um die Bildung eines Bundesorgans handle. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß auch 1949 die Länder die Wahlen durchgeführt haben. Auch in den Vereinigten Staaten wird die Wahl nicht von der Föderation, sondern von den einzelnen Ländern durchgeführt.
Wir haben daher keinen Zweifel, daß so wesentliche und offenkundige Verstöße gegen die Art. 3 und 38 des Grundgesetzes vorliegen, daß der Verfassungsgerichtshof in Karlsruhe den Regierungsentwurf in der heutigen Fassung für ungültig erklären wird.
Die Einrichtung eines Sonderausschusses lehnen wir ab. Wir sehen keine Veranlassung, dem seit Jahren für die Fragen der Innenpolitik zuständigen Ausschuß für innere. Angelegenheiten plötzlich dieses Sachgebiet zu entziehen.
Der Ausschuß für innere Angelegenheiten hat in guter Zusammenarbeit aller darin vertretenen Fraktionen die ihm bisher überwiesenen Aufgaben korrekt und pünktlich, viel pünktlicher als andere Ausschüsse, erledigt.
Außerdem möchte ich noch folgendes sagen. Als wir neulich, im Dezember, bei der Beratung über die Gleichberechtigung der Frauen den Sonderausschuß deshalb erbaten, weil der Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht überlastet sei und daher die Beratung des Gesetzes über die Gleichberechtigung der Frau nicht rechtzeitig bis zum 1. April dieses Jahres zu Ende führen könne, haben Sie die Errichtung eines Sonderausschusses abgelehnt. Es würde uns interessieren, warum Sie in diesem Sonderfall von der alten Regel, daß jeder Ausschuß seine Sachgebiete zur Behandlung bekommt, abweichen wollen.
Ich darf nach diesen, verständlicherweise etwas trocken wirkenden verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten noch einige allgemeine Hinweise bringen. Ich habe bereits bei der Begründung unseres Gesetzentwurfes auf die Vorgänge bei den Nachwahlen zum jetzigen Bundestag verwiesen. Da haben Sie durch Blockbildungen den Wähler zu übertölpeln versucht, haben ihm klarzumachen versucht, der Unterschied zwischen den einzelnen Regierungsparteien sei ja gar nicht so groß, man könne daher beruhigt einen gemeinsamen Kandidaten aufstellen. Diese Überrumpelung ist nicht überall geglückt. Weil Ihnen das nicht geglückt ist, haben Sie nun Angst, künftig in den einzelnen Wahlkreisen mit der gleichen Methode der Wahlbündnisse zu arbeiten. Daher scheuen Sie das System der Listenverbindung in den Wahlkreisen; das wollen sie nach der Wahl machen, also hinter dem Vorhang, und dem Blick der Öffentlichkeit entzogen. Über die Listenverbindungen wollen Sie die Stimme des Wählers nicht dort lassen, wohin sie der Wähler haben will, Sie wollen sie dahin manipulieren, wohin sie die Bundesregierung haben zu müssen glaubt. Man marschiert zunächst getrennt, um den Wähler zu locken, und sobald die Stimme im Kasten ist, wird mit ihr nicht das gemacht, was sich der Wähler dabei gedacht hat.
In der heutigen Debatte ist schon davon gesprochen worden, daß die Absicht der Regierung offenbar dahin ginge, sich auch im neuen Bundestag an der Macht zu halten. Man hat das bestritten. Unser verehrter Herr Bundestagspräsident hat sich zu den Vorhaltungen, die ihm auf Grund der Pressenotizen gemacht worden sind, vorhin geäußert. Ich möchte darauf nicht zurückkommen. Aber, meine Damen und Herren, ich komme nicht umhin, aus einem Artikel unseres verehrten Mitglieds dieses Hohen Hauses, des Herrn Even, einige Sätze zu verlesen, den er vor einiger Zeit in der „KettelerWacht" geschrieben hat. Aus diesem Zeitungsartikel ergibt sich klipp und klar die Absicht des Gesetzes, von vornherein die jetzige Opposition auch bei dem nächsten Bundestag auszuschalten. Herr Kollege Even hat nämlich Bedenken gegen diese Methode angemeldet.
— Herr Kollege Even — ich nehme an, daß Sie es waren, der den Zwischenruf machte —, ich konzediere durchaus, daß Sie die SPD in zum Teil aggressiver Form angegriffen haben. — Mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten darf ich aus dem Artikel zwei Sätze verlesen:
Das neue Wahlgesetz könnte und wird vielleicht dazu führen, die SPD für weitere vier Jahre aus der Regierung und von der Verantwortung fernzuhalten.
Meine Damen und Herren, das ist doch das offene Eingeständnis auch von Ihnen, daß das die Absicht des Gesetzentwurfes war!
Herr Kollege Even schreibt ferner:
Uns ist nicht wohl bei dem Gedanken, daß durch ein Wahlgesetz die SPD schon vor den Wahlen für weitere vier Jahre von der Verantwortung ausgeschlossen sein soll.
Die Form der künftigen Koalition sollte erst nach den Wahlen geprüft werden und jede Partei in ihrer Entscheidung bis dahin frei bleiben.
Das ist durchaus richtig, Herr Kollege Even; aber es beweist, was man in den Fraktionssitzungen der Bundesregierung Ihnen über den Sinn des Gesetzes vorgetragen hat.
Warum hat man übrigens — die Frage muß bei diesem Zwischenruf wiederholt werden — das Gesetz seitens der Bundesregierung fast ein Jahr beraten und so spät vorgelegt, wenn man nicht versucht hat, mit den letzten mathematischen Kniffeleien zu errechnen, wie man aus der von Ihnen befürchteten Zunahme der SPD-Stimmen möglichst wenig Mandate machen kann?
Es ist hier von den Rednern der CDU/CSU soviel auf die Ländergesetzgebung hingewiesen worden, und mit Pathos hat man immer wieder erklärt, indem man auf uns zeigte: „Ja, in Hessen, in Hamburg, in Niedersachsen, da habt ihr Gesetze gemacht, die uns, der CDU/CSU, so geschadet
haben!" — Nun, meine Damen und Herren, warum verschweigt man dann aber, wenn man hier schon zu den Ländergesetzen Stellung nimmt, der Öffentlichkeit, daß in sämtlichen drei Ländern — in Hessen, Hamburg und Niedersachsen — die CDU diese Gesetze mit angenommen hat?!
Sie können doch die Gesetze, die Ihre eigenen politischen Freunde in den Ländern bejaht haben, jetzt nicht hier abschütteln. Außerdem sehen Sie sich doch bitte erst einmal die Wahlsysteme z. B. in Hessen und in Hamburg an! Dort haben Sie genau das gleiche Wahlsystem, das wir hier 1949 angenommen haben.
— Entschuldigen Sie! Lesen Sie doch einmal nach, z. B. daß § 9 des hessischen Wahlgesetzes genau übereinstimmt mit dem Bundestagswahlgesetz von 1949!
— Herr Kollege Schröder, es ist nicht anders!
— Entschuldigen Sie! Ich habe mir sogar die Gesetzesbücher hier auf den Tisch legen lassen. Herr Kollege Ritzel zeigt sie Ihnen.
Man scheint die Hilfsstimme durch die Stichwahl ersetzen zu wollen. Wir teilen die Bedenken, die Herr Kollege Jaeger gegen das System der Stichwahl vorgetragen hat. Hätten wir 1949 bei unseren 242 Wahlkreisen das Stichwahlsystem gehabt, wir hätten in nicht weniger als 200 Wahlkreisen eine zweite Wahl abhalten müssen. Ich glaube, daß wir schon wegen der Gefahr einer Wahlmüdigkeit ein solches System nicht akzeptieren sollten. Wir haben auf dem Gebiete der Stichwahl eine jahrzehntelange Erfahrung aus der Zeit vor 1918. Der Reichstag der Kaiserzeit mit dem absoluten — nicht nur dem relativen — Mehrheitswahlrecht wies zumeist 15 bis 16 Fraktionen und Gruppen auf. Das absolute Stichwahlsystem hat die Vielheit der Fraktionen im Deutschen Reichstag nicht verhindern können. Und woher kam es, daß so viele Fraktionen im Reichstag vertreten waren? Dadurch, daß man vor dem zweiten Wahlgang zwischen den Parteien verabredete — womit zumeist ein politischer Kaufpreis verbunden war —, der Kandidat welcher Partei in der Stichwahl aufgestellt und von allen anderen Parteien gegen die Sozialdemokratie gewählt werden sollte. Das bedeutet doch die unendlich große Gefahr politischer Korrumpierung.
Und wenn Herr Kollege W u e r m e l i n g neulich in der Begründung seines Gesetzentwurfs so vor der Macht des Parteiapparats gewarnt hat, so steht doch, meine Damen und Herren, ganz einwandfrei fest, daß bei einem System mit Stichwahl, wenn ich auf die von Ihnen beantragte Zahl von 484 Abgeordneten exemplifiziere, bei ungefähr 420 Abgeordneten allein und ausschließlich die Parteibürokratie entscheiden würde, wer zur Stichwahl vorgeschlagen würde.
Wie stark die Bundesregierung bei ihrem Entwurf von ihrem Bemühen ausgegangen ist, sich auch für die nächste Wahlperiode ihre Mehrheit zu retten, das ergibt sich nicht nur aus der Bestimmung, daß man den Ländern — ich will nicht wiederholen, was neulich schon erörtert wurde — die Möglichkeit entziehen will, die Wahlkreise einzuteilen, es ergibt sich das auch aus Vorgängen, die in zunehmendem Maße die' Öffentlichkeit interessieren: der Bildung gemeinsamer Wahlfonds El die Koalitionsparteien. Die Arbeitgebervereinigungen haben neuerdings ihre Mitglieder aufgefordert, zugunsten des Wahlfonds der Regierungsparteien für jeden Arbeitnehmer 60 bis 110 Pfennig zu spenden.
Es ist offenes Gespräch in den Wandelgängen dieses Hauses — und der Name des Herrn Heinrichsbauer aus Köln taucht wieder auf —, daß der gemeinsame Wahlfonds bereits mehrere Millionen betrage, deren Hergabe jedoch von einem Wahlgesetz abhängig gemacht wird, das von vornherein die Ausschaltung der Sozialdemokratie garantiert.
Es ist dem Herrn Kollegen Scharnberg und anderen Kollegen bei den Hinweisen auf die Rolle der Verhältniswahl in der Weimarer Republik bereits einiges erwidert. Lassen Sie mich das durch einige Zahlen ergänzen. Bei der letzten Reichstagswahl am 5. März 1933 bekam die NSDAP 46,2% der Stimmen und entsprechend viel Mandate im Reichstag. Der Staatsrechtler Prof. Jellinek hat in einer interessanten Studie über die Auswertung der letzten Reichstagswahlen vor 1933 dargelegt, daß bei Anwendung des reinen Mehrheitswahlrechts die NSDAP bereits 1932 nahe an die absolute Mehrheit der Mandate herangekommen wäre und daß bei der Anwendung des reinen Mehrheitswahlrechts bei der Wahl vom 5. März 1933 die NSDAP ca. 60 % der Mandate im Reichstag bekommen haben würde.
Das Verhältniswahlrecht der Weimarer Zeit hat. also nicht das Zurmachtkommen des Nationalsozialismus gefördert, sondern hat ihn bis zur letzten Stunde unterdrückt. Und wenn es trotzdem Hitler möglich war, nachher die Mehrheit für sein verfassungsänderndes Ermächtigungsgesetz zu bekommen, dann waren es die Deutschnationale Volkspartei und die Harzburger Front, die gerade den Segen des Verhältniswahlrechts umfälschten und Hitler die genügenden Restmandate gaben, 'um die Weimarer Verfassung zu zerstören.
Übrigens darf ich noch an eine andere Zahl erinnern. Als der letzte kaiserliche Reichstag von 1918, gewählt nach dem absoluten Mehrheitswahlrecht, auseinanderging, wies er 12 Fraktionen auf. Als der erste Reichstag der deutschen Republik zusammentrat, gewählt nach dem reinen Verhältniswahlrecht, wies er vier Fraktionen weniger, d. h. nur acht Fraktionen auf.
Zum Schluß, meine Damen und Herren, sei mir noch einmal eine Zusammenfassung unserer Bedenken gestattet. Sie sagen, Sie seien gegen ein Verhältniswahlrecht, aber gleichzeitig erhöhen Sie den Anteil der Listenmandate; Sie seien für ein Mehrheitswahlrecht, aber das, was in Ihrem Entwurf wirklich mehrheitsbildend sein könnte, wird durch den inneren Proporz sofort wieder beseitigt; Sie
seien für die Persönlichkeitswahl, und Sie schaffen über dieses System der Listenverbindung zugleich das anonymste Wahlrecht, das es in Deutschland jemals gegeben hat.
Sie sagen, man müsse weg von dem verhängnisvollen Proporz, aber zugleich führen Sie neu den inneren und äußeren Proporz ein, den wir bisher nicht kannten.
Bei diesem Zwiespalt zwischen Ihren Erklärungen und dem Inhalt des Gesetzentwurfes ist es doch offenbar, daß Sie mit diesem Gesetzentwurf andere Prinzipien verfolgen als die, die Sie nach außen proklamieren. Es soll — ich darf noch einmal auf die „Ketteler-Wacht" zurückkommen; daraus ergibt es sich klipp und klar — der Versuch sein, die SPD nicht in der Stärke, in der sie bei den Wahlen in der Bevölkerung verankert sein wird, im Bundestag vertreten zu sehen. Aber glauben Sie denn wirklich, daß es möglich ist, durch Verschiebungen von Wahlsystemen die sittliche und moralische Idee einer Partei, die eine 80 Jahre lange Bewährung auf sich hat, unterdrücken zu können? Sie durch solche Methoden in Quarantäne nehmen zu wollen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Für uns handelt es sich bei diesem Gesetz nicht um ein gewöhnliches Gesetz. Das heißt, die Annahme des Gesetzes bedeutet nicht, daß wir uns ohne weiteres damit abfinden können. Denn das Wahlrecht kann in bestimmten Situationen eines Volkes wichtiger sein als eine geschriebene Verfassung, und wir Sozialdemokraten glauben, daß wir in einer solchen Situation sind. Die Verfassung, die wir uns 1949 gegeben haben, würde alsbald zu einem Stück Papier werden, wenn der Vorschlag der Regierung Gesetz würde.
So stehen wir wieder einmal in unserer Geschichte vor einer der wichtigsten Entscheidungen über die Grundlagen einer freiheitlichen Demokratie. Was die Regierung hier vorschlägt, ist nichts weiter als ein Ermächtigungsgesetz in neuem Gewande.
Wir aber warnen, den Weg des 23. März 1933 ein zweites Mal zu gehen.
(Präsident Dr. Ehlers übernimmt wieder
den Vorsitz.)