Rede von
Valentin
Baur
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Meine Damen und Herren! Am 21. Oktober 1951 ging dieses Gesetz durch die erste Lesung. Trotz der täglichen Meldungen über Unfälle, trotz aller Propaganda des Bundesverkehrsministeriums, trotz erfolgter Aufklärung und Verkehrserziehung stiegen die Unfallziffern weiter. Das vorliegende Gesetz will mit den beschlossenen Verschärfungen vorbeugend durch Abschreckung wirken. Das Gesetz will mit seinen Bestimmungen auch erzieherisch wirken. Aber wenn nicht alle Stellen, die gemäß den Vorschriften die Pflicht haben, den Straßenverkehr zu regeln und zu überwachen, sich restlos dieser Aufgabe widmen, befürchte ich, daß die Unfälle weiter steigen werden. Das beste Gesetz muß wirkungslos bleiben, wenn der Staat, in diesem Falle die Ressortministerien der Länder wie bisher versagen und die Kontrollen völlig ungenügend tätigen. Die Kontrollen müssen auch bei Nacht ausgeübt werden. Man sage mir nicht, unsere Polizei sei nicht ausreichend. Bei richtiger Organisation und vorübergehender Verwendung von Bereitschaftspolizei sowie des Grenzschutzes kann diese Aufgabe ohne Vermehrung des Stabes der allgemeinen Verkehrspolizei durchaus zum Schutz aller am Verkehr beteiligten Bürger und Bürgerinnen gelöst werden. Denn nur eine umfassende und für einige Zeit konstante Kontrolle kann dem Gesetz zum entscheidenden Erfolg verhelfen. Hier darf es keine Ausreden, keine Kompetenzstreitigkeiten geben. Alle Sicherheitseinrichtungen haben die Pflicht, gemäß diesem Gesetz die Pest der Raserei und der dabei zum Ausdruck kommenden Verachtung von Menschenleben zu bekämpfen. Ich sage: zu bekämpfen; aber nicht mit kleinlichen Polizeischikanen, sondern mit den modernen sachlichen Mitteln. Es wird vor allem notwendig sein, die Fahrzeuglenker, die Radfahrer, die Fußgänger umfassend mit den Vorschriften dieses Gesetzes vertraut zu machen. Die einsetzenden Kontrollaktionen müssen in erster Linie der Belehrung und für den Anfang nur der Verwarnung und. nicht gleich der Bestrafung dienen, sofern der Unfall, der verursacht wurde, nicht einer Fahrlässigkeit oder einer Rücksichtslosigkeit zuzuschreiben ist. Daneben muß eine intensive \\Verkehrsaufklärung und Verkehrsschulung aller Volksteile einhergehen. Wo aber unbelehrbare und rücksichtslose Rowdies als Verkehrsverbrecher festgestellt werden, muß die Absicht des Gesetzes, nämlich verschärfte Bestrafung, wahrgemacht werden. Wer leichtfertigerweise oder aus brutalem Egoismus Leben und Gut anderer Menschen gefährdet, muß zur vollen Verantwortung gezogen werden.
Lassen Sie mich zum besseren Verständnis dieser Auffassung einige wenige Zahlen nennen. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden stellt in seinem Bericht vom 5. September 1952 fest, daß die Verkehrsunfälle im letzten Jahr wegen Nichtbeachtung des Vorfahrtsrechts um 17 %, wegen falschen Einbiegens um 23,3 %, wegen falschen Überholens und Vorbeifahrens um 20,3 % und wegen übermäßig schnellen Fahrens um 40 % gestiegen sind. Diese Zahlen zeigen, wie notwendig dieses Gesetz, besonders die Bestimmung über den Entzug des Führerscheins ist.
Das Problem besteht nicht in Deutschland allein, sondern, wie man aus der „Neuen Zürcher Zeitung" en nehmen kann, auch in der Schweiz; ebenso ist es in andern Ländern. In einem Artikel ,,Fahrerkontrolle oder Tempobeschränkung" schreibt diese Zeitung zu dem Problem am 10. Oktober 1952 folgendes. Ich darf vielleicht mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten die wenigen Zeilen vorlesen:
Es ist unerträglich, daß Leuten, die weder die technische Fertigkeit noch, was wichtiger ist, die nötige charakterliche Reife und Eignung besitzen. gefährliche Maschinen anvertraut werden, mit denen sie andere um Leben, Gesundheit und Vermögen bringen können.
Mit diesem Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs wird man jedoch nur dann eine optimale Wirkung, einen optimalen Grad an Sicherheit erzielen, wenn es mit seinen Bestimmungen jedem einzelnen im ganzen Volk ins volle Bewußtsein, in Fleisch und Blut übergegangen ist. Nur dann ist eine hochgradige vorbeugende Wirkung zu erreichen.
Ich nehme Bezug auf meine Rede am 25. Oktober 1951 in diesem Hause bei Gelegenheit der ersten Lesung. Wenn Verkehrsschulung einen Dauererfolg haben soll, genügen nicht gelegentliche Plakataktionen, sondern müssen der Rundfunk und die Wochenschauen in den Kinos periodisch und systematisch dazu verwendet werden. Mit diesen beiden Einrichtungen können täglich Millionen Menschen mit Erfolg angesprochen und an einer das ganze Volk erfassenden Aufklärung beteiligt werden. Allein so kann meiner Meinung nach das Volk für eine echte und fruchtbare Mitarbeit und für die Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt gewonnen werden. Das Bundesverkehrsministerium und alle damit beauftragten Kreise sollen sich mit besonderer Intensität mit dieser Forderung befassen und ihre Durchführung betreiben. Wenn die Bestimmungen des Gesetzes im ganzen Volk bekanntgemacht und von allen Kreisen, ob Kraftfahrer, Radfahrer oder Fußgänger, aus ureigenstem Interesse respektiert werden, wird die Unfallbekämpfung einen maximalen Erfolg haben können. Denn wie ist heute leider die Auffassung im Volke? Geschieht ein Unfall, dann sagen die Leute, der Betreffende sei eben ein Opfer des Verkehrs geworden. Sie treffen diese Feststellung, wie man etwa eine Naturkatastrophe, die unvermeid-
lich war, feststellt, zwar mit einem gewissen Mitgefühl, aber in Ohnmacht gegenüber einem unabänderlichen Gesetz der Natur. Ist nicht auch diese Lethargie schon eine Gefahr? Ich bitte den Herrn Bundesverkehrsminister, bei seinen künftigen Werbeaktionen ganz besonders dieses psychologische Moment zu berücksichtigen. Alle anständigen Kraftfahrer aber, denen ein Menschenleben noch heilig ist, sollten in echter Solidarität dazu beitragen, daß die unbelehrbaren Verkehrsverbrecher auch dann zur Verantwortung gezogen werden, wenn ein direkter Unfall zwar vermieden wurde, aber eine Gefährdung gegeben war. Auf diese Weise ließe sich vorbeugend sicher auf die Dauer vieles verhindern. Das gilt ganz besonders auch gegenüber jenen Fahrern, die aus einfältigem Protzentum nicht ertragen können, daß sie gelegentlich einmal überholt werden, und glauben, daß sie die Autobahn wie die Landstraßen zur Rennbahn machen können.
Von Richtern und Behörden erwarten wir, daß sie bei ihren Entscheidungen sorgfältig prüfen, welcher Art die Schuld bei einem eingetretenen Unfall ist, ob diese in unvermeidbaren Ursachen, in ungewolltem Versagen von Sinnen und Fähigkeiten der Menschen oder Maschinen oder in offensichtlich fahrlässigem Verhalten oder gar in brutal egoistischer Rücksichtslosigkeit lag. Im zweiten und dritten Fall, glaubt meine Fraktion, sollte das Gesetz in voller Schärfe seine Anwendung finden.
Das Bundesverkehrsministerium möchte ich noch einmal ersuchen, ein kleines Manual über Verkehrsvorschriften und Unfallverhütung herauszugeben, das als Unterrichtsmaterial bei den Fahrschulen verwandt wird und das man den Fahrschülern bei Prüfung ihrer Kenntnisse mit dem Führerschein aushändigt als Ratgeber für die ferneren Fahrten, die der betreffende Fahrer oder die Fahrerin vor sich haben.
Um die kritische Lage im Verkehr wirklich wirksam zu verbessern, ist auch eine umfassende Verbesserung unserer Straßenverhältnisse unbedingt notwendig. Die erhobenen Kraftfahrzeugsteuern müssen deshalb zweckgebunden restlos dem Straßenbau und dem Straßenunterhalt zugeführt werden. In planmäßigem Vorgehen müssen alle verkehrsgefährdenden Straßenstellen zügig beseitigt werden; wo immer möglich, müssen Umgehungsstraßen gebaut werden, um die Gemeinden von dem Durchgangsverkehr entlasten zu können, besonders dort, wo enge Straßen nicht erweitert werden können. Hemmende Bahnübergänge dürfen nicht mehr gebaut werden; wo solche bestehen, müssen sie allmählich beseitigt werden. Die dem Bundesverkehrsminister zugewiesenen Mittel müssen im Einvernehmen mit dem Ausschuß für Verkehrswesen zur Überwindung dieser Umstände gemäß den sich aus der Verkehrsdichte ergebenden Dringlichkeiten verwendet werden. Auch in den Städten und Gemeinden ist das Verkehrswesen mehr als bisher sinnvoll zu regeln. Dabei ist an die Sicherheit der Radfahrer durch genügend Radfahrwege ebenso zu denken wie an die Sicherheit der Fußgänger durch entsprechende Schutzstreifen an Straßenübergängen, nicht zuletzt durch ausreichende Verkehrsampeln; denn die Verkehrstafeln auf Halt sind keine genügende Sicherheit für die komplizierten Verkehrspunkte in den Großstädten und zum Teil auch in den kleineren Gemeinden.
Alle beteiligten und verantwortlichen Stellen müssen ihre Aufgabe auch darin sehen, daß die Möglichkeiten, die durch die Kriegszerstörungen in den Städten für Straßenerweiterungen und Parkplatzanlagen heute noch bestehen, unverzüglich ausgenutzt werden. Heute noch bestehen die Chancen, morgen können sie schon verbaut sein.
Meine Fraktion ist der Auffassung, daß es nicht genügt, nur ein Gesetz zu erlassen, sondern daß es notwendig ist, das Gesetz in seinen Auswirkungen laufend zu beobachten. Die sozialdemokratische Fraktion erwartet daher, daß der Bundesverkehrsminister dem Parlament mindestens halbjährlich Bericht über den Erfolg oder Mißerfolg dieses Gesetzes gibt. Mehr als bisher ist deshalb auch die Unfallstatistik zu spezialisieren, nicht zuletzt auch auf die Beobachtung nach Personenkilometern, damit die Arten der Gefahrenquellen, die Fahrzeuge und die Ursachen der Unfälle exakter festgestellt werden können und die daraus sich ergebenden Schlußfolgerungen vom Bundesverkehrsministerium mit den Behörden und vor allem dem Gesetzgeber rasch und zweifelsfrei gezogen werden können. Es genügt bei diesem Zeittempo, wo die Technik unaufhörlich fortschreitet, nicht, nur Gesetze zu machen, die starr in Paragraphen abgefaßt sind, sondern mehr noch ist die Beobachtung der Wirkungen eines Gesetzes notwendig.
Lassen Sie mich Ihnen zum Schluß noch eine Bemerkung des Professors Dr. Pirath von der Technischen Hochschule Stuttgart zur Kenntnis bringen, die dieser auf einer verkehrspolitischen Tagung der Gewerkschaft ÖTV im verflossenen Herbst gemacht hat. Ich glaube, der Präsident wird mir gestatten, daß ich sie Ihnen vorlese. Professor Pirath sagte damals:
Man kann von einer negativen und von einer positiven Methode
— bei der Bekämpfung der Unfälle —
sprechen. Die negative Methode besteht darin, daß den Menschen eine möglichst große Anzahl abschreckender Bilder von Unglücksfällen gezeigt wird, damit sie sich sagen: „Sieh dich vor, damit dir nichts Ähnliches passiert!" Die positive Methode ist die, daß man die Menschen auf bestimmten Wegen darüber aufklärt, wie sie selbst als Kraftfahrer Zusammenstöße vermeiden können. Ich habe das Gefühl, als wenn in der negativen Methode ein wenig zuviel gemacht wird und in der positiven zuwenig.
Vor allen Dingen ist eine Seite der positiven Erziehung und Aufklärung bisher noch zuwenig aufgezeigt worden. Das ist die Einbeziehung der Wissenschaft in die Untersuchung der Ursachen von Unfällen, die mit dem Menschen zusammenhängen. Ich möchte sie als verkehrspsychologische Ursachen bezeichnen. Und ich möchte sehr empfehlen, daß Sie Ihr Augenmerk darauf richten und daß Sie sich auch dafür einsetzen, daß die Psychologen, die Mediziner, zusammen mit der Praxis Maßstäbe finden, nach denen jeder Kraftfahrer sich selbst einschätzen kann, wo er seine Schwächen und wo er seine Vorzüge hat für Fahrten, die er auszuführen hat. Ich denke da immer an das berühmte Wort über dem Orakeltempel in Griechenland: „Erkenne dich selbst!", natürlich auf andere Dinge bezogen, auf das geistige, seelische Leben. Hier aber sollte der Fahrer sich erkennen lernen durch Methoden,
die die Wissenschaft zur Verfügung stellt, bei welchen Gelegenheiten, bei welchen Dispositionen, bei welchen klimatischen Verhältnissen man vorsichtig sein muß, von sich aus gesehen, und bei welchen Verhältnissen man etwas kühner fahren kann. Ob man diese Maßstäbe finden kann, wird die Zukunft lehren. Ich bin aber davon überzeugt,
sagt der Professor —
wenn man sich wirklich einmal mit diesen Dingen befaßt, von der wissenschaftlichen Seite her, dann wird man den Menschen positiv sagen können: „Lasse dich prüfen, in welcher Richtung du schwach bist im Fahren, in welcher Richtung du leistungsfähig bist!" Nun, das wäre das, was über die Sicherheit zu sagen wäre, zu der die Staatspolitik ja schließlich auch einmal Stellung nehmen muß.
Ich bin der Meinung, daß die hierin zum Ausdruck gebrachten Anregungen sehr wertvoll sind und nicht bloß zur Kenntnis genommen werden sollten, sondern entschieden Anwendung finden sollten.
Nun liegen dem Hause wiederum Anträge betreffend die Länge der Lastwagenzüge vor. Ich möchte sagen, daß es für die Unfallverhütung nicht auf die Länge der Lastzüge, sondern einzig und allein auf das Verhalten der Fahrer während der Fahrt ankommt. Heute herrscht gegenüber den Lastwagenfahrern eine so große Abneigung, weil ein großer Teil, nicht alle, der Fahrzeuglenker bei der Fahrt nur an sich denken und keine oder nich genügende Rücksicht auf kleinere Fahrzeuge nehmen.
Während des Krieges und in den totalitären Staaten wurden Menschenleben als wenig wertvoll
behandelt. In einem kulturellen Volk sollten aber doch das Leben und die Gesundheit der Menschen wieder geschätzt und respektiert werden. Deswegen muß das ganze Volk über den Zweck des Gesetzes aufgeklärt werden. Eine freiwillige Rücksichtnahme aufeinander an jedem Ort und zu jeder Zeit muß Ziel aller sein; dann werden die verschärften Bestimmungen des Gesetzes nur ganz selten zur Anwendung kommen müssen.
Meine Fraktion stimmt diesem Gesetz unter den genannten Gesichtspunkten zu.