Rede von
Dr.
Hermann
Schäfer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich beneide ich die Kollegen, die mit einer besonderen Emphase und Gläubigkeit für ein bestimmtes System des Wahlrechts eintreten können. Die haben es nämlich furchtbar leicht und einfach. Aber ich weiß nicht, ob wir mit dieser Wahlrechtsorthodoxie den Notwendigkeiten, vor die wir gestellt sind, wirklich Rechnung tragen und ob die angriffsheftig übersteigerte Behauptung, man habe den Stein der Weisen gefunden, die Lösung erleichtert und die Meinung, was die anderen meinen, sei einfach falsch und böse, richtig ist. Ich glaube, es gibt kein Gebiet der Politik, auf dem so viel Phantasietätigkeit möglich ist und auf dem man mit der Deutung geschichtlicher und soziologischer Zusammenhänge und struktureller Entwicklungen so viel behaupten und so viel begründen kann wie gerade auf dem Gebiet des Wahlrechts.
Eines scheint mir allerdings nicht schön zu sein: daß man bei diesen Dingen so schrecklich moralisiert, daß immer der eine dem anderen vorhält, er habe irgendwelche Berechnungen im Hintergrund und der andere mache eine Arithmetik der mutmaßlichen Vorteile und wolle ausrechnen, wie die Dinge zu seinen Gunsten wirken. Ach, ich will gar nicht bestreiten, daß die Lockung eines corriger la fortune hinsichtlich des einen oder anderen Partners besteht. Streiten wir das doch nicht ab! Wir müssen uns nur von solchen Erwägungen frei machen. Denn im Grunde würde eine Wahlrechtsentwicklung, die unter derartigen Gesichtspunkten offenbare Mißbräuche zeigen würde, der Gesamtentwicklung zur gefestigten Demokratie tatsächlich nicht entsprechen.
Vor allen Dingen, meine Damen und Herren: Ist es nicht ein bissel schrecklich, mit dieser doppelten Moral zu arbeiten, indem man sich immer über den anderen entrüstet?
— Doch, das gilt gerade für Sie, meine Herren von der SPD! Sie entrüsten sich jetzt schrecklich über Regierungsentwürfe. Was da aber in manchen Ländern von Ihrer Seite gemacht worden ist
— na, hören Sie mal! —, da ist auch etwas Wahlarithmetik und da ist noch dazu Wahlkreisgeometrie. Machen wir doch die Dinge durch künstliche Entrüstung nicht so umständlich und schwierig, und erschweren wir uns die Geschichte nicht mit einer doppelten Moral!
Welche Erfordernisse sind denn nun an ein Wahlrecht zu stellen? Wir müssen dabei von der
Funktion der Wahl in der Demokratie ausgehen. Was hat sie eigentlich zu bedeuten? Sie soll erstens die dominanten und die rezessiven Strömungen in der politischen und geistigen Entwicklung feststellen. Sie soll feststellen, welche Kräfte im Aufstieg und welche Kräfte im Abstieg sind. In diesem Wechselspiel liegt die Stärke der Demokratie. Ihre Lebendigkeit liegt in dem so geweckten Spannungsverhältnis und tut sich in dem Bemühen der Richtungsgruppen, aufzusteigen, immer wieder kund. Darin liegt doch ihre große leistungssteigernde Kraft. Das ist das eine, was man berücksichtigen muß.
Zum zweiten soll eine Wahl ein System der Auslese darstellen. Es soll im Wettbewerb der Wahl eine immer bessere, wenn Sie so wollen, Elite von Leuten ausgelesen werden, die die Gesetze machen und die Regierungspolitik bestimmen. Das ist doch der Sinn einer Wahl, und das ist auch der Sinn der Auseinandersetzung in der Politik, weil man durch Auseinandersetzung die Erkenntnisse darüber, was gut und was schlecht ist, immer mehr verfeinern kann. Das ist der zweite Sinn dessen, was mit einer Wahl zusammenhängt. Er wollte hinter allen Formen und Wirkungen der politischen Agitation und Propaganda, die sich aus einem Wahlvorgang immer wieder ergeben, stehen.
Wir sollten an jedes Wahlrecht mit dem Maßstab herantreten: was fördert diese beiden wesentFunktionen möglichst günstig, nämlich die wechselnden Strömungen des politischen Lebens gerecht einerseits sichtbar werden zu lassen und andererseits gleichzeitig einen Ausleseprozeß durchzubilden, der hinsichtlich der gesetzgeberischen Arbeit möglichst steigernde Wirkungen hat? Da muß ich allerdings dem Herrn Kollegen Scharnberg sagen, daß ich unter solchen Gesichtspunkten keineswegs von der Überlegenheit des sogenannten Mehrheitswahlrechts überzeugt bin. Es ist in Wirklichkeit ja kein Mehrheitswahlrecht, sondern es ist fast immer ein Minderheitenwahlrecht. Es bleibt an ihm auszusetzen, daß es sehr leicht — und das ist in den meisten Fällen sogar so — je nach der Struktur der politischen Parteien und der politischen Gruppenbildung unter den Wählern zu einem Mißverhältnis zwischen den Wählerstimmen und den Mandaten ausartet. Diese Erscheinung haben wir sehr oft. Es wirkt sich als Minderheitenwahlrecht aus. Die politischen Strukturverhältnisse, unter denen bestimmte politische Parteien kompakte Gruppen bilden, wirken sich aus. Das ist dann durchaus keine Übereinstimmung zwischen der dominanten Strömung im Volk und den vorherrschenden Gruppen im Parlament. Das haben sich die Leute im englischen Wahlrecht leisten können. Denken Sie aber bitte an die englische Parteiengeschichte! Die Parteien in England sind ja ursprünglich nicht wie bei uns Weltanschauungsgruppen.
— Die Geschichte des Wahlrechts ist aufschlußreich; ich will das hier nicht ausführen. Jedenfalls ist es für uns sehr gefährlich, der Lockung des einfachen Mechanismus, der ja im Mehrheitswahlrecht steckt, allzusehr nachzugeben. Es ist kein Zweifel, wenn man bloß mechanistisch denkt, wie die Mehrheitsbildung am einfachsten geschieht, dann haben Sie recht. Als formale Mechanik ist das großartig; aber es wirkt meist unorganisch, denn es fehlt nachher die Übereinstimmung zwischen der Parlamentsmehrheit und der Volksmehrheit. Da liegen Spannungsverhältnisse, Reibungsverluste von äußerster Bedenklichkeit vor, besonders weil darin auch etwas sehr Konservierendes zugunsten der politischen Gruppe liegt, die an bestimmten Stellen, aus Tradition, aus sozialer Schichtung, aus weltanschaulicher Gruppierung über kompakte Mehrheiten verfügt. Solche Mehrheiten entstehen aber nicht auf der Grundlage politischer Überzeugung, sondern auf Grund von Motiven, die überwiegend außerhalb der eigentlichen Politik liegen. So entsteht mit Hilfe des Mehrheitswahlrechts erst recht noch ein Mißverhältnis zwischen den politischen Kräften und der Mandatsverteilung.
Bei einem Wahlrecht kommt es doch darauf an, ein hohes Maß von Stimmengerechtigkeit anzustreben, ein anständiges Verhältnis zwischen den Stimmen der Wähler und der Vertretung der Wähler hier im Parlament. Gegen die solcher Zielsetzung entsprechende Verhältniswahl ist heute hier wieder einmal allerhand erzählt worden. Es ist von der Wirkung des Verhältniswahlrechts in der Weimarer Republik gesprochen worden. Was da immer erzählt wird, stimmt aber doch nicht. Erstens haben wir in der kaiserlichen Zeit, als wir den Einerwahlkreis und die Stichwahl hatten, auch an die zwölf Parteien im Reichstag gehabt.
Also die Parteienbildung und -zersplitterung ist in keiner Weise durch das Verhältniswahlrecht geweckt, sondern das liegt — wie soll ich sagen? — an der Staatsbürgerseele des Deutschen, an seinem Differenzierungsbedürfnis. Das ist ein recht gefährliches Bedürfnis. Es ist sicherlich zu überlegen, wie man ihm eine sinnreiche Schranke setzen könnte. Man kann auch nicht einfach sagen, das Verhältniswahlrecht habe die Weimarer Republik zerstört. Kaputtgemacht haben die Weimarer Republik zuerst und zumeist diejenigen, die mit ungeheueren Propagandamitteln gegen die Republik und gegen die Demokratie angerannt sind.
Zum zweiten ist die Weimarer Republik von den republikanischen Parteien nicht genügend verteidigt worden, weil sie sich allzuoft gescheut haben, in die Verantwortung hineinzugehen. Denken Sie an die Situation Brünings, der mit einem solchen merkwürdigen Präsidialkabinett regieren mußte. Wie anders wäre die Situation gewesen, wenn sich damals alle verfassungstreuen Parteien entschlossen hätten, hinter ihn zu treten, und, koste es, was es wolle, die unpopulärsten Dinge durchzuziehen, um die Demokratie aufrechtzuerhalten.
Herr Mellies, Sie haben mit vergangenen Ereignissen polemisiert. Wir sollten uns doch nicht immer sosehr mit der Vergangenheit aufhalten. Man kann die Dinge auch etwas anders ansehen, als Sie sie dargestellt haben. Vor allen Dingen haben Sie wieder die Geschichte von dem Ermächtigungsgesetz gebracht. Fälschen wir doch die Geschichte nicht allzusehr! Die Entscheidung war 1932 gefallen, als der Staatsstreich des Herrn von Papen gelungen war. Damit begann nämlich der Umsturz zum Diktaturstaat, zum autoritären Staat. Ob die Geschehnisse von 1932 gut oder böse waren, das will ich jetzt nicht erörtern. Ich will auch da nicht von Schuld, von Fehlern und Verantwortlichkeiten reden. Das Ermächtigungsgesetz war nichts als eine Form. So ist es wenigstens von denen gedacht worden, die ihm zugestimmt haben, obwohl sie
innerlich weiß Gott alles anderes als Nationalsozialisten waren, aber zugestimmt haben, weil sie, gebeten von sehr vielen, für sie etwas erträgliche Übergänge schaffen wollten, nachdem die Flutwelle unaufhaltsam war. So liegen die Dinge. Also bitte, stellen Sie es nicht immer so dar, als ob erst das Ermächtigungsgesetz die Machtverhältnisse geändert habe. Die Veränderung der Machtpositionen war schon vorher geschehen; das Gesetz war lediglich eine machtpolitisch belanglose
unter recht opportunistischen Erwägungen veranstaltete Formalität.
— Doch, doch, doch! Ich habe die Vorgänge sehr sorgfältig miterlebt und kann da aus eigener Beobachtung urteilen. Nebenbei bemerkt gehöre ich nicht zu denen, die zugestimmt haben; ich kann also um so objektiver von den Dingen reden.
— Ich verteidige die Leute ja gar nicht, sondern ich wende mich nur dagegen, daß das Ermächtigungsgesetz in der damaligen machtpolitischen Auseinandersetzung irgendeine entscheidende Bedeutung gehabt haben soll.
Es ist nichts weiter als die formelle Folgerung aus Machtentscheidungen gewesen, die vollzogen waren, als sich Papen mit seinem Staatsstreich durchgesetzt hatte und hinterher nun der Massenwahn über allzu viele Menschen kam und nicht mehr aufzuhalten war.
Also, meine Damen und Herren, ich will nicht so viel über die alten Dinge reden. Man muß aber daran anknüpfen, wenn geschichtliche Dinge mißdeutet werden. Mir kam es hier auf den Nachweis an, daß es falsch ist, das Verhältniswahlrecht für die Weimarer Fehlschläge entscheidend verantwortlich zu machen. Man soll sich außerdem ansehen, wie es damals mit der Parteibildung gewesen ist. Eins ist allerdings bedenklich gewesen: das Aufkommen reiner gruppenegoistischer Elemente, reiner Ständegruppen ist erleichtert worden, das Auftreten von Abgeordneten, die von Politik im Grunde genommen nichts mehr wissen wollten. Damit ist natürlich das Niveau sehr verdorben worden; denn letzten Endes gehört zur Auslese auch, daß der Politiker gewählt wird und nicht der Interessent. Politik ist mehr als die Vertretung von Interessen. Politik setzt eine weite Fülle von politischen Einsichten, eine Verfeinerung des politischen Erkenntnisvermögens voraus. Politik setzt die intuitive Fähigkeit voraus, Zusammenhänge, die man weder rein rechnerisch noch bloß empirisch, am
allerwenigsten aber mit naturwissenschaftlichen Methoden ermitteln kann, zu überlegen und zu deuten.
Dann darf ich noch auf eins aufmerksam machen; auch das muß einmal überlegt werden. Das Mehrheitswahlrecht, wie man es in England hat, stammt in seinen Anlagen eigentlich aus der Biedermeierzeit. Es stammt aus einer Zeit, in der die Verkehrsverhältnisse noch schlecht waren und es gar keine andere Möglichkeit der Repräsentation gab, als daß einer gewählt wurde, ein halbes Jahr
in die Hauptstadt fuhr und da seine Wähler vertrat. Heute haben wir diese engen Grenzen und diese Ortsgebundenheit doch nicht mehr. Meine Damen und Herren, machen Sie nicht den Wahlkreis zum Dogma! Er ist mehr und mehr eine fragwürdige Institution. Die Anhänger eines Menschen wohnen heutzutage nicht in einem kleinen Ortsbereich. Wo es aber der Fall ist, da ist gerade die Gefahr, daß das Lokale gegenüber dem Gesamten der Politik überwiegt, um das es in diesem Parlament geht.
Also es gibt sogar ein Element — wie soll ich sagen? — der Destruktion, das aus einer rein wahlkreismäßigen Betrachtung der politischen Dinge kommen könnte. Das aber spricht wieder sehr dafür, nun etwas anderes gelten zu lassen: auch die Liste, die sich über weite Räume erstreckt. Das entspricht der modernen Struktur der politischen Willensbildung viel mehr, als wenn eine Wahl nur lokal begrenzt und gebunden wäre.
Und dann sehen Sie sich die Funktionen des Parlaments an! Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten ein Parlament, das aus lauter „unabhängigen" Leuten bestünde, die nur ihren Wahlkreis im Auge haben und nur wahlkreisorientiert sind. Wir wären ein amorpher Haufen, der zu Willensentscheidungen überhaupt nicht in der Lage wäre.
Weil wir dies nicht wollen, scheint uns auch der Beitrag der Listenwahl sehr bedeutsam und gerechtfertigt zu sein unter dem Gesichtspunkt sowohl der Selektion wie unter dem Gesichtspunkt, daß sie zur politischen Gruppenbildung hindrängt. Ein Parlament ist doch funktionsfähig nur durch Gruppenbildung, d. h. durch Fraktionen; denn so allein können Mehrheiten herbeigeführt werden. Und Mehrheiten muß es im Parlament geben, damit es funktionsfähig ist und sich gegenüber der Bürokratie durchsetzen kann. Ein amorpher Haufen von Abgeordneten ist dazu nicht in der Lage.
Neben dieser Begünstigung der Fraktionsbildung überhaupt ermöglicht die Listenwahl im Gegensatz zur Gruppenbildung unter dem Gesichtspunkt der Vertretung von Orts- und Landesteilen eine Zusammensetzung der Fraktionen in der Richtung, daß Spezialisten für die einzelnen Sachgebiete vertreten sind, wie dies heute bei der ungeheuren Fülle der gesetzgeberischen Tätigkeit unerläßlich ist. Auch das ist eine Voraussetzung der Funktionsfähigkeit des Parlaments und seines Gewichts gegenüber der Bürokratie.
Das sind alles Notwendigkeiten, die im reinen Mehrheitswahlrecht in keiner Weise gefördert sind. Ja, wenn wir die Überlieferungen hätten, die England hat! Da geht allerdings die Autorität der Parteispitzen so weit,, daß man die Wahlkreise unter dem Gesichtspunkt verteilt: wie bekomme ich in meiner Fraktion das Schattenkabinett, wenn ich in der Opposition bin, bzw. wie habe ich gleich, wenn ich die Mehrheit bekomme, das Kabinett? Zu solcher Reife, zu solcher Besonnenheit und Einsicht
ist unsere innerparteiliche Entwicklung auf allen Seiten dieses Hauses noch nicht gediehen.
Wir sollten da in unseren Folgerungen nicht weitergehen, als es dem tatsächlichen Entwicklungsstadium unseres politischen Lebens entspricht.
Herr Kollege Scharnberg hat von der Gefahr der negativen Majoritäten gesprochen, die wir in der Weimarer Zeit bisweilen hatten. Diese Ge-
fahr ist ja nun durch das Grundgesetz weitgehend ausgeräumt. Negative Mehrheiten können niemals mehr Regierungen stürzen.
— Gesetze verhindern; da ist auch wieder eine andere Frage, wieweit es geht. Aber dann ist immerhin eine Regierung da, die mit dem Mittel der Auflösung Korrekturen anbringen kann. Ich möchte mal sehen, wer dann in dem Konflikt zwischen Regierung und negativer Mehrheit der Stärkere ist. Ich glaube also, diese Gefahr ist nicht mehr so gewaltig, wie sie damals war, wo das bloße Mißtrauensvotum genügte, eine Regierung zu stürzen, ohne eine andere an die Stelle zu setzen. Diese Gefahr ist durch das konstruktive Mißtrauensvotum beseitigt worden.
Ich möchte meine skizzenhaften Überlegungen dahin zusammenfassen: Wir brauchen ein Wahlrecht, das dem Gesichtspunkt der Stimmengerechtigkeit entspricht, das zugleich dem Auslesegrundsatz Rechnung trägt. Aber wir brauchen auch zweifellos ein Element des Schutzes gegen allzu weitgehende Zersplitterung; das erkennen wir durchaus an. Es ist unhaltbar, daß sich dauernd neue Grüppchen unter zum Teil sehr, sehr unaufrichtigen Vorwänden bilden, ja, daß Leute, wenn sie in ihrem Gewerbe gescheitert sind, als Erwerbslosenfürsorge für sich dann eine neue Partei gründen. Daß man solche Mißbildungen beschränken muß, ich glaube, darüber bestehen keine Meinungsverschiedenheiten. Das kann man aber mit gewissen Mitteln der Begrenzung machen, meinetwegen auch — und das wird zu überlegen sein — mit der Durchführung der Stichwahl da, wo wir uns entschlossen haben, Wahlkreise zu bilden. Das ist doch wohl der Sinn der Vorlage, die von der Regierung eingebracht worden ist, solche Mischung zu machen. Man kann es nur Mischung nennen, denn einen echten Kompromiß zwischen Proportional- und Mehrheitswahl gibt es in Wirklichkeit nicht, sondern es gibt nur ein Nebeneinander; es sind zwei grundsätzlich verschiedene Herkunftsbereiche. Das eine ist die Liste mit der Proportion, und auf der anderen Seite steht der Wahlkreis. Die Verzahnung ist zu überlegen, die darin besteht, zwischen den Verhältniswahlmandaten auf den Listen und den Wahlkreismandaten gewisse Zusammenhänge zu schaffen. Hier sind also Ausgleichsüberlegungen anzustellen. Hier scheint immerhin ein Kompromißversuch angebracht. Ob er gut oder schlecht ist, das sollte man nicht so leichthin entscheiden. Man sollte auch nicht so, wie es Herr Kollege Mellies getan hat, immer nur die Motive der Bundesregierung verdächtigen und so tun, als wenn das alles einfach immer nur Versuche seien, das Wahlrecht tendenziös zu machen. Es ist nicht zu bestreiten, daß auch der Entwurf der Regierung zum mindensten das Prinzip der Chancengleichheit wahrt.
— Ja, verzeihen Sie, Herr Menzel, die Sache ist doch so: die Chancenungieichheit, soweit sie auf Strukturverhältnissen der politischen Parteien beruht, ist keine Angelegenheit des Gesetzgebers. Die gesetzliche Chancengleichheit aber besteht darin, daß jede Gruppe in der Lage ist, sich so auszubreiten, daß sie zum Zuge kommen kann. Ob das im Augenblick mit Rücksicht auf bestimmte Strukturverhältnisse und Entwicklungen von Parteien hier gut oder dort böse ist, das ist schwer zu prophezeien. Das können Sie überhaupt nicht berechnen.
Denn es ist immer möglich, daß sich — bald so, bald so — Kombinationen bilden. Zu wessen Gunsten sich dann der in der Vorlage versuchte Integrationseffekt auswirkt, das ist nicht eine Folge des Gesetzes, sondern eine Folge der Anpassung der Parteistruktur an ein Gesetz. Wir wissen doch aus der Partei- und Wahlrechtsgeschichte, daß Parteistrukturen sich sehr gut Wahlrechtsformen anzupassen vermögen und anpassen.
— Nein, nein, das stimmt nicht! Jeder Partei ist die Möglichkeit gegeben, die Chancen des Wahlrechts, die gleichermaßen vorhanden sind und die etwa auch in den Formen der Listenverbindung gegeben sind, für sich in Anspruch zu nehmen. Wenn man unter diesem Gesichtspunkt an die Sache herangeht, kann man sehr im Zweifel darüber sein, welchen Gruppen dieses Hauses das Wahlgesetz eigentlich zugute kommen kann. Das steht doch bis jetzt in keiner Weise fest. Das ist immer eine Frage der Formationen und der Wahrnehmung der Möglichkeiten des Abstimmungsverfahrens. Also hier ist immerhin ein Kompromiß ermöglicht.
Ich kann für meine Freunde sagen: Wir haben in keiner Weise die Absicht, uns heute bei dieser Auseinandersetzung für alle Zeiten festzulegen. Wir sind vielmehr der Meinung, daß wir ohne parteiarithmetische Vorurteile das bestfunktionierende Wahlrecht überlegen müssen. Wir werden im Ausschuß sehen, wie auf Grund der verschiedenen Ausführungen und Auffassungen ein Wahlrecht zustande kommen kann, das auf möglichst breiter Grundlage durchkommt und die Voraussetzung dafür schafft. daß die breitesten Schichten der Wähler zum politischen Interesse und zur Wahlfreudigkeit gebracht werden.