Nun zum EVG-Vertrag. Wir diskutieren ja hier nicht über die grundsätzliche Frage der Verteidigung von Demokratie und Freiheit. Ich wiederhole es: die Verteidigung der Freiheit und der Demokratie ist für uns Sozialdemokraten unbestritten. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang wieder ein — ich muß sagen, bedauerlicherweise — kritisches Wort zu der Behauptung des Herrn Bundeskanzlers von heute morgen sagen, die SPD habe in einer Vorstandssitzung am 10. und 11. Dezember 1948 in der Frage des Wehrbeitrages und der Wehrverfassung eine andere Auffassung vertreten als heute. Herr Bundeskanzler, Sie waren in dieser Behauptung sehr allgemein. Aber ich habe mir inzwischen den Wortlaut dieses Beschlusses herausgesucht, den Sie aus Zeitmangel nicht verlesen haben. Was steht in diesem Beschluß nun tatsächlich drin? Ich erinnere Sie: eine Sitzung des Parteivorstandes im Dezember 1948, d. h. vor der Verabschiedung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat, vor der Konstituierung der Bundesrepublik. Damals war eine öffentliche Diskussion von außen her über die Frage eines deutschen Beitrages im Gange. Damals hat die Sozialdemokratie erklärt:
1. Die Frage einer deutschen Wehrverfassung liegt nicht im Bereich der deutschen Zuständigkeit.
2. Die allein dafür zuständigen alliierten Militärgouverneure haben Behauptungen über eine deutsche Wiederaufrüstung dementiert.
3. Soweit eine Bedrohung Westdeutschlands durch den östlichen Totalitarismus besteht, ist der wirksamste politische Schutz dagegen eine konsequente demokratische und soziale Politik in Westdeutschland selbst.
Genau das ist auch heute noch die Position der Sozialdemokratie, und ich bitte den Herrn Bundeskanzler doch, uns einmal darüber aufzuklären, wo er den Unterschied in unserer Haltung von damals und heute sieht.
Wir diskutieren hier, wie gesagt, nicht die grundsätzliche Frage der Verteidigung von Demokratie und Freiheit. Wir haben hier nur die Frage zu untersuchen, ob unter den gegebenen Umständen und unter den gegebenen Bedingungen die uns durch den Vertrag zugemutete Leistung vom Standpunkt der Lebensinteressen des deutschen Volkes und der Sicherheit des deutschen Volkes sinnvoll und vertretbar ist. Für uns Deutsche in der Bundesrepublik liegt als einzigem Verhandlungspartner der EVG-Gemeinschaft aber noch ein lebenswichtiges Problem sozusagen im Vorfeld der Entscheidung über Annahme oder Ablehnung: das Problem der deutschen Einheit. Unser Land ist gespalten. Die Vereinigung Deutschlands in Freiheit und damit die Befreiung der 18 Millionen unserer Landsleute muß angesichts dieser nationalen Not das erste und vordringlichste Ziel unserer Politik sein. Es gibt kein vordringlicheres, weil wir und weil auch Europa nicht zum Frieden kommen wird ohne die Lösung der Frage der deutschen Einheit.
Gewiß, wir haben die Spaltung Deutschlands nicht verschuldet. Sie ist die Folge der Spannungen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion. Wir Deutsche können auf friedlichem Wege die Spaltung ohne eine Verständigung der vier Besatzungsmächte über das deutsche Problem auch
nicht überwinden. Aber es gibt trotzdem eine deutsche Verantwortung. Diese beginnt immer da, wo wir internationale Verpflichtungen eingehen, die nicht nur uns, sondern auch die Menschen in der Sowjetzone und in Berlin angehen.
Wir haben schon ein Beispiel, das ist der Schumanplan. Meine Damen und Herren, Sie von der Mehrheit des Bundestags haben damals eine schwere Verantwortung auf sich genommen, als Sie den Plan in voller Kenntnis der Tatsache angenommen haben, daß die Sowjetzone im Falle der Wiedervereinigung Deutschlands nicht automatisch ein Teil des Wirtschaftsgebiets der Montanunion wird. Wenn es zu einer Vereinigung Deutschlands kommt, werden Sie es zu verantworten haben, wenn sich aus dem Schumanplan-Vertrag ernste Schwierigkeiten für die wirtschaftliche Wiedervereinigung Deutschlands ergeben. Daß das keine theoretischen Befürchtungen sind, haben wir inzwischen an dem Beispiel der Saar erlebt. Die Aufrechterhaltung der Wirtschaftsunion zwischen Frankreich und der Saar ist für das erstere eine Voraussetzung für das Funktionieren der Montanunion, weil bei einer Rückkehr der Saar an Deutschland das wirtschaftliche Kräfteverhältnis in einer für Frankreich unerträglichen Weise zugunsten Deutschlands verschoben würde. Wahren Sie doch, meine Damen und Herren, in Ihrer Europa-Begeisterung angesichts dieser Erfahrungen etwas mehr gesunden Skeptizismus!
Nun aber zurück zu dem Verhältnis zwischen EVG-Vertrag und unserem Einheitsproblem. Die EVG ist eine militärische Verteidigungsgemeinschaft, die gegen eventuelle Angriffe Dritter gerichtet ist. Wenn wir ihr beitreten, gehen wir zum erstenmal aus freiem Entschluß in eine Militärunion, die von einer der Besatzungsmächte als gegen sich gerichtet betrachtet wird. Das ist die Tatsache, der wir klar ins Auge sehen müssen.
Meine Damen und Herren, da die Sowjetunion die volle Macht über die Sowjetzone Deutschlands ausübt, kann die Wirkung dieses Schrittes keine andere sein als die Verschärfung des volksdemokratischen Kurses einschließlich der Aufrüstung in der Sowjetzone. Die zweite unvermeidliche Folge ist eine Vertiefung der Spaltung Deutschlands. Beide Konsequenzen sind dann das Resultat auch einer deutschen Entscheidung, die allein bei uns liegt. Unsere Unterschrift unter den EVG-Vertrag ist die erste selbständige außenpolitische Handlung der Bundesrepublik, bei der die nachteiligen Folgen für die Sowjetzone Deutschlands mit Sicherheit vorauszusehen sind. Man muß schon mit dem Rücken gegen die Elbe und Berlin stehen, um solche Konsequenzen leichten Herzens auf sich nehmen zu können.
Sie sagen, es bleibe uns keine Wahl, es gebe keine Verständigung mit der Sowjetzone über eine freie und friedliche Vereinigung Deutschlands — Herr Strauß hat sich gerade über dieses Thema lange verbreitet —; aber ist denn diese Feststellung wirklich über jeden Zweifel erhaben? Haben Sie wirklich die hundertprozentige Sicherheit, daß Sie damit recht haben? Gewiß, der Notenwechsel zwischen den vier Besatzungsmächten ist noch nicht zu Ende, die Antwort der Sowjetunion auf die letzte Note steht noch aus, und die Chancen für einen Erfolg der Konferenz mögen gering sein; aber wenn wir uns vor der Klärung dieser Frage
jetzt endgültig für fünfzig Jahre binden, werden wir uns alle bei einem völligen Abbruch des Gesprächs immer wieder die Frage vorlegen müssen, ob nicht auch unsere Entscheidung zu diesem Abbruch beigetragen hat.
Und, meine Damen und Herren, diese Gewissensnot zu vermeiden, haben Sie nur so lange Zeit, wie Sie hier nicht fertige Tatsachen schaffen. Sie erweisen der Sache der deutschen Einheit deshalb nach unserer Überzeugung einen großen Dienst, wenn Sie nicht ratifizieren, bevor die Frage einer Viermächtekonferenz über Deutschland endgültig geklärt ist.
— Herr von Brentano, Sie antworten, die Sowjets werden verschleppen und inzwischen militärisch immer stärker und stärker werden. Meine Damen und Herren, die Balance der Rüstungen wird entscheidend allein bestimmt durch das Rüstungsverhältnis zwischen den USA und der Sowjetunion.
Jeder mögliche deutsche militärische Beitrag hier im Westen wird von den Sowjets durch gesteigerte Anstrengungen in ihrer Besatzungszone und in den Satellitenstaaten kompensiert werden.
Das ist doch die reale Situation.
Vergessen Sie doch in diesem Zusammenhang noch zwei andere Tatsachen nicht! Ich bitte Sie darum. Nicht alle Vertragspartner sind unbedingte Anhänger einer Politik der Wiederherstellung der deutschen Einheit.
Es gibt unter ihnen — Sie wissen es genau — auch die Auffassung, daß die_ Eingliederung eines Teils Deutschlands, nämlich der Bundesrepublik, in die westliche Verteidigung nicht nur einen militärischen Wert hat, sondern daß es auch das beste Mittel zur Aufrechterhaltung der Teilung Deutschlands wäre.
Das kann und darf nicht die Politik einer deutschen Regierung und des deutschen Parlaments sein!
Und die zweite Tatsache, meine Damen und Herren: die amerikanische Politik, die so stark auf das Zustandekommen der EVG drängt und die so laut den Notenwechsel über die deutsche Frage mit der Sowjetunion betreibt, hàt ein unendliches Maß von Geduld in den Waffenstillstandsverhandlungen von Korea bewiesen. Ich glaube, mit gutem Recht und mit guten Gründen. Die Ausweitung des Konflikts im Fernen Osten müßte unabsehbare Folgen haben. Schließlich kämpfen junge Menschen vieler Nationen der Vereinten Nationen jetzt schon in Korea einen opferreichen Kampf.
Aber gibt es da nicht auch eine Frage für uns? Haben wir angesichts dieser Lage nicht auch als Deutsche in der tragischen Situation der Spaltung unseres Landes die Pflicht, mindestens die gleiche Geduld aufzubringen und jede mögliche Anstrengung zu machen, um eine friedliche Regelung der Einheitsprobleme zu ermöglichen?
Hier ist ein Punkt, wo wir der Auffassung sind — und nichts kann uns in dieser Auffassung erschüttern —, es wäre im Zusammenhang mit der Diskussion über die Ratifizierung der Verträge die Pflicht der Bundesregierung gewesen, den Beschluß vom 10. Juli, den wir einstimmig gefaßt haben, zum Gegenstand einer aktiven Intervention bei den drei Westmächten in der Frage der deutschen Einheit zu machen.
Eines der abwegigsten Argumente ist das Argument der Stärke. Man sagt, mit den Sowjets könne man nur reden, wenn man stark sei. Ich habe diese Bemerkung sogar aus dem Munde des Bundeskanzlers in öffentlichen Kundgebungen gehört. Die Politik der Sowjetunion wird doch aber bestimmt nicht entscheidend beeinflußt etwa durch die Überlegung, man müsse mit der Bundesregierung verhandeln, weil wir zwölf Divisionen hinter uns haben.
Die Politik der Sowjetunion wird in erster Linie von dem Kräfteverhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion bestimmt. Und ich meine, wir sollten uns gerade in dieser Beziehung nicht wieder eine zu große Schuhnummer anziehen.
Fußkranke sind eine große Belastung für eine effektive Verteidigung.
Ich weiß, es gibt viele unserer Landsleute in der Sowjetzone, die geneigt sind, dem Argument der Stärke zu folgen, und der Herr Bundeskanzler ist sehr stolz auf solche Meinungsäußerungen. Aber wir können und wir dürfen die These „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende" nicht zum Grundsatz einer verantwortlichen Regierungs- und Staatspolitik erheben.
Meine Überzeugung ist: die wirkliche Gefahr, in die wir bei der Anwendung des Arguments der Stärke kommen
— dessen Anwendung Sie ja wohl nicht bestreiten, Herr von Brentano —, ist, daß wir in die Richtung einer Politik gedrängt werden,
die vor der Ausschöpfung aller Möglichkeiten für eine friedliche Lösung den Krieg für unvermeidlich hält.
Ich möchte nicht, daß die deutsche Politik in eine solche Position gerät, weil der Krieg das Ende wäre.
— Ich habe überhaupt nichts unterstellt, meine Damen und Herren.
Ich habe hier zum Ausdruck gebracht, daß wir nicht möchten, daß die Politik der Bundesrepublik in eine solche Gefahr gerät,
und ich glaube, wenn man solche Sorgen hat, hat man auch die Pflicht, sie hier auszusprechen.
Ich möchte noch etwas sagen über die Position der Bundesrepublik im Rahmen des EVG-Vertrags selbst. Der EVG-Vertrag ist natürlich nicht, entgegen aller Deklaration, der Beginn einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft aus der Idee der Schaffung einer von allen nationalen Vorurteilen freien übernationalen europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Der Vertrag ist entstanden, um das Verlangen nach deutschen Soldaten mit einem sehr starken französischen Sicherheitsbedürfnis gegenüber Deutschland in Übereinstimmung zu bringen.
Der französische Verteidigungsminster René Pleven
hat in einem Interview, das am 28. November in
der Zeitschrift „U.S. News and World Report" veröffentlicht wurde, auf die Frage, welche Ziele er
im Jahre 1950 als französischer Ministerpräsident
mit der Vorlage des sogenannten Pleven-Plans für
eine europäische Armee verfolgte, geantwortet: Die französische Regierung wünschte eine Lösung zu finden, die einen deutschen Beitrag für eine europäische Verteidigung möglich machte, aber unter gewissen wirksamen Sicherungen. Diese Sicherungen oder Garantien sind erforderlich für alle Nachbarn Deutschlands, die in der Vergangenheit unter dem deutschen Militarismus gelitten haben. Als wir die Bildung einer europäischen Armee vorschlugen, dachten wir nicht nur an Frankreich, sondern auch an Belgien, Holland, Österreich, Dänemark, Tschechoslowakei und Polen. Auch die Sowjetunion ist in der Vergangenheit ein Opfer deutscher Aggression geworden. Wir alle haben gelitten. Ich möchte hinzufügen, daß wir auch an das deutsche Volk gedacht haben. Alle Europäer brauchen Garantien gegen das Wiedererstehen des deutschen Militarismus und des deutschen Angriffsgeistes.
Und auf die Frage an Herrn Pleven, wie er den jetzt vorliegenden Vertrag beurteile, erklärt er kurz und knapp:
Der Vertrag ist trotz seiner Unzulänglichkeiten unvergleichlich besser als irgendeine Kontrolle, die in der Vergangenheit versucht wurde, um die deutschen Streitkräfte zu 'beschränken und in einem Rahmen zu halten, daß sie nicht wieder den Frieden gefährden können.
Das ist also die Partnerschaft in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft.
— Das ist eben nicht der Sinn der kollektiven Sicherheit!
Meine Damen und Herren! Ich will dieses Sicherheitsbedürfnis Frankreichs gar nicht untersuchen. Es hat sich aus sehr verständlichen Motiven entwickelt, und uns Deutschen steht es nicht an, darüber zu rechten. Aber hier werden wir ja nicht über unsere Meinung über die französische Politik gefragt. Wir werden aufgefordert zu sehr konkreten Leistungen für eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft, und mit dieser Aufforderung gewinnen wir das Recht zu einer freien Meinungsäußerung.
Es ist das Recht Frankreichs, eine solche Politik zu betreiben. Aber es ist unser Recht, im Rahmen einer solchen Politik unsere Position kritisch zu untersuchen. Es kann in einer solchen Konstellation Bedingungen geben, die uns bei aller Anerkennung der französischen Sorgen die Zustimmung einfach unmöglich machen, und der Fall liegt hier zweifellos vor.
Die deutsche Beteiligung an der EVG beruht nicht auf dem Prinzip der Gleichberechtigung. Der EVG-Vertrag bringt nicht die gleichmäßige und volle Ablösung der nationalen Streitkräfte durch die europäische Armee.
Andere Vertragspartner, vor allem Frankreich, behalten in Europa wesentliche Teile ihrer Streitkräfte zu ihrer nationalen Verfügung.
— Entschuldigen Sie! Es handelt sich um die Streitkräfte in Europa.
Die einzigen, die ihre Kontingente sozusagen mit Mann und Maus einzubringen haben, sind wir Deutsche. Die letzte Verfügungsgewalt über die Europa-Armee liegt nicht bei den Institutionen der EVG; sie liegt bei NATO, und wir sind nicht Mitglied von NATO. Die indirekte Vertretung ist kein Ausgleich für das vitale Interesse jeder Nation, an den strategischen Entscheidungen, die ja unter Umständen Entscheidungen über Leben und Tod unserer Soldaten sind, mitzuwirken.
Meine Damen und Herren! Wenn Sie jetzt den Verträgen zustimmen, dann stimmen Sie zu, daß die deutschen Kontingente und deutsche Menschen unter fremde Verfügungsgewalt ohne gleichberechtigte deutsche Mitwirkung gestellt werden.
Unter solchen Bedingungen kann man den Widerstand und die Skepsis der großen Mehrheit der deutschen Jugend gegen neue militärische Verpflichtungen einfach verstehen, und man muß sie in vollem Umfang teilen. Die Verteidigung eines freien Europas ist nur möglich auf der Basis der uneingeschränkten Gleichberechtigung aller Partner. Die Frage der Verteidigung und des deutschen Beitrags ist nicht von den Deutschen aufgeworfen worden. Diejenigen, die ihn für notwendig gehalten haben, müssen jetzt auch bereit sein, alle sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Anerkennung des deutschen Volkes in einer Gemeinschaft von Gleichen unter Gleichen zu akzeptieren.
Meine Damen und Herren! Es gibt noch andere Elemente, die uns daran hindern sollten, die Verträge zu ratifizieren. Es fehlt in dieser Gemeinschaft die erste Voraussetzung für eine effektive Verteidigung, nämlich das Vertrauen.
In Frankreich ist zur Zeit die Ratifizierung davon abhängig, daß Frankreich weitere Garantien bekommt, Garantien, die sich gegen Deutschland richten. Warum um alles in der Welt, meine Damen und Herren, warten wir nicht, bis wir wissen, unter welchen Bedingungen Frankreich, das mit so vielen Vorbehalten an die Ratifizierung geht, unter-
zeichnet? Warum wollen Sie nicht warten, bis- Sie die neuen Einschränkungen kennen, die die französische Regierung aushandeln muß, wenn sie eine Mehrheit in ihrem Parlament haben will?
Meine Damen und Herren, dann gibt es die sogenannte Ausbruchsklausel. Was halten Sie von einem Vertrag, den Frankreich nur annehmen will, wenn es gleichzeitig von den Vereinigten Staaten und von Großbritannien eine neue Garantie gegen Deutschland erlangt? Was ist das für eine Europa-Armee, in der sozusagen die Feldpolizei des einen Partners die Soldaten des anderen Partners zu überwachen hat!
Und das alles angesichts der Tatsache, daß Sie bis jetzt keine befriedigende und verbindliche Aufklärung darüber haben, in welchem Verhältnis Frankreich seine Verpflichtungen aus dem EVG-Vertrag in bezug auf den Bündnisvertrag mit der Sowjetunion sieht! Wenn in der Frage der Verteidigung schon von vornherein die Basis des gegenseitigen Vertrauens nicht gegeben ist, dann wird das Experiment in der Stunde der Gefahr mit Sicherheit scheitern müssen, und das Risiko des Versagens werden unsere Menschen zuerst und am schwersten zu tragen haben.
Es gibt noch ein anderes Problem. Der Herr Bundeskanzler hat kürzlich geradezu geschwärmt, als er von den Beratungen der sogenannten ad-hocVersammung für die Ausarbeitung einer europäischen Verfassung gesprochen hat. Er hat darin das eigentliche Kernstück seiner Europa-Politik gesehen, und vorgestern hat er hier erklärt, daß wir im Jahre 1953 die europäische Föderation haben werden. Diese Prophezeiung erinnerte mich an sein Wort in der Debatte über den Schumanplan, daß sich im Rahmen des Schumanplans die Saarfrage von selbst lösen werde.
Wir wissen, was daraus geworden ist.
Die Sache der europäischen Verfassung ist viel weniger romantisch und für uns viel weniger erfreulich. Die ad-hoc-Versammlung arbeitet ein Statut für eine dritte Hohe Behörde, nämlich für die politische Hohe Behörde, aus. Neben der Wirtschaft und neben der Verteidigung soll jetzt die Außenpolitik der sechs Länder koordiniert werden; und das geschieht wiederum auf Wunsch und auf Drängen des französischen Außenministers,
der diese politische Hohe Behörde vor der Entscheidung der französischen Nationalversammlung über die Verträge als zusätzliche Sicherung braucht, diesmal gegenüber der Gefahr einer selbständigen Außenpolitik der deutschen Bundesrepublik.
Meine Damen und Herren, das sind doch die Umstände und die Fakten, in die hinein diese ganze Organisation gelegt ist, und ich meine, es wäre besser, wir entschieden uns erst, wenn wir wüßten,
wie sich die Dinge in Frankreich entwickeln, und
wenn wir wüßten, wie das Statut der ad-hoc-Versammlung aussieht. Wir können doch nicht immer die Katze im Sack kaufen,
vor allem, nachdem wir doch schon früher erlebt haben, daß man uns statt der versprochenen Edelrasse eine ziemlich miese Promenadenmischung verkauft hat.
Man sagt: „Wir brauchen Sicherheit, wir haben keine Zeit, und wir können nicht länger schutzlos der Bedrohung aus dem Osten ausgesetzt sein." Keines der Argumente sticht. Die Frage unserer Sicherheit ist heute und für absehbare Zeit abhängig von der amerikanischen und britischen Politik in Europa. Beide wünschen ihre Truppen in Deutschland ablösen zu können durch deutsche Truppen, und wenn die Teilnahme der Bundesrepublik an der Verteidigung der europäischen Länder nach einem Scheitern einer Viermächtelösung die einzige Alternative bleibt, dann sind wir durchaus bereit, im Rahmen eines kollektiven Sicherheitssystems unseren Anteil zu leisten.
Aber diese Frage hat nichts zu tun mit der Sicherheit unseres Landes im gegenwärtigen Stadium der internationalen Entwicklung. Für absehbare Zeit nämlich, auch wenn die Verträge hier angenommen werden, ist unsere Sicherheit von der Stärke der amerikanischen und britischen Truppen auf deutschem Boden abhängig. In der Verteidigung des Status quo in Deutschland gegenüber der Sowjetunion gibt es außerdem eine sehr reale Interessengemeinschaft von Deutschland, Amerika und Großbritannien. Es sind sehr elementare britische und amerikanische Interessen,
die die beiden Völker hier auf deutschem Boden zu verteidigen haben.
— Selbstverständlich! — Außerdem sind andere Atlantikstaaten im Norden und Westen Europas vital an der Anwesenheit von amerikanischen und britischen Truppen in Deutschland interessiert; für sie steht und fällt mit dieser Anwesenheit der Sinn des Atlantikpaktes.
Außerdem: mit der Annahme des Vertrages im Bundestag ist ja über die Ratifizierung überhaupt nichts ausgesagt. Das ist nur die erste Phase. Selbst wenn er hier in Deutschland ratifiziert wird
— ob und unter welchen Bedingungen er in Frankreich ratifiziert wird, weiß niemand.
Und die überstürzte Annahme der Verträge im Bundestag
kann für Frankreich eher eine hemmende als eine fördernde Wirkung haben.
Auch der Termin der Ratifizierung in Italien ist ungewiß. Vor den Wahlen in Italien im April nächsten Jahres dürfte sie kaum erfolgen. In Belgien ist die Frage völlig offen. Aber wenn tatsächlich alle sechs Länder ratifizieren, was noch nicht sicher ist, dann wird der Vertrag Mitte nächsten Jahres in Kraft treten, und dann erst können Sie im Bundestag die Gesetze einbringen, die Sie
zur Durchführung des Vertrages in Deutschland brauchen.
Was bedeutet das alles in allem? Wenn es im besten Sinn nach Ihren Wünschen geht, können Sie im Herbst 1953 mit den eigentlichen Vorbereitungen für die Aufstellung des deutschen Kontingents beginnen. Das heißt aber, daß ein deutscher Verteidigungsbeitrag von irgendeiner Bedeutung nicht vor 1955 effektiv wird.
In dieser Lage — und das ist es, weshalb wir Ihnen das hier noch einmal sagen — kämpfen Sie um Termine, als ginge es um Stunden. Das ist nicht die Frage. Wir sollten und wir müßten angesichts der realen Möglichkeiten bereit sein, das zu tun, ehe wir uns entscheiden, von dem ich gesprochen habe, als ich über die Einheit sprach.
Es kommt noch etwas anderes hinzu. Wer sagt Ihnen denn, daß wir zu diesen 12 Divisionen in absehbarer Zeit kommen? Frankreich wird darauf bestehen, daß die Zahl der deutschen Divisionen stets geringer bleibt als die Zahl der Divisionen, die Frankreich aufzustellen bereit oder in der Lage ist, und das kann angesichts der schwierigen Lage, in der sich Frankreich befindet, für eine lange Zeit der Fall sein.
Es geht auch nicht einmal um die Zahl der Divisionen allein. Entscheidend ist doch Art und Umfang der Ausrüstung. Sie sind sicher mit uns der Meinung, daß in unserer Lage nur die modernste Ausrüstung akzeptabel ist. Sie hängt in erster Linie von amerikanischen oder von Lieferungen von Ländern der EVG ab. Der Lissaboner Plan der NATO vom Januar dieses Jahres wird nicht erfüllt werden. Die Leistungen bleiben weit hinter dem Plan zurück. Darüber hinaus gibt es noch eine Vereinbarung unter den Alliierten, daß die Ausrüstung der deutschen Divisionen erst erfolgen wird, wenn die Streitkräfte der anderen Nationen voll ausgerüstet sind. Außenminister Eden hat dazu im britischen Unterhaus aus Anlaß der Debatte über den Generalvertrag am 31. Juli 1952 erklärt:
Ich sehe nicht ein, weshalb eine Diskussion über die sogenannten Attlee-Bedingungen nötig sein soll. Wir haben sie schon früher diskutiert. Es besteht kein Widerspruch. Erstens muß die Aufrüstung der Atlantikpaktländer derjenigen Deutschlands vorausgehen—natürlich muß sie das —, und ebenso muß der Aufbau der Streitkräfte der demokratischen .Staaten dem der Streitkräfte Deutschlands vorausgehen.
Diese beiden Bedingungen stehen völlig im Einklang mit dem Geist der NATO-Beschlüsse, ,die im Jahre 1950 gefaßt wurden, als der Führer der Opposition dort war.
Das sind doch Tatsachen, die wir in dieser Diskussion aussprechen, kennen und in Rechnung stellen müssen, wenn wir übersehen wollen, was wir wirklich beschließen. Unsere Meinung ist: unter diesen Bedingungen den Vertrag annehmen und deutsche Kontingente aufstellen heißt, sie der Gefahr ausliefern, im Ernstfall die schlecht ausgerüstete Nachhut der anderen Partner der westlichen Verteidigung zu werden.
— Das ist die Konsequenz aus den Fakten, die ich Ihnen hier vorgetragen habe.
— Ich habe Ihnen die offizielle Mitteilung des britischen Außenministers verlesen und nichts anderes.
Jeder deutsche Verteidigungsbeitrag hat auch nur dann einen Sinn, wenn er eingebaut ist in einen strategischen Plan, der uns die Gewißheit gibt, daß im Ernstfall die Verteidigung mit dem vollen Gewicht der militärischen Stärke an der deutschen Grenze erfolgt. Bisher weiß niemand von dem Plan. Selbstverständlich kann er nicht auf offenem Markt diskutiert werden. Aber er muß der Regierung und den verantwortlichen Repräsentanten des Parlaments bekannt sein, wie es in jedem demokratischen Land üblich ist. Solange wir nicht wissen, ob im Ernstfall eine vernünftige Chance fur eine erfolgreiche Verteidigung unseres Landes und unserer Menschen gegeben ist, kann niemand mit gutem Gewissen ein Ja von uns verlangen.
Das ist die reale Situation, der Sie gegenüberstehen, wenn Sie den Vertrag in dieser Form und in diesem Zeitpunkt annehmen.
Dazu kommt noch etwas anderes. Dieses Experiment wird die einschneidendsten Folgen für das wirtschaftliche und soziale Gefüge unseres Landes haben. Wenn wir die deutsche Wirtschaft mit der Wirtschaft der anderen EVG-Länder koppeln, können wir den Trend der Industrieverlagerung nach dem Westen nicht aufhalten. Das heißt, daß wir aus militärischen und Sicherheitsgründen uns in den Notstandsgebieten an der Zonengrenze
und in den Hauptflüchtlingsländern eine offene Flanke im Kampf gegen die innere Zersetzung schaffen, daß Links- und Rechtsradikalismus frontal angreifen. Zweitens: Die Aufrüstung ist für jedes demokratische Land verbunden mit einem ständigen Kampf zwischen militärischen Ausgaben und sozialen Leistungen.
Bei uns aber ist diese Frage ein Kardinalproblem. Wir sind auf der sozialen Seite besonders anfällig. Die Ungleichheit der Lebensbedingungen als Folge der Wirtschaftspolitik der Regierung —
ist eine Schwächung des Verteidigungswillens, und
jede derartige Wirtschaftspolitik zugunsten des
Egoismus bestimmter Gesellschaftsschichten geht immer auf Kosten der Verteidigungskraft eines Volkes.
Darüber hinaus haben wir hier die besondere und unter den EVG-Staaten einmalige Lage der großen Verpflichtungen gegenüber der großen Zahl von Heimatvertriebenen und Kriegsopfern aller Art. Sie haben nach unserer Auffassung in der Diskussion über die Verteidigung der Freiheit und der Demokratie die Priorität Nr. 1.
Unsere erste Aufgabe im gegenwärtigen Stadium der internationalen Auseinandersetzungen zwischen Ost und West im sogenannten kalten Krieg ist die Steigerung der sozialen Leistungen und die Politik der sozialen Sicherheit für alle. Versagen wir hier, verlieren wir in der Bundesrepublik den kalten Krieg, dann helfen uns die bestausgerüsteten Divisionen nichts mehr.
Die Bedeutung der inneren Zersetzung eines Volkes als kriegsentscheidenden Faktor haben wir im letzten Kriege wirklich zur Genüge kennengelernt.
Die uns zugemutete finanzielle Leistung, noch dazu unter den gegebenen Bedingungen, ist unerfüllbar ohne eine fühlbare Senkung des Lebensstandards und ohne eine einschneidende Einschränkung der sozialen Leistungen.
Sie können nicht den unausweichlichen Aufwand von 40 Milliarden DM für die Erstausrüstung der 12 deutschen Divisionen in den nächsten drei Jahren einfach wegdiskutieren.
Die Annahme des Vertrages und seiner damit verbundenen finanziellen Verpflichtungen bedeutet nach unserer Auffassung die Preisgabe der Politik der Immunisierung des deutschen Volkes durch eine Politik der sozialen Sicherheit zugunsten eines rein militärischen, in seiner Bedeutung für die Sicherheit des deutschen Volkes zweifelhaften Beitrags. Das Resultat könnte der Verlust der Freiheit und der Demokratie sein. Dann haben wir vielleicht die Divisionen, aber wir haben das verloren, was allein verteidigungswert ist: Freiheit und Menschenwürde.
Meine Damen und Herren, wie immer man die Dinge betrachtet — ich komme zum Schluß — —.
Wir stehen hier, jeder von uns wie Sie mit der ungeteilten Verantwortung gegenüber allen unseren Menschen und gegenüber dem ganzen deutsch Volke, und ich hoffe, daß jeder von uns es sagen kann, daß wir die vor uns liegende Entscheidung nicht leicht nehmen.
Wir sind in einem Dilemma,
wir als deutsches Volk in der Bundesrepublik und die freien Völker in der Welt, mit denen wir uns verbunden fühlen und deren Sache auch unsere ist. Wir sehen uns, so wenige Jahre nach dem Zusammenbruch der Hitlerdiktatur, wieder einer neuen Bedrohung der Freiheit und der Demokratie gegenüber.
Wir denken wie Sie an die Bedrohung aus dem Osten,
und wir alle leben zu nahe an Prag und Warschau und Budapest,
um nicht zu wissen, welch tödliche Bedrohung der Freiheit und der Menschenwürde dort wirksam ist. Wir kämpfen und wir bangen um den Frieden. Die friedliche Lösung der Frage der deutschen Einheit wäre nicht nur die Befreiung der 18 Millionen Deutsche in der Sowjetzone, nicht nur eine Erfüllung der großen nationalen Aufgabe, die Einheit unseres Volkes wiederherzustellen; sie wäre auch ein großer Dienst für den Frieden und die Freiheit aller Völker.
So wie die Dinge liegen, bedeutet ein Verzicht auf die Ausschöpfung der letzten Möglichkeiten für eine solche Vier-Mächte-Konferenz
vor der endgültigen Eingliederung der Bundesrepublik in die westliche Verteidigung vielleicht einen Beitrag zur Verschüttung der letzten Möglichkeiten für die Aufrechterhaltung des Friedens. Es ist ein Vielleicht, aber es sollte uns gerade in dieser Stunde — ich sage es mit vollem Bewußtsein mit diesem Nachdruck — genügen, uns daran zu hindern, heute das zu tun, was wir morgen nicht mehr rückgängig machen können. Es geht nicht um
ein appeasement, es geht nicht um ein neues München, es geht darum, daß wir zum ersten Mal seit 1945 zu einer selbständigen außenpolitischen Entscheidung von diesem Ausmaß aufgerufen werden.
Morgen, wenn wir loyal gegenüber unseren Partnern sind — und wir wollen es sein —, sind wir in der Vertretung unseres besonderen Anliegens der Wiederherstellung der deutschen Einheit nicht mehr frei. Deshalb dieser Appell an die letzte Chance. Ich erwarte und ich verlange nicht, daß Sie diese Perspektive sofort und voll annehmen. Aber ich bitte Sie, lassen Sie uns aus diesem Grunde warten! Meine Freunde, die in der zweiten Lesung gesprochen haben, und ich selbst haben dargelegt, aus welchen konkreten Gründen wir nicht bereit sind, dem EVG-Vertrag unsere Zustimmung zu geben. Sie können nach Lage der Sache das Gewicht der Argumente nicht bestreiten, auch wenn Sie sie nicht teilen.
Aber Sie werden mich fragen: Welchen anderen Weg gibt es denn;
wir haben doch keine Wahl! Nun, meine Damen und Herren, da möchte ich Ihnen eines sagen: Befreien Sie sich doch endlich von der Vorstellung, daß es nur diesen einen Weg der Organisation von Europa und der Sicherheit für Deutschland gibt!
Es gibt mehrere Wege —
Es gibt mehrere Wege,
um zu dem gleichen Ziel und vielleicht effektiver zu kommen.
— Meine Damen und Herren, es ist sehr schwer, einen sachlichen Gedanken zu entwickeln, weil Sie es vor Ungeduld anscheinend gar nicht abwarten können. — Sie wissen, daß die Organisation von Europa auf dem Wege über die supranationalen Autoritäten zwangsläufig zum Abschluß von Großbritannien und Skandinavien geführt hat.
Die Bereitschaft Großbritanniens zur Zusammenarbeit mit der Monan-Union und der EVG löst das Problem nicht. Großbritannien übernimmt keine Verbindlichkeiten gegenüber irgendeiner supranationalen Einrichtung. So bleiben wir immer in der Gefahr einer neuen Spaltung des freien Europas, die wir alle nicht wünschen können.
Dieser Weg kann deshalb nicht zu einer umfassenden effektiven Organisierung der Einheit Europas führen.
Wir sollten einen neuen Start versuchen.
Vielleicht leben wir hier in Europa zu eng beieinander, und vielleicht sind wir zu sehr in unsere
Traditionen und in unsere Vorstellungen verstrickt.
Wir sollten, das ist unsere Auffassung, den Versuch einer echten Kooperation aller Völker auf einer höheren Ebene, auf einer wahrhaft internationalen Basis, über Europa hinaus, machen.