Rede von
Willy
Brandt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben heute vormittag die Mitteilung des Herrn Bundeswirtschaftsministers über die bei der Bundesregierung neu errichtete Stelle gehört, für die unser Kollege Dr. Bucerius verantwortlich zeichnet. Meine politischen Freunde und ich hätten es begrüßt, wenn das Haus schon bei der Errichtung dieser Stelle in angemessener Form eine Mitteilung erhalten und wenn es schon damals — aber jedenfalls heute — etwas über die Richtlinien erfahren hätte, die für die Tätigkeit dieser Stelle vorgesehen sind. Wir würden es nun begrüßen, wenn wir möglichst bald über die tatsächlichen, hoffentlich positiven Leistungen — das wünschen wir alle — dieser Stelle näheres erführen. Unserer Meinung nach müßte es die Aufgabe dieser Stelle sein, sich so stark wie möglich auf die Lenkung nicht nur von öffentlichen, sondern auch von sonstigen Aufträgen aus dem deutschen Westen und — ich bin da durchaus der Meinung von Herrn Dr. Friedensburg — von außerhalb Deutschlands nach Berlin hin zu konzentrieren.
Mit meinem Vorredner bin ich der Meinung, daß es — ich hoffe, die Damen und Herren werden dafür Verständnis haben — keine reine Freude ist, hier immer wieder über Forderungen Berlins sprechen zu sollen. Aber leider muß von Zeit zu Zeit darauf hingewiesen werden, daß Berlin seine gesamtdeutsche Aufgabe auf die Dauer nur zu erfüllen vermag, wenn es seinen Menschen Arbeit geben kann. Eine Viertelmillion Arbeitslose stellt in Berlin weit mehr als ein wirtschaftliches und soziales Problem dar. Berlin braucht Arbeit für seine Menschen, und darum braucht es Aufträge. Niemand von uns denkt daran, die großen Leistungen anzuzweifeln, die der deutsche Westen und seine Steuerzahler für Berlin aufgebracht haben. Aber wir stellen fest, daß mancherorts immer wieder die Neigung aufkommt, die vorhandenen Schwierigkeiten zu bagatellisieren.
Berlin ist leider noch immer nicht über den Berg.
Ein Brief, den der Herr Bundeskanzler am 24. Oktober an den stellvertretenden Vorsitzenden meiner Partei, den Kollegen Mellies, gerichtet hat, war geeignet, einen falschen Eindruck zu erwecken. Die Hauptthese des Briefes war leider nicht zutreffend. Diese Hauptthese bestand darin, daß die wirtschaftliche Stagnation in Berlin überwunden sei. Es
wurde unterstellt, daß es sich dabei um die Auswirkung jener Maßnahmen handele, die im Juli von der Bundesregierung ergriffen und von diesem Hause beschlossen worden sind. Tatsache ist jedoch, daß die erfreuliche Besserung gewisser wirtschaftlicher Daten, auf die sich auch der Herr Bundeswirtschaftsminister heute mittag hier bezogen hat, keinen übertriebenen Optimismus rechtfertigt; denn es handelt sich dabei in jenem dritten Vierteljahr, Herr Bundeswirtschaftsminister, in starkem Maße um saisonmäßige Erscheinungen. Unzutreffend ist daher auch die Vermutung in dem Brief des Herrn Bundeskanzlers vom 24. Oktober, daß zu Beanstandungen — wie er es nannte —, d. h. zu weiteren Wünschen und Forderungen — wie ich es nennen möchte — kein Anlaß mehr bestehe. Mein Freund Neubauer hat heute dargelegt — und wir haben in unserem Antrag darauf hingewiesen —, daß auf einer Reihe von Gebieten — Flüchtlingsfrage, Bundesbehörden, Frachtkosten usw. — neue Initiativen des Bundes erforderlich und möglich sind. Ich brauche nicht das zu wiederholen, was — völlig unabhängig von unseren sonstigen politischen Meinungsverschiedenheiten — der Kollege Dr. Friedensburg soeben zu diesen Fragen im einzelnen ausgeführt hat. Wir sind durchaus der Meinung, daß über diese Dinge im Berlin-Ausschuß noch eingehend gesprochen werden sollte.
Seit dem Sommer dieses Jahres sind dem Berlin-Ausschuß leider keine Informationen über die Pläne und Maßnahmen der Regierung mehr zugegangen, obgleich der Ausschuß auf Antrag der Regierungsfraktionen vom 10. Juni 1952 mit der, wie es wörtlich hieß, „ständigen Überprüfung und Fortentwicklung" der Unterstützungsmaßnahmen beauftragt war.
Einer der Sprecher der größten Regierungsfraktion in diesem Hause hat in der vergangenen Woche von jährlich 2 Milliarden DM gesprochen, die Berlin den Bund koste. Man erweist Berlin, glaube ich, mit derart übertrieben aufgemachten Rechnungen keinen guten Dienst.
Eine Sache sind nämlich die Zuschüsse zum Berliner Landeshaushalt und weitere tatsächliche Stützungsmaßnahmen des Bundes, eine andere Sache sind die Auswirkungen des Dritten Überleitungsgesetzes, nach dem Berlin in das Finanzsystem des Bundes einbezogen worden ist. Man sollte, glaube ich, den Berlinern nun auch nicht noch bei ieder Gelegenheit vorrechnen, was diese Gleichstellung kostet; denn man macht eine solche Rechnung auch anderen finanzschwachen Ländern nicht auf.
Weiter ist nicht recht einzusehen, wieso sich der Bund zugute hält, was der Berliner Wirtschaft aus amerikanischen Hilfsquellen zugeflossen ist, was aber bei diesen globalen Aufstellungen immer mit dem anderen wie Äpfel und Birnen zusammengerechnet wird. Schließlich ergibt sich ein nicht ganz zutreffendes Bild, wenn Garantiesummen mit aufgerechnet werden, die erfreulicherweise nur in geringem Umfang in Anspruch genommen zu werden brauchen.
Auch ich möchte — ähnlich wie es Herr Dr. Friedensburg gesagt und gewünscht hat — nicht in eine parteipolitische Polemik eintreten; aber verübeln Sie es mir nicht, wenn ich eine Bemerkung über
das Bulletin der Bundesregierung mache, das sich am 4. November eine seiner leider nicht vereinzelt dastehenden Entgleisungen geleistet hat, als es glaubte, in der Berlin-Frage der sozialdemokratischen Fraktion dieses Hauses unterstellen zu sollen, ihre Haltung beschränke sich auf ,,lediglich negative Kritik". Der Herr Bundeskanzler hat zu demselben Thema in der vergangenen Woche gemeint, das angebliche „Gerede" der Opposition den vermeintlichen „Leistungen" der Regierung gegenüberstellen zu sollen. Nun wird doch wahrscheinlich gerade von der Grundhaltung aus, von der auch Kollege Friedensburg an dieses Thema herangegangen ist, hoffentlich bei der Beratung dieses Gegenstandes nicht ernsthaft behauptet, daß die Partei, für die die Opposition hier in diesem Hause sitzt, in Berlin nur geredet habe. Es war immerhin im Ringen um Berlin durch die SPD und durch die anderen demokratischen Parteien in Berlin schon einiges geleistet worden, bevor die Bundesregierung auf der Bildfläche erschien und erscheinen konnte. Auch zu dem, was heute als selbstverständlicher Bestandteil der Berlin-Politik des Bundes gilt, wäre es ohne dauerndes Drängen, ohne wache Kritik und positive Vorschläge kaum gekommen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang die Frage aufwerfen, ob es zu den Aufgaben eines Mitteilungsblattes der Regierung gehören kann, demokratischen Parteien Zensuren zu erteilen. Eine der Voraussetzungen eines einigermaßen gedeihlichen Zusammenwirkens in der Demokratie müßte wohl auch sein, daß Werbeeinrichtungen von Parteien nicht mit der offiziellen Informationsstelle des Staates verwechselt werden.
Man hat uns bei dieser Gelegenheit im Bulletin der Bundesregierung angekreidet, daß eine unserer führenden Körperschaften kürzlich geäußert habe, wir hielten die Position Berlins nicht für ungefährdet. Unserer Meinung nach ist es besser, die Dinge beim rechten Namen zu nennen, statt sich und andere mit der Parole zu beruhigen: Wir werden Berlin aus seiner Umklammerung befreien.. Die Gefahr der Isolierung und der politischen Verkümmerung Berlins ist nicht von der Hand zu weisen. Wir werden zu der Frage der politischen Verkümmerung in einem anderen Zusammenhang, wenn wir uns über das Bundeswahlgesetz zu unterhalten haben, noch einiges zu sagen haben, worauf wir heute verzichten müssen. Aber ich will nicht verhehlen, daß wir unseren ganzen und energischen Widerstand gegen ein Verhalten anmelden, das den Alliierten eine Ablehnung der Mitbeteiligung Berlins an den kommenden Bundestagswahlen geradezu in den Mund legt. Direkte Wahlen in Berlin würden nicht bedeuten, daß sein Sonderstatus aufgegeben wird. Wenn aber schon in der nächsten Runde gesamtdeutsche Wahlen nicht möglich sein sollten, müßten wir doch zum mindesten erstreben, daß die Deutschen frei und gemeinsam in jenen Teilen Deutschlands wählen können, in denen das nicht durch fremde Gewalt noch unmöglich gemacht wird.
Geben wir offen zu, wir können Berlin gegenwärtig nicht aus seiner Umklammerung befreien. Wir sollten tun, was zu tun möglich ist. Wir können Berlin in die Lage versetzen, daß es weiterhin freiheitliche Energien ausstrahlt. Wenn der deutsche Westen, wir wir es durch unsere Anfrage und durch
unseren Antrag wünschen, den Berlinern Arbeit gibt, so stärkt er damit ihre Widerstandskraft.