Meine Damen und Herren! Ich habe zunächst Anlaß, noch um Ihre Nachsicht zu bitten, daß ich Ihnen am vergangenen Donnerstag nicht zur Verfügung stand. Nach dem Gang der Verhandlungen der Plenarsitzung war anzunehmen, daß die Mißbilligungsanträge der SPD nicht mehr zur Verhandlung kommen würden.
Nur deswegen war ich nach 7 Uhr nicht mehr im Saal.
Herr Professor Gülich hat den Mißbilligungsantrag weit über den Anlaß hinaus begründet. Er hat es für richtig gehalten, mich sehr pauschaliter politisch abzuwerten, zu erklären, meine an sich nicht zu beanstandende politische Laufbahn sei plötzlich kupiert worden, als ich das Amt des Justizministers des Bundes übernommen hätte; gewissermaßen sei mir dieses Amt vielleicht zu Kopf gestiegen, ich sei auf jeden Fall nicht tauglich für dieses Amt. Er hat mich hingestellt als einen Mann, der fortgesetzt unbedachte Äußerungen gebraucht, die er hinterher dementiert, als einen Mann, der Gewicht darauf legt, daß seine Äußerungen möglichst rasch verbreitet werden, der also nach publicity giert.
Es ist ja schwer, wenn man sich selbst verteidigen muß. Er hat vor allem — —
— Bitte, für mich zeugt meine Haltung nicht nur bis zum 12. September 1949, sondern bis zum heutigen Tage.
Gott sei Dank! Ich glaube einen klaren Weg gegangen zu sein. Ich überschätze mich nicht. Ich überschätze auch nicht meine politischen Möglichkeiten. Aber das nehme ich für mich in Anspruch: daß ich in ehrlicher, anständiger, gerader Weise meine Sache vertreten habe.
Ich habe viele heiße Eisen angerührt. Andere scheuen sich, das zu tun.
Das, was ich gesagt habe, hat in der Presse nicht immer die richtige Resonanz gefunden. Herr. Professor Gülich, wenn Sie meinen, das, was irgendein Reporter — was weiß ich, in Uslar oder Göttingen oder sonstwo — aus einer 1 1/2 stündigen Rede herausnimmt und in die Welt schickt, sei der Niederschlag meiner politischen Überzeugung, und man könne mich nach einer solchen beinahe zwangsläufig eben verkürzten, oft entstellten Äußerung beurteilen, dann haben Sie, Herr Professor Gülich, von dem Glück und dem Unglück eines Redners keine Ahnung.
Ich bin gern bereit, mich über alles auseinanderzusetzen. Aber zunächst einmal zu dem Vorwurf, dieser Bundesjustizminister sei ein Minister ganz besonderer Art, der Bundesjustizminister sei ungefähr das Symbol der Gerechtigkeit des Staates und ihm zieme es nicht, sich politisch zu äußern. Diese
Anschauung findet glaube ich, weder im Grundgesetz noch in der Praxis des Parlaments von eh und je irgendeine Grundlage.
Wenn die Verfassungspläne des Herrn Dr. Eschenburg verwirklicht würden, daß der Bundesjustizminister aus der parlamentarischen Verantwortung herausgenommen und gar nicht vom Parlament gewählt wird, sondern von irgendeinem objektiven Richtergremium nominiert wird, dann können Sie, Herr Professor Gülich, erwarten, daß ' ein Bundesjustizminister über den Wolken, zumindest über den Niederungen des politischen Kampfes steht. Ich bin Vorsitzender einer Landespartei. Ich_ will nicht das große Wort gebrauchen, ich sei ein Politiker. Wer ist das? Vielleicht ein Mann in diesem Saale: der Bundeskanzler, sonst keiner.
Aber ich bin ein Mann, der sich politisch bemüht, und ich nehme für mich selbstverständlich das Recht in Anspruch, zu den politischen Dingen Stellung zu nehmen. Ich werde ja von dem Vertrauen meiner Freunde getragen. Ich weiß nicht, Herr Professor Gülich, ob Sie seit 1946 in jedem Jahr wieder fast einstimmig von Ihren Freunden zum Vorsitzenden eines Landesverbandes gewählt worden sind,
nicht etwa von Leuten, die parteihörig sind, sondern von Leuten mit sehr kritischer Haltung.
Der Satz, daß einem Bundesjustizminister das Recht genommen sei, sich politisch zu äußern, ist also nicht richtig, und ich sage mit aller Deutlichkeit: Bevor ich Bundesjustizminister bin, bin ich ein Mann, der sich politisch bemüht und der sich das Recht, das, was er für richtig hält, zu sagen, keinen Augenblick nehmen oder auch nur verkürzen läßt.
Ich habe mich dessen, was ich als Bundesjustizminister gemacht habe, nicht zu schämen, das nehme ich für mich in Anspruch.
Ich habe aus dem Nichts heraus ein Amt aufgebaut, das sich sehen lassen kann,
ein Amt, das die Forderungen, die Sie, Herr Professor Gülich, erheben, erfüllt und das wirklich über den Parteien und über jeder Politik steht,
ein Amt, das aus hochwertigen Künstlern und 'Kunsthandwerkern des Rechts besteht. So sind die Dinge.
Meine Damen und Herren, ich will auch nicht die Gesetzgebungsarbeit meines Ministeriums unter den Scheffel stellen, an der ich wesentlich teilgenommen habe.
— Ja, ja, Herr Mellies, warum hat Ihr Fraktionsredner es für richtig gehalten, den Mißbilligungsantrag auf Grund meiner Äußerungen über das
Bundesverfassungsgericht zum Anlaß zu nehmen, den Versuch zu machen, mich hier als Mensch, als Bundesjustizminister und auch als Politiker zu diffamieren? Wie kommt er dazu? Woher nimmt er das Recht dazu?
Aber zur Sache. Es wird mir um Vorwurf gemacht, ich hätte mich zu einem vor dem Bundesverfassungsgericht schwebenden Verfahren geäußert. Ich hätte schuld daran, daß Zweifel an der Rechtlichkeit und Unparteilichkeit des Bundesverfassungsgerichts erregt worden seien. Es wird mir vorgeworfen, daß ich den Plenarbeschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 8. November — verkündet am 9. November 1952 — als „Nullum" bezeichnet hätte.
Es wird mir vorgeworfen, ich hätte das Bundesverfassungsgericht des Rechtsbruchs verdächtigt.
Es wird dann auch behauptet, ich hätte — ich will das vorwegnehmen — den Herrn Bundespräsidenten an seinen Eid erinnert, als am 9. Dezember darüber gesprochen wurde, ob er seinen Gutachtensauftrag an das Bundesverfassungsgericht weiterlaufen lassen oder ob er ihn zurücknehmen solle.
— Das ist ja Gegenstand des morgigen Antrags gegen den Herrn Bundeskanzler, der noch besonders behandelt wird und der sich mittelbar auch gegen mich richtet. Es ist wohl zweckmäßig, die Dinge im Zusammenhang damit zu behandeln.
Herr Professor Gülich sagte eingangs seiner Ausführungen, es gehe nicht um die Richtigkeit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
— so habe ich ihn verstanden —, es gehe auch nicht etwa um die Struktur oder um die Situation des Bundesverfassungsgerichtes, sondern es gehe nur um meine Äußerungen. Ja, meine Äußerungen beziehen sich auf bestimmte Vorgänge des Bundesverfassungsgerichts. Meine Qualifizierung des Beschlusses vom 8. Dezember vorigen Jahres als Nullum ist eine rechtliche Wertung.
Wenn Sie mich deswegen mißbilligen wollen, dann muß ich Ihnen meinen Standpunkt zu diesem Beschluß sagen. Darum kommen wir nicht herum. Es ist nur die Frage, ob es zweckmäßig ist, diese Dinge hier im Plenum zu erörtern.
Aber am Ende muß das Hohe Haus ja wissen, worum es geht. Vielleicht hat der Mißbilligungsantrag der SPD irgendwie ein Gutes.
Er verweist
auf einen Zustand, der immerhin mit Krise bezeichnet werden kann.
Herr Professor Gülich, Sie fragen, ob gerade der Bundesjustizminister der Mann ist, der dann, wenn er glaubt, daß die Entwicklung des Bundesverfassungsgerichts nicht glücklich ist, nicht richtig verläuft, die Stimme warnend erhebt. Ich frage, wer soll es denn tun?
Wer im Staate hat noch die Möglichkeit, wenn er Sorge hat, die Dinge könnten nicht gut gehen, wer hat noch die Qualität,
zu warnen?
— Ich spreche doch nicht von mir, ich spreche von dem Amt,
das ich bekleide. Wer sonst, als der Bundesminister der Justiz hat Recht und Pflicht, das, was nötig ist, zu sagen?
Da kommen — —
— Na, mit dem Herrn Bundeskanzler verbindet mich eine gute Beziehung, das darf ich sagen.
Er hat manchmal väterliche Sorgen um mich.
— Na gut! Am Ende ist er sehr wohlwollend, möchte ich feststellen.
Erwarten Sie also nicht zu viel. Ich habe gesagt vielleicht ist diese Aussprache nicht ohne Berechtigung.
Denn das empfindet ja jeder in Deutschland, das hat seinen Niederschlag bis in die letzte deutsche Zeitung und bis in die Zeitungen des Auslandes gefunden,
daß unsere Verfassungsgerichtsbarkeit — sagen wir —
sich noch nicht zur Klarheit durchgerungen hat,
daß unsere Bundesverfassungsgerichtsbarkeit mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Wenn darüber einer am Ende sprechen kann, dann bin ich es;
denn keiner hat sich so leidenschaftlich für diese Form der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und der Verfassungsgerichtsbarkeit überhaupt eingesetzt wie ich, und zwar schon in Bayern. Auf mich geht zurück, daß in der bayerischen Verfassung
der Verfassungsgerichtshof auch mit einer sehr weitreichenden Zuständigkeit versehen worden ist. So wie das Bundesverfassungsgericht jetzt in seinen Zuständigkeiten ausgestattet ist, geht es zurück auf die Arbeit im Redaktionsausschuß des Parlamentarischen Rats. Ihres Parteifreundes Zinn, des jetzigen hessischen Ministerpräsidenten, des Herrn Dr. von Brentano und von mir selbst. Daß die Dinge schwierig, vielleicht sogar in der Krise sind, kann ich gerade mit einer Äußerung meines Freundes Zinn, darf ich vielleicht immer noch sagen,
belegen. Er hat kürzlich gesagt, der Rechtsstaat kann seine eigentliche Funktion nur erfüllen, wenn der Gerichtsbarkeit in Fragen, die in das politische Grenzland hinübergreifen, eine weise Beschränkung gesetzt wird.
Er begrüße es daher, daß man dieses Problem erkannt habe und der Lehre von den justizfreien Hoheitsakten größere Beachtung schenke. Diese Äußerungen sind eine Kritik an unserem Grundgesetz, an der darin getroffenen Regelung der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und vielleicht, so möchte ich meinen, auch eine Kritik an der Praxis des Bundesverfassungsgerichts. Es wirft sich eben die Frage auf, ob wir im Parlamentarischen Rat nicht einen Fehler gemacht, ob wir nicht die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts zu weit gesteckt, ob wir uns nicht übernommen, ob wir nicht die justizstaatlichen Elemente im Verfassungsgefüge übersteigert haben.
Uns stand damals schon vor Augen, was der große deutsche Staatsrechtler Triepel jetzt gerade vor 25 Jahren gesagt hat: daß das Wesen der Verfassung bis zu einem gewissen Grade mit dem Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Widerspruch steht; denn er hat gesagt: in der Welt des Politischen geht das Streben auf Durchsetzung mit Macht und Kampf, nicht aber auf Lösung durch Richterspruch. Wir haben diese Warnung damals beiseite geschoben. Vielleicht haben wir jetzt schon einen Punkt erreicht — es ist auch ein bekanntes warnendes Wort —, an dem die Politik durch die Verfassungsgerichtsbarkeit alles zu verlieren droht, während die Justiz dabei nichts zu gewinnen hat.
Meine Damen und Herren, das Bundesverfassungsgericht stand bei dem Beginn seiner Arbeit ja vor ganz gewaltigen Aufgaben. Ein Gericht bildet sich nicht nur dadurch, daß man 24 Damen und Herren die Ernennungsurkunde als Bundesverfassungsrichter übergibt. Ein Gericht setzt ja so viel voraus.
— Das ist das Thema. Sie können ja das, was ich gesagt habe, nur verstehen, wenn Sie wissen, auf welcher Grundlage ich mich geäußert habe.
Meine Damen und Herren, Sie kennen die Schwierigkeiten in der Struktur unseres Bundesverfassungsgerichts, die politische Auswahl, oder richtig gesagt: die Auswahl der Richter durch den Bundestag und Bundesrat. Ich habe das Recht, darauf hinzuweisen; denn ich habe damals im Parlamentarischen Rat davor gewarnt, das zu tun. Sie kennen die Schwierigkeit, die sich aus der Struktur des Gerichts ergibt. Sie wissen, daß entgegen meinem Vorschlag ein Zwillingsgericht gebildet wurde, ein Gericht, das aus zwei Senaten besteht. Sie wissen hoffentlich von den Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, daß die Zuständigkeiten auf diese beiden Senate aufgeteilt werden mußten, auch die Schwierigkeiten, die sich aus der Art, wie die Senate besetzt worden sind, ergeben. Sie wissen ja von dem törichten Gerede, das fast überall herumgeht. Sie kennen das Gerede von dem roten und von dem schwarzen Senat.
— Wer hat sich in dieser Frage vor das Bundesverfassungsgericht gestellt, wenn nicht ich! Ja, bitte, Herr Mellies, wenn Sie wissen wollen, wie dieses Gerede in die Welt kam, will ich es Ihnen sagen.
Ich habe erst gestern einen Journalisten gesprochen, der es mir berichtet hat. Damals, als der erste Streit über das Neugliederungsgesetz durchgeführt wurde, da habe er, sagte er mir, einen Ihrer Partei, Herr Mellies, angehörenden Richter gesprochen, und der habe ihm gesagt, er komme gerade aus einer Fraktionssitzung.
So ist dieses Gerede entstanden und von außen hineingetragen worden.
— Ich will mich nicht gegen die Vorwürfe eines Marines verwahren, der mich nicht kränken kann.
Ich sage es noch einmal: Wer hat sich vor das Gericht gestellt und hat vor einer solchen Qualifizierung der einzelnen Senate gewarnt?! Ich habe es getan entsprechend meiner Pflicht!
Was steht denn im Augenblick als Konfliktstoff über diesem Gericht? In Wirklichkeit zwei Meinungen, um deren Klärung .es geht — zwei Meinungen über das Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Es ist die eine — nach meiner Meinung sehr gefährliche — Auffassung, daß das Bundesverfassungsgericht seinem Wesen nach eine politische Funktion besitze, daß es gewissermaßen der Schiedsrichter im Streit sei, daß es der oberste verfassungsmäßige Träger des Staatsgewalt sei. Es ist die Meinung, das Bundesverfassungsgericht stehe über der Verfassung, mit der Folge, daß am Ende die politische Willensentscheidung der Mehrheit der Richter die wirkliche Verfassung gestalten würde, unter der wir zu leben hätten. Diese Meinung bedeutet, daß das Bundesverfassungsgericht eine Überregierung und ein Überparlament
sei.
Dagegen steht die richtige Meinung, daß das Bundesverfassungsgericht ein Gericht ist, ein echtes Gericht und nur ein Gericht, daß seine Entscheidungen ausschließlich Rechtsentscheidungen sind, daß es nicht Herr der Verfassung, sondern Hüter der Verfassung ist
und daß es das Recht und nur das Recht anzuwenden hat.
Meine Damen., und Herren! Wenn ich über diesen Konflikt spreche, dann nicht ohne konkreten Anhaltspunkt. Maßgebende Richter des Bundesverfassungsgerichts haben sich, zum Teil bei der Beratung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes und auch in der Folgezeit, in einer Art geäußert, die zu Zweifeln über die richtige Erkenntnis von dem Wesen des Bundesverfassungsgerichts Anlaß gab. Wenn ein Richter erklärt hat, es handle sich bei den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gerade in den wichtigen Fällen um politische Entscheidungen in juristischem Gewande, so ist das der Niederschlag dieses verhängnisvollen Irrtums. Nicht anders ist es, wenn andere Richter gesagt haben:
Die Verfassungsgerichte haben eine aktive politische Funktion; sie haben geradezu die Aufgabe, den pouvoir constituant auszuüben, wobei schließlich nicht einmal der Inhalt des ursprünglichen Verfassungsrechts selbst unberührt bleiben würde.
Oder wenn gesagt wird, die Verfassungsgerichte seien eher mit Unabhängigkeit ausgestattete Regierungsorgane besonderer Art als normengebundene, den anderen Gerichten vergleichbare Gerichte. Oder wenn ein anderer wieder sagt, das Bundesverfassungsgericht müsse sich bei seinen Entscheidungen der politischen Folgen seiner Entscheidungen bewußt bleiben, und sei es auch nur, um seine Rechtsentscheidungen um so sorgfältiger abzuwägen, und dürfe auch der Frage nicht ausweichen, ob nicht durch seine Entscheidungen ein gesetzlicher Zustand herbeigeführt werden könne, der eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung des Staates bedeute.
Meine Damen und Herren! Hier ist das gesagt, was ich nicht will. Hier ist das gesagt, vor dem ich gewarnt habe, wenn ich sagte: Ich möchte hoffen, daß die Richter des höchsten deutschen Gerichts keine politischen Willensentscheidungen, sondern Rechtsentscheidungen treffen! Und hier ist die Grundlage dafür, warum diese Mahnung berechtigt ist.
Ich sage mit allem Nachdruck: Niemand — weder ich noch irgend jemand in der Bundesregierung
— hat jemals daran gedacht, dem Bundesverfassungsgericht Rechtsbruch oder Rechtsbeugung vorzuwerfen.
— Ich werde auf die Äußerungen eingehen. — Ich wiederhole mit allem Nachdruck: Niemand von uns denkt daran! Ich bin der Überzeugung, daß eine Anzahl von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts anfechtbar ist. Aber es sind Richtersprüche, die den Anspruch erheben können, rechtlich begründet zu sein. Das ist ja eigentlich gar nicht das Problem; worauf es ankommt und worauf es besonders mir ankommt, ist, daß die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Gefahr begründet, daß dieses Gericht die Grenzen seiner Kompetenzen nicht
richtig zieht. D a s ist das Problem. Ich weiß nicht, Herr Professor Gülich, ob Sie sich die Mühe gemacht haben, unter diesem Gesichtspunkt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu überprüfen, ob Sie überhaupt nur verstanden haben, was ich sagen wollte.
Wenn Sie das verstanden hätten, dann hätten Sie sich gehütet, die Vorwürfe zu erheben, wie Sie es für richtig gehalten haben.
— Das ist das Letzte, was Sie mir vorwerfen können: daß ich überheblich sei.
Daß ich es als eine Pflicht meines Amtes empfinde, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sorgfältig zu überwachen, d. h. zu beobachten und die Folgerungen daraus zu ziehen,
das werden Sie mir nicht verdenken können.
Meine Herren, wir wollen die Aussprache konkret führen, nicht mit allgemeinen Redensarten, wie Herr Professor Gülich beliebte; ganz konkret.
Ich werde Ihnen darlegen, aus welchen Tatsachen meine Sorge gewachsen ist, daß das Bundesverfassungsgericht sich nicht auf dem richtigen Wege befindet.
Greifen Wir einmal zurück auf einige Urteile.
Im Südweststaat -Urteil — Sie haben es vielleicht noch vor Augen — ist der Satz aufgestellt worden, daß der objektive Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz zur Feststellung der Nichtigkeit eines Gesetzes nicht genüge, sondern daß der Nachweis dazukommen müsse, daß die Beteiligten sich der Verletzung des Gleichheitssatzes bewußt waren. Meine Damen und Herren, ein Satz, der im Widerspruch zur Rechtsprechung und zur Rechtslehre steht! Überall ist anerkannt, daß jeder objektive Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz zur Nichtigkeit eines Gesetzes führt.
Ein anderes Urteil, das über die Geschäftsordnung Ihres Hohen Hauses, gibt zu einer Fülle von Beanstandungen Anlaß. Es hält vor allem den Gleichheitsgrundsatz — damals handelte es sich um die Frage der Deckungsvorschläge — für verletzt, weil die Geschäftsordnung des Bundestages lediglich von den Mitgliedern des Bundestages, nicht aber von sonstigen Initianten, Bundesrat und Bundesregierung, den Deckungsvorschlag verlange. Es hat dabei vollkommen übersehen, daß sich die Geschäftsordnung des Bundestages nur auf die eigenen Angelegenheiten des Bundestages beziehen kann. Ich habe damals über dieses Urteil, das wirklich nach meiner Meinung schwere Fehler enthält, dem Herrn Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts in einem Brief vom . April vorigen Jahres meine Meinung geschrieben und habe am Schluß dieses
Briefes an den Herrn Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Dr. Höpker-Aschoff, bemerkt: ,,Ich schreibe Ihnen meine Meinung, weil mir der Geist, der aus dem Urteil vom 6. März spricht, Sorge macht." Ich will die Antwort des Herrn Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts nicht im Wortlaut wiedergeben; der Brief beginnt mit den Worten: „Sie urteilen sehr milde über das Urteil."
Meine Damen und Herren, das habe ich auch getan aus der Sorge um den rechten Weg des Bundesverfassungsgerichts, wirklich nicht — wie mir Herr Professor Gülich unterstellt — aus dem Willen, diesem Gericht Schaden zuzufügen. Welche Verkennung meiner Absichten und meiner Aufgaben!
Ein anderes Urteil. Im Urteil bezüglich des schleswig-holsteinischen Wahlgesetzes ist die Partei des Südschleswigschen Wählerverbandes als Antragstellerin zugelassen worden, obwohl politische Parteien weder nach dem Grundgesetz noch nach dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz ein Antragsrecht besitzen, dieses vielmehr nur Verfassungsorganen und Teilen von solchen, also nur Trägern von Staatshoheit, von Hoheitsmacht zukommt. Ich berichte Ihnen diese Urteile, weil sich aus ihnen die Tendenz ergibt, die Sie, meine Herren, als Gesetzgeber keinesfalls billigen können, daß das Bundesverfassungsgericht die Aufgabe des Gesetzgebers in Anspruch nimmt.
Eine sehr interessante Entscheidung: Normenkontrolle. Das Bundesverfassungsgericht hat sich auf den Standpunkt gestellt, daß sich hinsichtlich der Normenkontrolle auf Vorlage durch die Gerichte die Überprüfung nur auf formelle Gesetze erstrecke, nicht dagegen auf Verordnungen. Im Gegensatz dazu hat es bei der Normenkontrolle auf Antrag von Verfassungsorganen die Überprüfungspflicht und das Überprüfungsrecht nicht nur auf formelle Gesetze, sondern auch auf Verordnungen erstreckt. Die Normenkontrolle ist doch ein einheitliches Rechtsinstitut. Ich finde nicht den Grund für diese Unterscheidung.
In der ersten Wehrbeitragssache wird von dem richtigen Grundsatz ausgegangen, daß es keine vorbeugende Normenkontrolle gibt. Aber unter Bruch der Gedankenführung wird dann eine Ausnahme für die sogenannten Vertragsgesetze zugelassen, und das wird mit reinen Zweckmäßigkeitserwägungen begründet. Es ist kein Grund für die Zulassung dieser Ausnahme erfindlich, weil die Antragsteller ihre Sache in dem gesetzlich gegebenen Verfahren des Organstreits nach § 13 Ziffer 5 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes verfolgen können.
Das Urteil, das 'am meisten zu Bedenken Anlaß gibt, auch wegen der gefährlichen Tendenz der Ausweitung der Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts, ist das Urteil gegen die Sozialistische Reichspartei, nach meiner Meinung belastet mit einer Fülle von Mängeln. Zunächst ist eine einstweilige Verfügung — Sie wissen es vielleicht noch — ergangen.
— Sie wollen meine Kritik zum Gegenstand einer Mißbilligung machen und wollen die Gründe meiner
Haltung nicht erkennen, wollen nicht zulassen, daß ich Ihnen sage, daß ich aus ernstester Sorge um unsere Verfassungsgerichtsbarkeit die Stimme erhoben habe. So sind doch die Dinge.
— Ach, Herr Mellies, ich glaube, Sie sollten besser schweigen. Wenn ich Sie so ansehe, Herr Mellies, wissen Sie, was ich da tun möchte? Da möchte ich auf den Knien nach Hannover rutschen und einen Kurt Schumacher wieder ausgraben.
Na, politischer Irrtum und Leidenschaftlichkeit sind zu ertragen. Politischer Irrtum und Mittelmaß, die gehen einem auf die Nerven.