Rede von
Erich
Ollenhauer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese zweite Lesung der Verträge ist so ziemlich das Merkwürdigste, was wir bisher in
I) diesem Hause erlebt haben.
Die zweite Lesung soll den ausgesprochenen Zweck der Einzelberatung haben, aber der Herr Bundeskanzler hat gestern und vorgestern praktisch eine Rede gehalten, die die dritte Lesung vorwegzunehmen versuchte, und eben haben wir erlebt, daß der Herr Kollege Strauß, mindestens was die Länge seiner Rede angeht,
den Versuch gemacht hat, dem Beispiel des Herrn Bundeskanzlers zu folgen.
: Deswegen sind wir auf Sie so
— Herr Schröder, ich möchte Sie bitten, daß wir versuchen, miteinander so auszukommen, daß Sie verstehen, was ich hier sage. Sie haben ja die Möglichkeit, hinterher vor dem Hause Ihre Ansichten zu entwickeln. Sie werden aber verstehen, daß es ein berechtigtes Anliegen der Opposition ist, nach all dem, was wir hier an Angriffen erlebt haben, auch mit aller Eindeutigkeit unsere Meinung zu sagen.
Für uns ist der Ablauf dieser Tagung, dieser zweiten Lesung nicht nur wegen der Art, wie der
Herr Bundeskanzler sie eingeleitet hat, von besonderem Interesse, sondern auch wegen der Dinge, die sich gestern und heute im Zusammenhang mit der geplanten Verabschiedung der Verträge ereignet haben. Offensichtlich hat der Herr Bundeskanzler wieder einmal einen seiner einsamen Entschlüsse gefaßt.
Derselbe Herr Bundeskanzler, der seit dem Sommer dieses Jahres um Tage und Stunden für einen früheren Termin der Ratifizierung gekämpft hat, der noch in der vorigen Woche die Abstimmung über den Beratungstermin zu einer hochpolitischen Angelegenheit gemacht hat und der nach der Abstimmung stolz erklärte: Die Verträge werden noch im Dezember ratifiziert, hat gestern seine eigene Fraktion mit dem Vorschlag überfahren, die dritte Lesung auszusetzen.
— Nun, das spricht sich rum, Herr Wuermeling.
Bisher hieß es, wer die Ratifizierung der Verträge auch nur um einen Tag verzögert, gefährdet die Sicherheit der Bundesrepublik und Europas.
Heute ist die Hinausschiebung der Entscheidung der Weisheit letzter Schluß.
Die sozialdemokratische Fraktion ist für die Vertagung der dritten Lesung, weil diese Vertagung unserer Politik entspricht, und wir stehen hier vor dem seltenen Fall, daß wir uns in der Lage sehen, einem Wunsch des Herrn Bundeskanzlers zur Annahme zu verhelfen,
auch wenn es Ihnen nicht gelingen sollte, Ihre eigene Koalition völlig wieder auf Vordermann zu bringen.
Aber unser aufrichtiges Beileid gilt den Regierungsparteien, die so schnell und so heftig umschalten mußten;
für Sie ist die Lage wirklich nicht einfach, meine Damen und Herren, denn jedermann wird sich doch jetzt fragen: was sind Ihre Argumente gegen die Opposition wert, wenn man sie buchstäblich über Nacht durch eine neue Entscheidung über Bord wirft, nachdem man sie Monate hindurch mit aller Lautstärke und mit dem. Brustton tiefster Überzeugung verkündet hat?
Die Behauptung, die wir heute in der Presse lesen, man könne mit der dritten Lesung warten, weil die politische Entscheidung praktisch am Ende der zweiten Lesung falle, ist doch so kindlich bzw. setzt doch eine solche Mißachtung des gesunden Menschenverstandes im Volk voraus, daß man sich mit ihr nicht ernsthaft auseinandersetzen kann.
Erst die Abstimmung in der dritten Lesung bringt die verbindliche politische Entscheidung des Parlaments und nichts anderes.
Meine Damen und Herren, wenn es sich hier wirklich nur um die Herbeiführung einer objektiven Entscheidung handelte, hätten Sie diese Entscheidung mit uns gemeinsam schon vor einem Jahr herbeiführen können.
Aber die Art und Weise, wie nach den Presseberichten Ihr Antrag an das Bundesverfassungsgericht formuliert werden soll oder formuliert worden ist, läßt darauf schließen, daß Sie den Versuch machen wollen, mit Sicherheit eine Ihnen genehme Entscheidung herbeizuführen.
Dazu, meine Damen und Herren, lassen Sie mich Ihnen in allem Ernst ein offenes Wort sagen: das ist geradezu ein frevelhaftes Spiel mit dem Ansehen und der Autorität des obersten Gerichts der Bundesrepublik.
Im Interesse der Demokratie können wir nur die Hoffnung haben, daß das Bundesverfassungsgericht sich weigert, sich zu einem solchen Versuch herzugeben.
Aber was immer geschieht, meine Damen und Herren, Sie sind sich hoffentlich darüber klar, daß Sie mit diesen Manipulationen die moralische und politische Kraft der Verträge im Volke schon zerstört haben, ehe noch über ihre Annahme in diesem Hause entschieden worden ist.
Die Verträge sind auch sonst in einer den nationalen Interessen direkt widersprechenden Weise zum Gegenstand einer machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen Koalition und Opposition gemacht worden.
— Ich will es Ihnen sagen, warten Sie ab! Ich
werde heute keiner Frage ausweichen, die Sie uns 1 gestellt haben.
Die Rede des Herrn Bundeskanzlers von vorgestern war dafür das erschreckendste Beispiel. Er hat hier nicht als Repräsentant des ganzen Volkes gesprochen, er sprach als Parteimann.
— Ich hoffe, Sie verpfichten mich nicht, auf jeden Zwischenruf aus Ihrer Fraktion zu antworten.
Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß die Opposition der Sozialdemokratie gegen die Verträge von breiten Schichten des deutschen Volkes weit über unsere Wählerschaft hinaus mitgetragen wird.
Gerade die Anhänger eines deutschen Verteidigungsbeitrags in der jetzt vorliegenden Form müssen doch wissen, daß es eine effektive Verteidigung eines Volkes in einer Zeit, in der die Verteidigung mindestens im gleichen Maße eine militärische und politisch-psychologische Frage ist, nur gibt, wenn sie von der inneren Zustimmung der breitesten Schichten des Volkes, insbesondere der Jugend eines Volkes, getragen wird.
Meine Damen und Herren. Ihr Versuch. die Verträge mit einer knappen Mehrheit durchzusetzen,
bedeutet von vornherein die Zerstörung des notwendigen Vertrauensverhältnisses der breitesten Schichten des Volkes zu der geplanten militärischen Verteidigung.
Es gehört schon ein erstaunliches Maß von politischer Kurzsichtigkeit dazu, den Versuch auch nur zu machen, eine deutsche Verteidigungsorganisation gegen den Willen der großen Mehrheit der arbeitenden Menschen und der Jugend in Deutschland durchzusetzen.
Meine Damen und Herren, Sie haben durch Ihre Taktik eine Lage geschaffen, in der Sie eine Entscheidung für die Verträge mit einer schweren und weittragenden Vertrauenskrise der Demokratie erkaufen.
Und für welche positiven Möglichkeiten sind Sie dieses große Risiko eingegangen? Stehen hier die möglichen Vorteile in irgendeinem vertretbaren Verhältnis zu diesem von Ihnen zum Teil sachlich völlig unnötig provozierten Nachteil? Die Einzeldebatte der zweiten Lesung hat bisher schon nach meiner Auffassung ein klares Minus ergeben. Die These der Regierung ist: Der Generalvertrag be-
deutet die Rückgewinnung der deutschen Souveränität und den Beginn einer echten Partnerschaft der Bundesrepublik mit anderen westlichen Völkern. Nun, das ist nicht der Fall. Es ist z. B. mit dem Geist der Partnerschaft unvereinbar, daß der Generalvertrag erst wirksam wird, wenn wir den EVG-Vertrag angenommen haben. In einer freien Welt kann und darf man die demokratischen Grundrechte des einzelnen und der Völker nicht zum Handelsobjekt machen;
man hebt sonst selbst das Prinzip auf, für das man zu kämpfen vorgibt.
Das aber ist hier geschehen; denn wichtige souveräne Rechte behalten sich die drei Westmächte weiterhin vor. Das gilt vor allem — ich will nicht in die Einzelheiten gehen — für die Notstandsklausel und für den Art. 7 betreffend die Einheit Deutschlands.
Die Notstandsklausel ist, wie immer man sie ansieht und wie immer man sie zu entschärfen versucht, der Art. 48 der Weimarer Verfassung
mit dem verschärfenden Unterschied, daß er jetzt von den drei anderen Vertragspartnern gegenüber der Republik in Funktion gesetzt werden kann. Denn die Entscheidung darüber, ob der Notstand gegeben ist, liegt eben bei den drei anderen Verhandlungspartnern.
In bezug auf die Einheit Deutschlands legen wir — ich glaube, unbestrittenermaßen -- mit diesem Vertrag die Entscheidung über Initiativen und Aktionen zur Wiederherstellung der deutschen Einheit in Freiheit in die Hände der drei Westmächte. Der stärkste und sinnfälligste Ausdruck einer zurückgewonnenen oder zurückgegebenen Souveränität der Bundesrepublik müßte doch die Freiheit der Bundesrepublik sein, in Fragen der deutschen Einheit selber aktiv zu werden.
Das Gegenteil ist hier der Fall.
Man sagt: Wir standen nur vor der Wahl, diesen Generalvertrag anzunehmen oder den alten Zustand unter dem Besatzungsstatut -beizubehalten.—Die Zeit des Besatzungsregimes ist vorbei. Das ist nicht unser Verdienst als Deutsche, es ist die unausweichliche Konsequenz der internationalen Entwicklung nach 1947.
Die Ablehnung des Generalvertrags bedeutet nicht
Rückkehr zum Besatzungsstatut oder zu etwas noch
Schlechterem, wie der Herr Bundeskanzler meint.
Das Besatzungsstatut ist tot.
Das tatsächliche Verhältnis zwischen den drei westlichen Besatzungsmächten und uns beruht zur Zeit auf dem guten Willen der Beteiligten, miteinander auszukommen.
Man kann in der gegenwärtigen internationalen
Lage der Bundesrepublik Deutschland nicht die
Rechte verweigern, die man seit langem dem italienischen Volk gewährt hat, das schließlich auch unter Mussolini gezwungen wurde, den Krieg mitzumachen.
In Wirklichkeit ist die Lage so, daß wir mit der Annahme des Generalvertrags einen Status akzeptieren und durch Vertrag konservieren, der durch die Entwicklung bereits überholt ist.
Man sagt, wir könnten nicht hinter Großbritannien und den uSA zurückstehen, die den Generalvertrag längst ratifiziert haben. Nun, meine Damen und Herren, dieses Argument sollten Sie sich schenken. Beide Vertragsmächte wissen, daß die Zeit des Besatzungsregimes überholt ist. Mr. Eden hat das in der Debatte im Unterhaus über den Generalvertrag am 31. Juli 1952 ausdrücklich festgestellt. Es konnte daher für die anderen Vertragspartner keine günstigere Lösung geben als eine vertragliche Vereinbarung, in der sich die Bundesrepublik durch ihre Unterschrift verpflichtet, den drei Westmächten auch für die Zukunft weitgehende Eingriffsmöglichkeiten in die innen- und außenpolitischen Angelegenheiten Deutschlands zuzugestehen. Gewiß, wir brauchen eine Regelung unserer Beziehungen zu den drei Westmächten, solange ein Friedensvertrag mit Deutschland infolge der Differenzen zwischen den vier Besatzungsmächten nicht möglich ist. Aber diese Regelung muß eine friedensvertragsähnliche Regelung in der Richtung des Friedensvertrags mit Italien oder Japan sein, nicht aber eine vertragsmäßige Versteinerung von Vorrechten einer reinen Besatzungspolitik.
Wir schreiben jetzt Dezember 1952. Die Grundzüge des Generalvertrags haben die drei Westmachte vor zwei Jahren in Washington festgelegt. Damals schon waren die Beschlüsse ein mühsames Kompromiß zwischen der Notwendigkeit, einem zur Mitverteidigung aufgerufenen Volk größere Rechte zu geben und trotzdem wichtige Besatzungsvorrechte weiter beizubehalten. Dieses Kompromiß war in sich unmöglich, aber heute ist es außerdem durch die Entwicklung überholt. Seine Annahme durch den Deutschen Bundestag in diesem Zeitpunkt würde nichts anderes sein als ein Hemmnis in der unvermeidlichen Entwicklung der Beziehungen zwischen dem Westen und der Bundesrepublik zu einer echten Partnerschaft.
Es ist leichter, meine Damen und Herren, nach der Ablehnung eines Vertrages neu zu verhandeln, als einen angenommenen Vertrag zu revidieren.
Hier liegt der entscheidende Punkt! Auch Sie, meine Damen und Herren von der Mehrheit, können den Vertrag heute nur noch unter der Voraussetzung einer baldigen und durchgreifenden Revision annehmen.
Der Herr Bundeskanzler will lieber die Dynamik der Entwicklung an die Stelle der Revision setzen. Nun, ich glaube, das ist eine außerordentlich gefährliche Formulierung.
Bis jetzt war die These von der Dynamik der Entwicklung die Rechtfertigung von Diktaturen für ihre Politik der Gewalt und der Zerreißung von Verträgen.
Vor dem Hintergrund dieser historischen Erfahrungen ist ein Hinweis auf die Dynamik der Entwicklung ein geradezu tödlicher Stoß gegen denGlauben an die Vertragstreue!
Nach dieser öffentlichen Erklärung des Bundeskanzlers von gestern ist ein klares offenes Nein die einzige Möglichkeit, um zu verhindern, daß kommende Verhandlungen zwischen uns und den Westmächten mit einem alles zerstörenden Mißtrauen belastet werden.
Meine Damen und Herren, ich komme nun zu dem Kernstück, zum EVG-Vertrag. Gestatten Sie mir aber noch vorweg eine allgemeine Feststellung. Der Herr Bundeskanzler hat vorgestern auch die von ihm nicht bestrittenen Unzulänglichkeiten der Verträge damit zu erklären versucht, daß wir doch die Schuld Deutschlands am Hitlerkrieg nicht vergessen dürften und daß wir nicht vergessen dürften, daß uns in den Verhandlungen die Regierungen dreier Siegermächte gegenübergestanden hätten, während wir machtlose Besiegte seien. Pardon, Herr Bundeskanzler, wovon reden wir hier eigentlich?
Ist der EVG-Vertrag ein Vertrag zur Liquidierung des Hitlerkrieges, oder soll er nicht vielmehr — nach Ihren eigenen Worten — das Kernstück eines neuen, freien Europas sein, in dem wir als Partner unsere Rolle spielen sollen?
Wenn wir über den kommenden Friedensvertrag verhandeln werden, dann werden wir die Tatsachen des verlorenen Krieges und der deutschen Kriegsschuld, die uns das Hitlerregime auferlegt hat, in Rechnung zu stellen haben. Wir können und wir wollen unsere Verantwortung für diesen Teil der Geschichte unseres Volkes nicht 'verleugnen.
Hier aber und heute sprechen wir über die neue Phase der europäischen und internationalen Entwicklung, die uns vor die Frage stellt, ob und welchen Beitrag wir im Interesse unseres deutschen Volkes und im Interesse der freien Welt im Kampf gegen die Bedrohung durch den Totalitarismus leisten wollen.
In diesem Zusammenhang noch ein Wort im Hinblick auf die vorgestrige Rede des Herrn Bundeskanzlers. Geradezu gemeinschaftszerstörend
war im Zusammenhang mit der Diskussion über die Verträge die Formulierung des Herrn Bundeskanzlers, mit der Annahme oder Ablehnung der Verträge entscheide man sich für Freiheit oder Sklaverei.
Meine Damen und Herren und Herr Bundeskanzler! Damit unterstellen Sie den deutschen Sozial-
demokraten und 'darüber hinaus dem Millionen-
heer von Gegnern der Verträge im 'deutschen Volk, sie wählten mit ihrem Nein statt der Freiheit die Sklaverei.
Diese Unterstellung zeugt von einer solchen Arroganz gegenüber der Haltung einer anderen großen politischen Kraft im deutschen Volke, daß sie nur noch durch die Arroganz und Ignoranz eines Kaiser Wilhelm II. übertroffen worden ist, der davon gesprochen hat: Die 'Sozialdemokraten sind vaterlandslose Gesellen.
Herr Bundeskanzler, mit solchen Bemerkungen in einer solch lebenswichtigen Entscheidung reißen Sie eine Kluft in unserem Volke auf, die tödlich für die Demokratie und für die Freiheit werden kann.
Sie haben das Recht, Herr Bundskanzler, Ihre Politik mit allem Nachdruck zu vertreten, aber Sie haben nicht das Recht, die Gefühle und Überzeugungen eines großen Teils unseres Volkes in dieser Weise zu beleidigen und zu verdächtigen.
— Sie müssen nicht von sich auf andere schließen.
— Herr Rechenberg, ich wünschte, Sie wüßten, welche innere Überwindung es mich kostet, in einer solchen Lage in dieser Weise sprechen zu müssen. Aber da ist die Provokation!
— Das ist nun wieder eine alberne Bemerkung, Herr Strauß.
— Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir bitte, daß ich auf die Rede des Herrn Bundeskanzlers anworten kann, ohne dauernd in diesen Ausführungen unterbrochen zu werden.
— Wir haben den Herrn Bundeskanzler mit Ausnahme dieser Bemerkungen völlig ruhig angehört, und wir wünschen, daß wir wenigstens im Parlament dasselbe Recht haben wie Sie als Koalition.