Rede von
Willy
Brandt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die Kollegen von der kommunistischen Fraktion in solchen Zusammenhängen hört
oder Gruppe —, dann möchte man meinen, daß wir zu einem überwiegenden Teil ein Volk von Masochisten seien. Denn sie erzählen uns, daß die Verhältnisse in dem, was sie die DDR nennen, immer besser werden, und sie stehen andererseits ebenso wie wir der Tatsache gegenüber, daß der Strom von Leuten, der sich aus diesem „Wohlstandsgebiet" in die „westdeutschen Elendsgebiete" ergießt, immer mehr anwächst, daß also die Leute offenbar aus lauter Drang und Hang dazu, immer tiefer ins Elend hinabzusinken, diese Bewegung von der sogenannten DDR in das westliche Bundesgebiet unternehmen.
— Wissen Sie, Herr Kollege Renner, ich finde, Sie sollten sich in dieser Situation schon darum eine gewisse Zurückhaltung auferlegen, weil im Flüchtlingsstrom der letzten Wochen doch gewisse Flüchtlinge eines neuen Typs eine Rolle spielen,
darunter, meine Herren von der Kommunistischen Partei,
die tragischen Opfer des rotlackierten Antisemitismus.
Wenn man sich an Freud hielte, wäre es außerordentlich interessant, im Hinblick darauf, daß der Kollege Müller eben vom „letzten Wirbel des Rückgrats" gesprochen hat, gewisse Verbindungen im Unterbewußtsein herzustellen zu unangenehmen Gefühlen am Halswirbel, die sich sicherlich dann einstellen, wenn die Kollegen der KPD an Namen wie Merker, Jungmann, Kurt Müller und Nuding denken.
Aber zur Sache und zum Antrag. Es handelt sich, wie die Kollegin Korspeter schon dargelegt hat, um eine dringend erforderliche Entlastung Berlins. Es handelt sich im weiteren Sinne um die Auseinandersetzung mit einem Problem, das sich zufällig jetzt in Berlin darstellt, seitdem im Sommer die Zonengrenze so abgeriegelt worden ist, um die Auseinandersetzung mit dem Problem des Flüchtlingsstroms, der sich in diesem Ausmaß aus der verschärften Sowjetisierungspolitik und aus einer gewissen Hoffnungslosigkeit mancher Schichten unserer Menschen in der Zone ergeben hat. Wir mögen diese Hoffnungslosigkeit bedauern und ihr immer wieder unsern Wunsch entgegenstellen, daß so viele Menschen wie irgend möglich aushalten mögen. Aber wer von uns hat letzten Endes das Recht, demjenigen, der selbst die schwere Entscheidung gefällt hat, zu sagen: Du durftest sie nicht fällen? Glaubt irgend jemand hier, daß es einem deutschen Bauern — und es sind doch Tausende von Bauern, die in diesen Wochen kommen
— leicht fällt, von seinem Hof zu gehen, daß es den Frauen leicht fällt, sich von dem zu trennen, was sie entweder gerettet haben oder wieder aufbauen konnten? Es liegen bei den allermeisten ganz schwere innere Entscheidungen zugrunde, bevor sie diesen Weg antreten.
Nun, jetzt sind diese Menschen in Berlin. Es ergeben sich zusätzliche Spannungen. Die nicht Anerkannten — Zehntausende von ihnen sind schon da — bekommen zum Teil Notunterstützungen, drücken zum Teil auf den Arbeitsmarkt. Die Zahl der Arbeitslosen in Berlin läge unter 200 000 und nicht bei 300 000,
wenn dieses Problem der nicht anerkannten Flüchtlinge nicht aufgetreten wäre. Auf der anderen Seite haben wir das Elend in den über 70 Lagern. Darunter sind 40 Lager des Roten Kreuzes, die dankenswerterweise so schnell geschaffen wurden, in denen aber die Menschen auf dem Fußboden liegen, auf den Strohsäcken; und in den Räumen ist nichts drin außer den Leinen, auf denen die Kleider zum Trocknen aufgehängt sind.
Ich glaube, Frau Kollegin Maxsein, angesichts dieser Situation ist jetzt nicht die Zeit da — jedenfalls unserer Meinung nach nicht da —, zu sagen: Das muß man nun alles noch einmal genau prüfen. Denn wir kommen ja mit dem Antrag nicht wie ein Schuß aus der Pistole!
Im Berlin-Ausschuß ist im Sommer vergangenen Jahres, als diese Entwicklung nach der fast hermetischen Absperrung an der Zonengrenze einsetzte, darüber gesprochen worden. Es ist seitdem im Gesamtdeutschen Ausschuß verschiedentlich darüber gesprochen worden. Der Regierende Bürgermeister von Berlin hat sich, wie hier schon erwähnt wurde, an den Bundeskanzler gewandt und eine unserer Meinung nach nicht befriedigende Antwort bekommen. Gewiß, man mag das vorgeschlagene Verfahren unter manchen Gesichtspunkten für bedenklich halten. Aber ich bitte Sie, wir sind doch nicht so naiv, daß wir uns vorgestellt haben, die Regierung soll nun in Ausführung dieses Antrags anordnen, in Berlin werden in verschiedenen Straßen Wegweiser aufgestellt mit der Aufschrift „Zum Flugplatz", so daß jeder, der aus der Zone käme, diesen Wegweisern folgend auf dem Flugplatz Aufstellung nehmen würde, um abgeflogen zu werden! Natürlich wissen wir, daß auch die Realisierung eines solchen Verfahrens eine gewisse gesundheitliche Vorprüfung erforderlich machen würde, schon um Epidemien und ähnliche Dinge abzuwenden, und auch eine Feststellung zur Person vor dem Abflug der Flüchtlinge beinhalten müßte. Aber es bleibt eben die Tatsache bestehen, daß man nicht wie bisher Berlin auf dem doch immer, auch jetzt noch hohen Prozentsatz derer sitzenlassen darf, die unter den mehr oder weniger strengen Gesichtspunkten des Notaufnahmegesetzes nicht anerkannt werden und die niemand von Ihnen und von uns den Machthabern in der sowjetischen Besatzungszone ausliefern möchte. Es bleibt eigentlich nur ein Problem. Sie können meinen, daß derjenige, der von sich aus, nachdem er abgewiesen sei, die Entscheidung treffe zurückzugehen, diesen Versuch nicht mehr unternehmen könne, wenn er erst einmal hierhergekommen sei. Nun, wer die Dinge aus der Praxis kennt, weiß, daß die Fälle, um die es sich hier handelt, auf ein Minimum zusammengeschmolzen sind und gegenüber den anderen großen Problemen fast keine Rolle mehr spielen. Die Praxis, wie wir sie vorschlagen, d. h. unabhängig von der Prüfung des Notaufnahmeverfahrens im einzelnen zunächst einmal 80 % abzufliegen, könnte auch von Ihnen, meine
Damen und Herren, darum unterstützt werden, weil wir ausdrücklich sagen, daß wir das zunächst für drei Monate machen wollen.
Es sollen hier keine definitiven Entschlüsse und Beschlüsse gefaßt werden. Nachdem die täglichen Anlaufziffern von im Durchschnitt 500 auf 1500 an einzelnen Tagen gestiegen sind, soll in einer akuten Notlage eine Entlastung geschaffen werden. Aus diesen Gründen möchten wir Sie bitten, Ihren Antrag nicht aufrechtzuerhalten, unsere Aufforderung an den Ausschuß zu überweisen. Es gibt Fragen, in denen eine Aufforderung im Sinne einer Richtlinie, einer Direktive an die Regierung unmittelbar gegeben werden muß und in denen es im wohlverstandenen Interesse der Flüchtlinge, von denen hier die Rede war, eben nicht angängig ist, die Dinge mit neuen monatelangen Erörterungen auf die lange Bank zu schieben, sondern diese Direktive nun vom Bundestag unmittelbar gegeben werden sollte. Unser Antrag bietet im übrigen alle Möglichkeiten, aus der Praxis heraus jene Abwandlungen zu treffen, die sachlich erforderlich sind. Wir bitten Sie darum, an Stelle der Ausschußüberweisung diesem Antrag, so wie es der Senat von Berlin meines Wissens auch einstimmig mit den Vertretern aller drei Parteien gewünscht hat, Ihre Zustimmung zu geben.