Rede von
Dr.
Thomas
Dehler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Das Urteil gegen die Sozialistische Reichspartei, das in der einstweiligen Verfügung erlassene Versammlungs-
und Redeverbot beschränkte praktisch für eine unbestimmte Zahl von Personen die Grundrechte der Versammlungs- und Redefreiheit, die in Wirklichkeit nach dem dafür vorgesehenen Verwirkungsverfahren hätten beschränkt werden können und sollen. Das Entscheidende bei diesem Urteil — ich will auf Einzelheiten gar nicht eingehen — ist doch wohl, daß das Verfahren sich nur gegen die Partei als solche richtete und daß das Urteil Mandate ab) erkannte — meine Damen und Herren, Mandate, die ja nicht durch die Partei, sondern durch die Wähler gegeben worden sind, mit der Folge,
daß diese Wähler in den Parlamenten nicht mehr vertreten sind. Ich sage, daß für diese Aberkennung keine rechtliche Möglichkeit,
aber auch kein Bedürfnis bestand, weil die Möglichkeit der Aberkennung der Mandate im Wege des Verwirkungsantrags bestanden hätte.
Nur soviel, meine Damen und Herren, damit Sie erkennen, welche Sorge aus der praktischen Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei mir entstanden ist.
Der Beschluß vom 8. Dezember ist ja nur eine Fortsetzung dieser Haltung. Es ist richtig, daß ich diesen Beschluß als Nullum bezeichnet habe. Nullum — ein terminus technicus —
ist die Kennzeichnung, daß eine gerichtliche Entscheidung ultra vires erlassen worden ist, über die Zuständigkeit eines Gerichtes hinaus, und deshalb keine Bindung haben kann.
Es tut mir leid, ich muß Ihnen, wenn Sie die Dinge verstehen wollen, noch die Entwicklung des Streites in der Wehrbeitragsfrage kurz darlegen. Sie wissen: Am 31. Januar vorigen Jahres Klage einer Minderheit dieses Hauses — der Opposition, darf ich einmal sagen — auf Feststellung, daß der Wehrbeitrag ohne vorangegangene Ergänzung und
Änderung des Grundgesetzes weder förmlich noch sachlich mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Am 10. Juni Auftrag des Herrn Bundespräsidenten, ein Gutachten zu erstatten. Am 26. Juni, meine Damen und Herren — das ist nun bedeutsam —, eine Mitteilung des Herrn Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts an das Bundespräsidialamt, daß nach einem Beschluß des Plenums vom gleichen Tage mit Rücksicht auf die beim Ersten Senat anhängende Klage das Gutachten zunächst nicht, sondern erst nach der ordnungsgemäßen Verbescheidung dieser Klage behandelt werden könne; also Feststellung des Vorrangs eines strittigen Verfahrens vor der Erstattung eines Gutachtens. Am 30. Juli vorigen Jahres Abweisung der Klage der Opposition als unzulässig, daraufhin Bearbeitung des Gutachtens.
Im Gegensatz nun zu anderen Gutachtenerstattungen — ich erinnere an das Gutachten über die Auslegung des Art. 108 Abs. 2 des Grundgesetzes, nämlich über die Frage, ob ein Gesetz, durch das die Einkommen- und Körperschaftsteuer der Länder zum Teil in Anspruch genomeh wird, ein Zustimmungsgesetz ist oder nicht, oder an das Gutachten über die Frage, ob der Bund ein Baugesetz erlassen kann — hat das Bundesverfassungsgericht es in diesem Falle für notwendig gehalten, ein großes förmliches Verfahren, ähnlich einem streitigen, kontroversen Verfahren, über das Gutachten durchzuführen; ein Vorgehen, das an sich im Gesetz keinerlei Grundlage findet und das in der Folge auch zu den aufgetretenen Schwierigkeiten geführt hat. Am 6. Dezember vorigen Jahres, nach der zweiten Lesung, hat die Mehrheit dieses Hauses ihre Klage eingereicht. Am 8. Dezember hat dann das Plenum den Beschluß gefaßt, der am 9. Dezember verkündet wurde, den Herr Professor Gülich vorhin verlesen hat. Die Bundesregierung hat dann noch am gleichen Tage ihre Vertreter aus diesem sogenannten Gutachtenverfahren zurückgezogen. Am 10. Dezember hat dann der Herr Bundespräsident an das Bundesverfassungsgericht die Mitteilung gerichtet, daß er seinen Auftrag zur Erstattung eines Gutachtens zurückziehe, weil durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts nach seiner Meinung das Wesen dieses Gutachtens erheblich verändert worden sei. Am 14. oder 15. Dezember hat das Bundesverfassungsgericht eine Begründung dieses Beschlusses gegeben, obwohl vorher von einer solchen Begründung keine Rede war, hat dabei das Stimmenverhältnis wiedergegeben und darüber hinaus festgelegt, daß das Gutachtenverfahren weitergeht und daß alle Gutachten des Plenums nicht nur im vorliegenden Fall, sondern auch in der Folge die Senate, den Ersten und den Zweiten Senat, bei ihren Entscheidungen binden.
Ich habe diesen Beschluß als rechtlich nicht zutreffend bezeichnet. Diese Kritik müssen Sie, glaube ich, einem Bundesjustizminister zugestehen, wenn er aus ehrlicher, ehrlichster Überzeugung der Meinung ist, daß für diesen Beschluß weder im Grundgesetz noch im Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine rechtliche Grundlage geschaffen ist, so daß dieser Beschluß auch gar keine bindende Kraft haben kann. Es ist völlig irrig, wenn in der Bezeichnung „Nullum" irgendeine Diskriminierung erblickt wird. Sie drückt nur die Feststellung aus, daß dieser Beschluß keine rechtliche Bindung haben kann. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dabei mit seiner eigenen früheren Stellungnahme in Widerspruch gestellt. Ich habe Ihnen vorgetragen, daß das Bundesverfassungsgericht im Juni vorigen Jahres die Meinung vertreten hat, daß ein streitiges
Verfahren den Vorrang vor der Erstattung eines Gutachtens habe. Jetzt hat es sich auf den Standpunkt gestellt, daß ein anhängiges sogenanntes Gutachtenverfahren trotz Anhängigwerdens eines echten Streites fortzusetzen sei.
Ja, meine Damen und Herren, wenn ein Bundesjustizminister seine Meinung nicht mehr sagen dürfte, dann käme die große Frage, die ja bei jeder Verfassungsgerichtsbarkeit auftaucht: Wenn man Wächter der Verfassung einsetzt — quis custodiet custodes ipsos, wer bewacht am Ende die Wächter des Staates?
Ich sage es drum noch einmal: ich nehme gern den Anlaß auf, um mit Ihnen — es handelt sich ja um Ihre Rechte, um die Rechte des Parlaments als Gesetzgebungsorgan — über diese Situation zu sprechen, weil Sie, weil der Bundestag es ja auch nicht hinnehmen kann, daß durch das oberste deutsche Verfassungsgericht die Rechte des Parlaments geschmälert werden. Das ist ein echter Konfliktsfall, der klargestellt werden muß und der am besten klargestellt wird durch eine Aussprache.
Sie wissen, daß einer der Richter des Bundesverfassungsgerichts eine abweichende Meinung zu der Begründung des Beschlusses abgegeben hat, die ich für gut halte. Ich möchte aus den vielen Stellungnahmen, die ich mir auch beschafft habe, nur die eines ordentlichen Professors des Staatsrechts wiedergeben:
Ich halte den Weg, den das Bundesverfassungsgericht schon früher eingeschlagen hat und in seinem Beschluß vom 8. Dezember nur entschlossen weitergeschritten ist, für ungeheuer gefährlich; denn dieser Weg, an dessen Ende eine Art Diktatur des Bundesverfassungsgerichts steht, das Funktionen der Rechtsprechung, der Gesetzgebung und der Regierung damit in sich vereinigt, hat heute schon, da er erst beschritten ist, eine Verschiebung der vom Grundgesetz gewollten und normierten Machtverteilung in der Bundesrepublik zur Folge. Das 'Bundesverfassungsgericht hat sich, indem es diesen Weg eingeschlagen, meines Erachtens gegen den Geist der Verfassung versündigt, zu deren Hüter es berufen ist.
Ich zitiere dies nicht, damit Sie diese Äußerung akzeptieren, sondern nur, damit Sie erkennen, um welch schwierige Frage es sich hier handelt, damit Sie erkennen, aus welcher Haltung heraus ich gesagt habe, daß in erschütternder Weise eine Krisis herbeigeführt worden ist. Das ist doch der Fall.
Es würde wohl zu weit führen, auf alle Einzelheiten dieses Beschlusses einzugehen. Es scheint mir viel überzeugender für die Herren Antragsteller zu sein, wenn ich ihnen ihre eigene Meinung entgegenhalte. Als nämlich Während des Schwebens der Klage der Opposition beim Ersten Senat der Gutachtensauftrag des Herrn Bundespräsidenten kam, hat das Bundesverfassungsgericht, und zwar der Erste Senat, angeregt, es solle ein Gutachten des Plenums eingeholt werden und die beiden Parteien sollten sich diesem Gutachten als einer Art Schiedsgericht unterwerfen. Die Regierung hat diese Anregung damals angenommen. Die Vertreter der Opposition haben sich in einer Reihe von
Schriftsätzen mit Nachdruck dagegen gewandt und dabei in überaus zutreffender Weise das Wesen des Gutachtens des Bundesverfassungsgerichts darge1egt. Sie haben auf das hingewiesen, was bei der Beratung des Gesetzes gesagt worden ist. Dort hat der Abgeordnete Dr. Arndt erklärt, ein Gutachten habe höchstens eine moralische Bedeutung, aber niemals die Bedeutung einer Entscheidung. Herr Geheimrat Laforet hat dem leidenschaftlich zugestimmt und hat gesagt, daß durch ein Gutachten keinerlei Bindung des Bundesverfassungsgerichts eintreten könne und solle. Ich erwähne ferner Äußerungen der Minderheit. Bei der Beratung des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht hat man gesagt, es sei immerhin der Fall denkbar, daß die gesetzgebenden Körperschaften oder der Bundespräsident ihre Beratung durch das Bundesverfassungsgericht wünschen usw. Man hat dafür das Gutachten vorgesehen, aber absichtlich nicht als verbindlich, absichtlich nicht als Entscheidung und absichtlich nicht in der Weise, daß ein Organ hier das Bundesverfassungsgericht gegen ein anderes Organ soll anrufen können. Das ist Ihre Meinung. Wenn ich diese Meinung vertrete, Herr Professor Gülich, dann wollen Sie mich mißbilligen! Ich kann Ihnen eine Fülle von Erklärungen vortragen. Es wäre gut, wenn Sie sie nachgelesen hätten.
— Ja, wenn es Sie interessiert, sehr gern! Herr Dr. Arndt hat erklärt:
Wir haben uns mit Fleiß und Mühe bestrebt, das Plenum des Bundesverfassungsgerichts nicht zur Instanz zu machen, weil wir damit die Senate zerstört hätten.
Verstehen Sie, warum ich gesagt habe „eine Krisis in erschütternder Weise"?
Das ist ein Bedenken, das sich durch das ganze Gesetz hindurchzieht und überall deutlich hervortritt. Gerade darum wurde auch die Gutachtenerstattung dem Plenum übertragen, weil keine Entscheidungsfunktion der Gutachten gegeben sein soll. Man hat das Gutachten nicht dem Plenum gegeben, weil das Plenum die höhere Autorität hatte, sondern
— eigene Erklärung des Herrn Dr. Arndt —
weil man nicht in Konflikt kommen wollte mit der rechtsprechenden Aufgabe der einzelnen Senate. Man wollte nicht, daß die Senate, die möglicherweise später als Gericht in Funktion treten mußten, mit der Aufgabe des Gutachtens belastet werden sollten.
Das ist der Zusammenhang. Das darf ich nicht sagen? Ich darf nicht sagen, daß das, was Sie und was wir für richtig halten, durch das Bundesverfassungsgericht außer acht gelassen, weggeschoben worden ist?
Weiter heißt es in einem Schriftsatz der Minderheit:
Ein Ersatzverfahren,
— nämlich Gutachtenverfahren —
das nur die Gefahr heraufbeschwört, der richterlichen Entscheidung vorzugreifen, hat im Gesetz keine Grundlage und muß deshalb als unstatthaft erkannt werden.
Oder eine Stelle in dem Schriftsatz der Bundestagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 12. November 1952, die das, was ich gesagt habe, in viel deutlicherer Weise umschreibt:
Das Plenarkollegium ist außer im Falle des
§ 16 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
— das spielt hier keine Rolle —
kein Bundesverfassungsgericht. Es ist unstreitig, daß die beratenden Empfehlungen aus dem Plenarkollegium keine Entscheidungen sind.
Also das Gutachten ist erstens eine Nichtentscheidung, es ist zweitens eine Nichtentscheidung von einem Nichtgericht. Da wollen Sie mir einen Vorwurf machen, wenn ich prägnant lateinisch ,.nullum" sage, — nach Meinung des Herrn Bundeskanzlers „nihil"; das ist aber das gleiche.
Ich will Sie jedoch nicht zu sehr belasten, ich will Sie nicht mit Material erschlagen.
--- Ach, Herr Heiland, wir haben. uns doch immer geliebt; warum sind Sie denn so häßlich zu mir?
Vielleicht noch ein Satz aus dem Schriftsatz der Bundestagsfraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 7. Oktober 1952:
Hätte dieses Bestreben
— nämlich Entscheidungsfunktion des Gutachtens —
Erfolg und würde zugelassen, daß einer der beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts in seinem Rang gemindert und ein einziges Mal die Legitimation verlieren würde, als das Bundesverfassungsgericht Recht zu sprechen, so ist die Autorität beider Senate für alle Zukunft erschüttert.
Und Sie wollen mir einen Vorwurf daraus machen,
daß ich erschüttert bin, wenn die Autorität der
Senate erschüttert ist, wie Sie selber gesagt haben?
Allerdings, meine Damen und Herren — ich habe Ihnen das vorhin schon gesagt —, bin ich als Vorsitzender der bayerischen Landespartei in Bad Ems gewesen.
Es gibt kaum einen höheren Rang, meine ich, als Vorsitzender einer bayerischen Landespartei zu sein.
Ich habe dort auch — —
— Nein, nein! Wenn einer eine geschichtliche Funktion hat, dann ich! — Nun gut, ich habe mich dort
so geäußert. Ich habe, meine Damen und Herren,
— Ich will jetzt doch — —
Ich glaube, Herr Gülich hat den Satz nicht mit vorgelesen. Ich habe zunächst gesagt:
Ich sage es aus bitterster Sorge, meine Damen und Herren. Ich sage es Ihnen wohlüberlegt, ein Wort aus der Qual der Verpflichtung heraus, die ich habe.
Und dann habe ich gesagt:
Ich hoffe, daß das Bundesverfassungsgericht,
daß das höchste deutsche Gericht keine politischen Willensentscheidungen, sondern Rechtsentscheidungen fällt.
Ich bin der Meinung: nach dem, was vorausgegangen war,
nach dem, was von verantwortlichen Richtern des Bundesverfassungsgerichts gesagt worden war, die wichtigsten Entscheidungen seien politische Entscheidungen in juristischem Gewande, und noch vieles andere, war dieses Wort eine berechtigte Mahnung. Dieses Wort hat keine zersetzende Wirkung, hat nichts Herabsetzendes gehabt, sondern es war ernst, ganz ernst gesprochen, in voller Verantwortung und wahrlich nicht unbedacht. Aber wenn ich mahne: Verkennt die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts nicht, seid ein echtes Gericht, seht eure Aufgabe nicht darin, politische Willensentscheidungen zu fällen, sondern trefft Rechtsentscheidungen!,
dann bin ich der Meinung, daß ich das Recht dazu habe, und wenn Sie mich deswegen mißbilligen, dann mißbilligen Sie sich selber, meine Damen und Herren.
Dann der Telegrammwechsel. Wir wollen nicht vergessen, daß am 10. Dezember auch ein Telegramm an mich und Herrn Staatssekretär Dr. Strauß gekommen ist. Herr Professor Gülich hat es vorgelesen. Es lautet:
Durch letzte Vorgänge tief bestürzt. Bitten dringend: verhindert weitere für Ansehen von Justiz und Staat unerträgliche Schritte gegenüber höchstem deutschem Gericht.
Gott, daß dieser Telegrammwechsel die Öffentlichkeit beschäftigen könnte, stand mir nicht vor Augen. Einige Anwälte telegraphierten mir. Ich hätte auch schreiben können. Ich habe — Temperament ist mir zu eigen — aus dem Temperament heraus geantwortet. Halten Sie, meine Damen und Herren, es für diskret, daß dieser Telegrammwechsel in einer wenig schönen Weise und an einem dafür kaum geeigneten Orte der Öffentlichkeit übergeben wurde? Ich habe nicht damit gerechnet.
Erwägen Sie einmal den Wortlaut dieses Telegramms und ermessen Sie, welche scharfen Angriffe seitens der Mannheimer und Heidelberger Anwälte es enthält: „Tief bestürzt durch letzte Vorgänge". Was waren die Vorgänge? Die Bundesregierung hatte am Tage vorher ihre Vertreter aus dem sogenannten Gutachtenverfahren nach der Verkündung des Beschlusses vom 8. Dezember zurückgezogen. Der weitere Vorgang war, daß sich der Herr Bundespräsident für verpflichtet, für veranlaßt gehalten hat, seinen Gutachtensauftrag zurückzunehmen.
Und hier wagt man es, — —
Und hier wagt man es, zu erklären, daß diese Schritte unerträglich seien und Anlaß zu tiefer Bestürzung gäben.
Das war das Telegramm.
Ich habe geantwortet, nicht der Herr Kollege Strauß. Ich habe nur, weil das Telegramm auch an ihn gerichtet war, ihm das Telegramm, nachdem ich es ausgefertigt hatte, zur Kenntnisnahme zugeleitet.
— Zur Kenntnisnahme zugeleitet!
Ich habe gesagt, daß das Bundesverfassungsgericht in einer erschütternden Weise von dem Weg des Rechts abgewichen ist und eine ernste Krise geschaffen hat. Noch einmal, meine Damen und Herren: wenn Sie ermessen und erwägen, was ich Ihnen gesagt habe, als ich meinen Standpunkt zu den Ereignissen vertrat, dann können Sie nicht zu dem Ergebnis kommen, ich hätte mit diesem Telegramm dem Bundesverfassungsgericht den Vorwurf des Rechtsbruchs oder der Rechtsbeugung machen wollen. Es ist doch eine objektive Feststellung, daß der Beschluß vom 8. Dezember mit dem Grundgesetz und mit dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz nicht vereinbar ist
und daß hier ein Weg eingeschlagen ist, der von dem Weg des Rechts abführt. Daß die Formulierung überwältigend glücklich ist, will ich nicht behaupten.
Aber ich erkläre mit allem Nachdruck — und darauf kommt es Ihnen wohl auch an —, daß ich nicht daran gedacht habe, dem Bundesverfassungsgericht den Vorwurf zu machen, es habe bewußt, es habe absichtlich das Recht gebeugt oder gebrochen. Dazu bestand auch kein Anlaß. Viele von uns wissen ja, aus welcher sonderbaren Lage des Bundesverfassungsgerichts der Beschluß vom 8. Dezember entstanden ist: aus einer gewissen Ausweglosigkeit, durch das Lavieren vom einen zum anderen Senat, durch die Schwierigkeiten, die in dem sogenannten Gutachtenverfahren eingetreten waren, und vieles andere. Noch einmal: ich habe die -sen Vorwurf nicht erhoben und will ihn nicht erheben, und man kann ihn aus dem Wortlaut des Telegramms auch nicht feststellen.
Ich will heute gleich das vorwegnehmen, was man dem Herrn Bundeskanzler vorwirft: er habe nicht gerügt, daß der Herr Bundespräsident bei einer Aussprache zwischen ihm, dem Herrn Bundeskanzler und einem Teil des Bundeskabinetts,
bei der ich als letzter anwesend war, an seinen Eid erinnert worden sei, um zu erreichen, daß er seinen Gutachtensauftrag zurückziehe. Diese Darstellung ist nicht richtig, wenn auch in dem Protokoll über die Pressekonferenz vom 10. Dezember Stellen enthalten sind, die darauf hindeuten.
Ich will auch nicht den Wortlaut dementieren. Es geht eben auch viel Konfuses in die Welt,
was man berichtigen muß. Es gibt ja Gott sei Dank dieses Schicksal nicht nur bei mir, sondern auch bei anderen.
Ich habe mich besonders gefreut, als sich der Herr
Freitag kürzlich dagegen verwahren mußte, daß
man ihm vorwarf, er habe erklärt: „Wir, die Gewerkschaften, sind der Staat." Ich weiß genau, daß
er das nicht gesagt hat, sondern er hat, als er in
München vom Staat sprach — Wönner ist wohl
Zeuge — und ihm entgegengerufen wurde „Wer ist
schon dieser Staat?", in — das müssen wir doch anerkennen — sehr verantwortungsbewußter, demokratischer Weise erklärt: „Der Staat sind wir; wir
alle müssen den Staat tragen." Er mußte sich dann
zur Wehr setzen, weil man ihm unterstellte, er
habe den Staat für sich, für die Gewerkschaften,
in Anspruch genommen. Sie sehen, nicht nur ich
habe Künstlerpech, sondern auch manche andere.
Ich muß Ihnen den Vorgang bei der Besprechung am 9. Dezember bei dem Herrn Bundespräsidenten darstellen, um einen solchen Irrtum auszuräumen. Das Gespräch fand so statt, daß der Herr Bundeskanzler die Meinung des Kabinetts vortrug; ich hatte mit dem Herrn Bundeskanzler ausdrücklich vereinbart — Gründe spielen hier keine Rolle —, daß ich mich der Äußerung enthalte.
Ich war an der Unterredung zunächst nicht beteiligt. Der Herr Bundespräsident hat seine Entscheidung kundgetan — aus Gründen, die auch besonders bei ihm lagen, die_ übereinstimmten mit der Haltung des Kabinetts —, seinen Gutachtensauftrag zurückzuziehen. Erst als er das erklärt hatte, habe ich die Meinung vertreten, daß diese Haltung rechtsstaatlich richtig sei und daß sie auch den Kompetenzen und Pflichten des Herrn Bundespräsidenten, wie sie in seinem Eid niedergelegt seien, entsprachen.
Es ist nämlich so, daß die Rechte des Bundespräsidenten im Grundgesetz sehr dürftig erwähnt worden sind. Nur im Eid, an dessen Formulierung ich mich beteiligt habe, ist festgelegt, daß der Herr Bundespräsident vor allem verpflichtet ist, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und zu verteidigen. Mein Kollege Strauß hat schon im Jahre 1949 die Rechtsauffassung, die ich bei diesem Gespräch vertreten habe, gehabt, daß nämlich der Herr Bundespräsident wirklich ein ruhender Pol in der Verfassung ist, so, wie schon Hugo Preuß 1919 den Reichspräsidenten gesehen hat, und daß er der institutionelle Hüter der Verfassung ist. Diese Rechtsauffassung habe ich lediglich zur Deckung der Entscheidung dies Herrn Bundespräsidenten wiedergegeben.
Also, meine Damen und Herren, ich habe keinen Grund, meine Entscheidungen sachlich zu korrigieren.
Es ist nicht wahr, was mir Herr Professor Gülich unterstellt hat, daß es mir darum gegangen sei, das Bundesverfassungsgericht, dessen Schutz mir besonders anliegt, herabzusetzen. Wer nicht erkennt, daß es hier um eine echte Auseinandersetzung geht, daß es darum geht, wirklich den rechten Weg zu finden, und daß wir alle die Verpflichtung haben, dem Bundesverfassungsgericht dabei zu helfen, der versteht nicht, was mich bestimmt hat, was mich bewegt hat.
— Ach, der rechte Weg ist ,der Weg des Rechtes, und was ich daran getan habe, daraus kann mir niemand einen Vorwurf machen.
Meine Damen und Herren, wir wissen doch alle, wie bedeutsam diese Dinge geworden sind. Ich möchte hoffen, daß wir nicht genötigt sind, das, was ein anderer Präsident vor fast hundert Jahren gesagt hat, eines Tages auch wehklagend zu äußern. Es war Lincoln,
der amerikanische Präsident. Der hat damals gegenüber einer Entscheidung des Supreme Court erklärt — und das gilt, glaube ich, auch für die augenblickliche Lage —: Wenn die Politik der Regierung — man kann sagen: wenn die Politik des Parlaments — über Lebensfragen des ganzen Volkes unwiderruflich durch Entscheidungen des obersten Gerichts festgelegt wird, so hat das Volk aufgehört, sein eigener Herr zu sein.