Meine Damen und Herren, wir kommen zur Beratung des Gesetzentwurfs. Berichterstatterin ist Frau Abgeordnete Dr. Brökelschen. Ich darf sie bitten, das Wort zu nehmen.
Frau Dr. Brökelschen , Berichterstatterin: Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Der Entwurf eines Gesetzes zur Unterbringung von Deutschen aus der sowjetischen Besatzungszone oder dem sowjetisch besetzten Sektor von Berlin (Flüchtlings-Notleistunigsgesetz), Nr. 4095 der Drucksachen, wurde dem Ausschuß für gesamtdeutsche Fragen federführend und -dem Ausschuß für Angelegenheiten der inneren Verwaltung in der 251. Sitzung des Deutschen Bundestages am 26. Februar überwiesen. Der Bundesrat hatte auf eine Vorberatung des Gesetzes durch seine Ausschüsse verzichtet und in seiner Plenarsitzung vom 20. Februar den Entwurf gebilligt und fünf Ausschüsse
beauftragt, nach der Plenarsitzung die Vorlage zu beraten. Er hatte weiter den Innenausschuß beauftragt, die Beschlüsse der einzelnen Ausschüsse zu koordinieren und bei den Beratungen der Bundestagsausschüsse von seinem Vertreter vortragen zu lassen. Das ist geschehen.
Es mag vorweg bemerkt werden, daß entscheidende Bedenken gegen den Gesetzentwurf im ganzen oder gegen einzelne Paragraphen von keiner Seite erhoben worden sind. So konnte ihn der Ausschuß für gesamtdeutsche Fragen unter Verzicht auf eine Grundsatzdebatte in einer einzigen Sitzung zu Ende beraten. Geringfügige materielle oder redaktionelle Änderungen, cue der Ausschuß für Angelegenheiten der inneren Verwaltung wünschte, wurden hineingearbeitet und den Wünschen des Bundesrats zu einigen Punkten wurde entsprochen.
Das Gesetz ist der Niederschlag einer außergewöhnlichen Situation. Es zerstört die Illusion, daß das Schwerste nach Krieg und Zusammenbruch überstanden sei, und soll die Handhabe schaffen, den immer noch ansteigenden Strom von Flüchtlingen im Bundesgebiet vorübergehend, d. h. bis zu dem Augenblick unterzubringen, in dem wohnraumahnliche Unterkünfte im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus in ausreichendem Maße erstellt sind.
Der Gesetzentwurf geht auf einen einhelligen Wunsch der Ministerpräsidenten der Länder zurück, die bereit sind, der immer schwieriger werdenden Lage Berlins mit einschneidenden Maßnahmen Rechnung zu tragen, aber fürchten, daß sich die notwendigen provisorischen Unterkünfte nicht allein auf dem Wege freier Vereinbarungen beschaffen lassen. So haben sie die Bundesregierung gebeten, sofort ein Gesetz vorzulegen, das die Handgabe gibt, auch zwangsweise Räume vorübergehend in Anspruch zu nehmen.
Angesichts der Belastung Berlins ist es wesentlich, daß das Gesetz sofort in Kraft treten kann, da gerade die jüngsten Entwicklungen in Berlin ohne die Erhöhung der Zahl der täglich abzufliegenden Flüchtlinge nicht gemeistert werden können. Auch befürchten einige Länder, daß sie ohne gesetzliche Handhabe nicht in der Lage sein werden, ihren Verpflichtungen zur Aufnahme der Flüchtlinge nachzukommen. So ist es Aufgabe und Ziel dieses Gesetzes, die möglichst schnelle Unterbringung der Flüchtlinge im Bundesgebiet zu ermöglichen.
Das Gesetz zerfällt in vier Teile. Für die Teile II, III und IV, die das Verfahren bei der Leistungsanforderung und die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten behandeln, sowie die Übergangs- und Schlußvorschriften enthalten, kann mein Bericht auf die dem Hohen Hause vorliegende synoptische Darstellung in Drucksache Nr. 4151 ohne Einzelausführungen verweisen. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß der Ausschuß in § 41 das Datum für das Außerkrafttreten des Gesetzes vom 31. Dezember 1954 auf den 31. März 1955 vorverlegt hat, um mit dem Etatsjahr gleichzuziehen und um auf keinen Fall die Geltungsdauer des Gesetzes zu kurz zu befristen.
Der Ausschuß hat weiter den § 40 b eingefügt: Soweit durch die Vorschriften dieses Gesetzes das Grundrecht nach Art. 13 des Grundgesetzes
— d. h. die Unverletzlichkeit der Wohnung — berührt wird, wird dieses Grundrecht eingeschränkt.
Nicht für erforderlich hielt der Ausschuß eine Einschränkung des in Art. 14 garantierten Grundrechts auf Gewährleistung des Eigentums, da Art. 14 den sozialgebundenen Charakter des Eigentums klar zum Ausdruck bringt und im vorliegenden Gesetz gerade Enteignungsmaßnahmen nach Art. 14 des Grundgesetzes vorgesehen sind.
Die eigentliche Problematik des Gesetzes liegt im I. Teil, der die Vorschriften zur Leistungsverpflichtung sowie deren Umfang, die Pflichten der Beteiligten und die Abgeltung konkretisiert. Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Gesetz sehr weit gefaßt ist. Aber es bestand bei den Beratungen Einstimmigkeit darüber, man müsse das hinnehmen, wenn man für jede Lage gewappnet sein wolle. Jedoch vertraut der Ausschuß auf die dort abgegebene Erklärung des Herrn Bundesbevollmächtigten für die Notaufnahme der Flüchtlinge, daß Bundesregierung und Länder das Gesetz nur insofern durchführen und nur so scharf und dringend handhaben werden, wie der Druck, der durch die Ereignisse selbst ausgeübt wird, es erfordert.
§ 1 charakterisiert das Gesetz als Notleistungsgesetz, da Leistungen aus diesem Gesetz nur angefordert werden dürfen für Flüchtlinge aus der sowjetisch besetzten Zone oder aus dem Ostsektor von Berlin, soweit sie nach dem 1. Juli 1951 in das Bundesgebiet oder nach Westberlin gekommen sind. Der ursprüngliche Entwurf zog dien Kreis noch enger, indem er als terminus a quo den 1. Januar 1952 enthielt. Die Zurückverlegung dieses Datums entspricht einem Wunsche des Berliner Senats und trägt dessen Befürchtung Rechnung, daß eventuell verwaltungsmäßige Schwierigkeiten bei der Umsetzung solcher Personengruppen eintreten könnten, die schon vor dem 1. Januar 1952 ihren Aufenthalt in Berlin genommen hatten, aber erst nach der Einführung des Notaufnahmegesetzes in Berlin, also nach dem 4. Februar 1952, ihre Notaufnahme erhalten haben.
§ 2 stellt eindeutig den subsidiären Charakter des Gesetzes heraus:
Leistungen nach diesem Gesetz können nur angefordert werden, wenn der Bedarf auf andere Weise nicht oder nicht rechtzeitig oder nur mit unverhältnismäßigen Mitteln gedeckt werden kann.
Es war die einmütige Auffassung des Ausschusses und der Vertreter des Bundesrats, daß damit die größtmögliche Schonung von Einzelbetroffenen und Gruppenbetroffenen möglich und gewährleistet sei. Um aber in einigen bestimmten Fällen den Willen des Gesetzgebers eindeutig festzulegen, fügte der Ausschuß dem § 5, der die Befreiungen von der Leistungspflicht enthält, einen Abs. 7 an, nach dem auch befreit sein sollen:
die Fürsorgeverbände, die Verbände der freien Wohlfahrtspflege, die Verbände der Kriegsopfer und Blinden, soweit die Erfüllung ihrer Aufgaben durch 'die Leistung wesentlich beeinträchtigt würde.
Man war im Ausschuß der Auffassung, daß eine solche ausdrückliche Herausnahme nur der Wirklichkeit Rechnung trage insofern, als es sich hier um Institutionen handle, die ohnehin mit der Erfüllung von Aufgaben im Sinne dieses Gesetzes oder von ähnlichen Aufgaben mehr als ausgefüllt seien.
Eine längere Debatte löste die Frage aus, ob man ähnlich wie die vorhin genannten Verbände
auch das Beherbergungsgewerbe in den Erholungsgebieten generell aus der Leistungsverpflichtung herausnehmen solle. Der Ausschuß verschloß sich nicht den bedenklichen Folgen, die sich daraus ergeben haben, daß man 1945 bis 1947 den Flüchtlingsstrom weitgehend in die Erholungsgebiete gelenkt hat. Es wurde aber auf der anderen Seite geltend gemacht, daß gerade auf Grund dieser bösen Erfahrungen aus der jüngsten Vergangenheit und mit Rücksicht auf ihre Steuerkraft die Gemeinden nicht den Ast absägen würden, auf dem sie — vielleicht eben erst wieder — sitzen. Zudem befürchtete man, daß die Herausnahme eines Gewerbezweiges zu Berufungen anderer führen könnte und daß so die rasche und reibungslose Durchführung des Gesetzes erschwert würde. Der Ausschuß hält es aber für erforderlich, daß durch die Verwaltungsvorschriften die Möglichkeit gegeben wird, in den Gebieten, die als besondere Erholungsgebiete anerkannt worden sind, von der Anwendung des Gesetzes abzusehen.
.Ebensowenig konnte sich der Ausschuß entschließen, die öffentlich geförderten Vereine der Jugendwohlfahrt von der Leistungsverpflichtung generell auszunehmen, da für den Notfall z. B. auf Raumreserven des Jugendherbergsverbandes nicht verzichtet werden kann. Aber der Ausschuß möchte klar seinen Willen betonen, daß die besonders besuchten Jugendherbergen im Interesse der wandernden deutschen Jugend und internationaler Jugendtreffen freigehalten werden.
Nach § 8 des Gesetzes sind unbebaute Grundstücke für die Herrichtung von behelfsmäßigen Unterkünften zur Verfügung zu stellen. Der Ausschuß hat diese Vorschrift ergänzt durch den Zu-Satz: „und freie Flächen von bebauten Grundstükken". Es soll damit die Möglichkeit gegeben werden, in den zweifellos seltenen Fällen, wo Ödland zwar vorhanden, aber zur Errichtung von Notunterkünften ungeeignet ist, weil die für die Unterkünfte notwendigen sanitären Einrichtungen nur schwer und mit unverhältnismäßigen Kosten geschaffen werden können, auf andere Flächen zurückzugreifen. Dabei ist nicht daran gedacht, landwirtschaftliche oder forstwirtschaftliche Nutzungsflächen in ihrer Zweckbestimmung oder Nutzung zu beeinträchtigen. Der Ausschuß beschloß einstimmig, in diesem Bericht zum Ausdruck zu bringen, daß in den Verwaltungsvorschriften festgelegt werden soll, daß, wo unbebautes gemeindeeigenes Land vorhanden ist, dieses in erster Linie heranzuziehen ist.
Die Leistungspflicht nach diesem Gesetz wird auf Räume, die zur vorübergehenden Unterbringung von Flüchtlingen geeignet sind, und auf die oben erwähnten Grundstücke und Flächen beschränkt. § 7 Abs. 3 nimmt Wohnräume ausdrücklich aus. „Wohnräume dürfen nach diesem Gesetz nicht beschlagnahmt werden."
Meine Herren und Damen! Das Gesetz soll Berlin helfen. Aber wegen der Unübersehbarkeit der Entwicklung in Berlin braucht man auch dort die darin gegebenen Handhaben. So enthält das Gesetz in § 40 a die Berlin-Klausel.
Wer noch in der vergangenen Woche Zweifel an der Eilbedürftigkeit und der unausweichlichen Notwendigkeit dieses Gesetzes gehegt haben sollte, wird durch die Entwicklung der letzten Tage belehrt worden sein, daß wir nach Möglichkeit und mit äußerster Entschlossenheit für jede Größenordnung des Flüchtlingsstroms gewappnet sein müssen. ,
Ich darf darum im Namen des Ausschusses das Hohe Haus bitten, dem Entwurf des Flüchtlings-
Notleistungsgesetzes — Drucksache Nr. 4151 — in der vom Ausschuß einstimmig beschlossenen Fassung zuzustimmen.