Rede von
Dr.
Joachim
Schöne
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Befürworter von General- und EVG-Vertrag verbinden mit mehr Gefühl als Logik die These des abendländischen Motivs mit einer Tendenz der europäischen Wirtschaftsintegration. Mit entsprechend weniger Gefühl und entsprechend mehr Logik ist jedoch der Frage nachzugehen: Stellt die wirtschaftliche Konzeption der Verträge ein tragfähiges Fundament für das angesteuerte politische Ziel dar? Gestatten Sie mir, daß ich eine kurze Prüfung an Hand von zwei Fragen vornehme. Die erste Frage lautet: Wird auf dem wirtschaftlichen Gebiet das geschaffen und das erreicht, was politisch erstrebt wird? Und die zweite Frage: Wie steht es mit dem speziell ökonomischen Vergleich zwischen Aufwand und Nutzen? Wie steht es mit der Tragfähigkeit der deutschen Wirtschaft und des deutschen Sozialgefüges? Zu wessen Lasten? Zu gleichen Lasten? Ich bitte um Entschuldigung daß ich mich damit weit von der Fragestellung des Kollegen Naegel abhebe. Ich beschäftige mich nicht mit Reminiszenzen, sondern mit einem Vertragswerk.
— Herr Schröder, Ihnen möchte ich nur sagen: Ich habe außerordentlich bedauert, Ihre wertvolle Mitarbeit im Ausschuß nicht gehabt zu haben.
Ich habe Sie zwar zweimal gesehen, aber nur ganz kurz, und es tut mir leid, daß ich Ihre Argumente nicht verwenden kann.
Im Mittelpunkt der gesamten Verträge steht zweifellos der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Die EVG soll eine auf dem Grundsatz der Gleichheit integrierte Gemeinschaft sein. Entsprechend proklamiert Art. 3 des Vertrages die gleichmäßige Belastung aller Mitgliedstaaten und die optimale Verteilung der wirtschaftlichen Leistungen. In der Tat aber sind in dem ganzen Vertrag zwei Fragen ungeklärt, nämlich erstens die Frage: Woran soll man die gleichmäßige Belastung aller Mitgliedstaaten erkennen? und zweitens: Wie will man eine optimale Verteilung der wirtschaftlichen Leistungen vornehmen? Wie will man rechnen, wenn man keine gemeinsame Rechenbasis hat, die die einzelnen Volkswirtschaften und ihre Währungssysteme laufend und mit gleichen Maßstäben mißt? Man hat keine einheitliche Währung. Man hat keine ehrlichen Wechselkurse. Man nahm die Volkswirtschaften so, wie sie waren, mit ihren staatlichen Währungsmonopolen und mit ihrem unterschiedlichen Marktgebaren, mit Preisabreden, mit Marktvereinbarungen und mit ihren unterschiedlichen Wirtschafts- und Exportförderungsmaßnahmen.
Die ersten kritischen Bemerkungen können mit der einfachen Feststellung abgeschlossen werden, daß die so stark in den Vordergrund gestellten Gleichheitsgrundsätze in der Tat nur leere Formeln sein können, weil eine noch so gute und noch so objektiv arbeitende Exekutivstelle der Gemeinschaft einfach nicht in der Lage ist, nach dem Grundsatz der Gleichheit zu messen.
Um so bedeutungsvoller wird naturgemäß die Exekutivstelle selbst, die Exekutivstelle mit ihrem gütermäßigen Verplanen des Gesamthaushalts und mit ihrer Auftragsvergabe. Diese Exekutivstelle ist das Kommissariat. Aus der Tatsache, daß die Verträge auf eine erschöpfende Aufzählung der Produktionen und Dienstleistungen, die vom Kommissariat manipuliert werden können, verzichten, leitet man nun sehr oft her, daß es sich lediglich um eine geringfügige Wirtschaftstätigkeit des Kommissariats handle. Aber man darf in Erinnerung zurückrufen: es handelt sich um eine Verteidigungsgemeinschaft, die, wenn sie ernst genommen werden will, einfach nicht in knappster wirtschaftlicher Abgrenzung gesehen werden darf. Wir Deutschen und gerade wir Deutschen haben ja unsere Erfahrungen und wissen, daß die Rüstung weitere Rüstungen auslöst, und wir wissen, daß die ganze Wirtschaft eine Umstellung erfährt. Zweitens: die Formulierungen des Vertrags — ich zitiere — „gemeinsame Programme für Bewaffnung, Ausrüstung, laufende Versorgung und Wehrbauten" lassen jede beliebige Erweiterung auf dem Wirtschaftsgebiet zu. Drittens: der Art. 111 spricht von einer Planvorbereitung für die wirtschaftliche Mobilmachung der Mitgliedstaaten. Uns kommt dabei die Erinnerung an die Schein- und Schattenfabriken, an das Stellen von Reservekapazitäten an das Reservieren von Produktions- und Arbeitsstätten. Man wird also sagen müssen: Dem Umfang nach ist die Wirtschaftsarbeit des Kommissariats bedeutungsvoll; aber auch zeitlich, denn zeitlich gesehen handelt es sich um durchgreifende Eingriffe. Einmal ist das Vertragswerk zunächst auf zwei Generationen abgestellt, und zum andern soll diese Verteidigungsgemeinschaft mit modernem Rüstungsmaterial versehen werden, und die Erneuerung des modernen Rüstungsmaterials ist regelmäßig, wie Fachleute sagten, innerhalb von zwei bis drei Jahren notwendig. Sie dürfen also mit einer 33prozentigen Abschreibungsquote rechnen. Zusammenfassend darf ich sagen, daß es sich der Zeit und dem Umfang nach um wirtschaftliche Planungen handelt, die tief und wirkungsvoll in das Werden und Geschehen der einzelnen Volkswirtschaften eingreifen.
Dem Kommissariat wird nun durch den Vertrag zur Pflicht gemacht, die technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten aller Mitgliedstaaten aufs beste nutzbar zu machen. Die Wirtschaftskräfte des gesamten Raumes sollen optimal nutzbar gemacht werden. Dieser Grundsatz des Optimalen darf jedoch nicht wirtschaftlich verstanden werden, denn der Vertrag wird um einer gemeinsamen Verteidigung willen geschlossen, und die Verteidigungsgemeinschaft soll, wenn man sie richtig versteht, auf schnellstem Wege realisiert erscheinen. Das wirtschaftliche Optimum steht also ganz klar und deutlich im strategischen Dienst. Die regierungsseitige Auslegung ist auch entsprechend. Sie sagt, es handle sich darum, güterwirtschaftliche Möglichkeiten und finanzielle Beiträge der -Mitgliedstaaten mit dem militärischen Bedarf in Übereinstimmung zu bringen. Nun, die Feststellung der güterwirtschaftlichen Möglichkeiten, d. h. die Aufnahme des Bestandes an Produktionsmöglichkeiten, bedeutet für Deutschland von vornherein ein Handicap ernsten Maßes. Ich möchte nicht von den Behinderungen durch Demontage und Restitution sprechen, die die deutsche Wirtschaft ja nicht allein auf dem Rüstungsgebiet geschwächt haben — ich erinnere an die Kammfabrik —, und ich möchte nicht davon sprechen, daß sinngemäß die Reparationen und die Restitutionen eine Verjüngungskur in der französischen Wirtschaft herbeiführen, z. B. eine Verjüngung der Werkzeugmaschinen um fünf Jahre. Ich möchte nur abstellen auf die Bemerkungen des Vertrags selbst, und der Vertrag bestimmt hinsichtlich der Pulverlinie, daß bestimmte Investitionen in bestimmten Teilen Westdeutschlands verboten sind. Der Vertrag legt weiter für bestimmte Produktionen die Linie der „strategisch gefährdeten Gebiete" fest.
Der Herr Bundeskanzler hat am 7. Mai einen Brief geschrieben, in dem er Deutschland als strategisch exponiert liegendes Gebiet bezeichnet. Die Konsequenzen eines wirtschaftlichen Planens im strategischen Rahmen sind daraus leicht zu ersehen. In der Bestandsaufnahme und in der Einreihung in künftige güterwirtschaftliche Möglichkeiten schneidet also Deutschland verflucht schlecht ab. Die Übereinstimmung mit dem militärischen Bedarf wird nun so verstanden werden müssen, daß militärische Überlegungen die Ökonomie lenken. Ein Vertreter der Regierung sagte daher auch wörtlich im Ausschuß: „Bei der Aufstellung der Programme sind natürlich entscheidend die Forderungen der Militärs, die sich aus den taktischen und verteidigungsmäßigen Gesichtspunkten ergeben."
Mit dürren Worten: der militärische Bedarf in Verbindung mit den verteidigungsmäßigen Gegebenheiten und den strategischen Notwendigkeiten wird bestimmte und sicher sehr umfangreiche Rüstungen und versorgungswirtschaftliche Produktionen für das Gebiet der deutschen Volkswirtschaft nicht gestatten.
An dieser Tatsache ändert auch nichts der Hinweis darauf, daß die Programme im Benehmen mit den Regierungen aufgestellt werden sollen. Vielleicht haben wir es hier einmal mit der von Herrn Professor Hallstein so freudig hervorgehobenen „bewußt unklaren Fassung" zu tun. Im Vertrag steht nämlich „im Benehmen". Die Regierung sagt: „in ständiger Fühlungnahme". Wer hindert eigentlich das Kommissariat daran, zu sagen: „einfache Orientierung"? Daran hindert auch nicht der Hinweis darauf, daß grundsätzlich 100 %, mindestens jedoch 85 % der Beiträge in der betreffenden Volkswirtschaft verbleiben sollen. Strategisch gemessen, würde eine 100 %ige Auslastung der deutschen Volkswirtschaft die Belastung mit reichlich einseitigen Randproduktionen bedeuten. Eine 85 %-
ige Auslastung bedeutet eine 115 %ige an anderer, strategisch nicht exponierter Stelle.
Zusammenfassend darf ich sagen: Erstens: Das Überwiegen taktischer und verteidigungsmäßiger Gesichtspunkte bedeutet ein Verlagern industrieller Kraft von Ost nach West. Zweitens: In Verbindung mit der tiefgreifenden und lang anhaltenden Wirkung auf das Wirtschaftsleben bedeutet das Planen des Kommissariats eine allmähliche, aber sichere Schwerpunktverlagerung industrieller Kraft nach dem strategisch ungefährdeten Westen Europas.
Folgen diese für die deutsche Volkswirtschaft sehr bedeutsamen Wirkungen bereits aus der einfachen Tatsache, daß das Kommissariat nicht nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten planen kann, so findet die angedeutete Tendenz erst ihr richtiges Gewicht durch die aus den Verträgen ebenfalls deutlich herauskommende Tatsache, daß das Kommissariat dies gar nicht soll.
Zum Beweis dieser These möchte ich den Überleitungsvertrag heranziehen und nur zwei Beispiele anführen. Zunächst das Kartellgesetz. Es ist eine Tatsache, daß das besatzungsrechtliche Kartellverbot so lange in Kraft• bleibt, bis das deutsche Parlament ein Gesetz erlassen hat, dessen entscheidende Bestimmungen genau skizziert sind. Die Skizzierung der „entscheidenden Bestimmungen" wird von der Regierungsseite gern bestritten; aber bedeutet denn nicht die Auflage eines Kartellamtes von vornherein ein Verbotsgesetz? Macht man es sich denn nicht zu leicht, wenn man meint, mit der Institution eines Kartellamtes falle das Besatzungsrecht, und dann werde die Bahn für ein deutsches Gesetz frei, das man dann so setzen könne, wie man wolle? Warum glaubt man denn hier nicht an das sonst so gepriesene Schiedsgericht? Ist es nicht so, daß mit den „entscheidenden Bestimmungen" die deutche Wirtschaft bewußt in Fesseln gehalten werden soll?
Meine Damen und Herren, bei der Produktion der Bestimmungen des Überleitungsvertrags, so sagt man, haben sicher amerikanische Gedanken Pate gestanden. Ich bin der Meinung, es haben mehr europäische Konkurrenzsorgen Pate gestanden.
Es war den Vertretern der Regierung im Ausschuß nicht möglich, Beispiele der Kartellgesetzgebung aus anderen europäischen Ländern aufzuweisen.
Ich darf einiges aus eigenem Studium dazu sagen. In den Niederlanden kann das Ministerium Kartellabkommen ergänzen, abändern, aufheben oder für verbindlich erklären. Der belgische Entwurf
I) sieht lediglich eine Überwachung vor, um gegen Mißbräuche wirtschaftlicher Macht vorzugehen. Der französische Entwurf statuiert die allgemeine Zulässigkeit von Marktvereinbarungen und sieht im Falle von Verstößen gegen das öffentliche Interesse ein Einschreiten des Kartellrates vor.
Mit dem Deutschland aufgezwungenen Kartellgesetz will man doch nichts anderes als die Verhältnisse der deutschen Märkte möglichst unübersichtlich gestalten; man will die objektiven Plandaten verwischen.
Als zweites Beispiel aus dem Überleitungsvertrag einige Bemerkungen zu den dort vorhandenen Bestimmungen über das Gesetz Nr. 27. Wie im Schumanplan, wird das Dekartellisierungsgesetz der deutschen Schwerindustrie durch den Überleitungsvertrag noch einmal zementiert. Zunächst verdient die Tatsache Aufmerksamkeit, daß das Gesetz Nr 27 überhaupt noch einmal vertraglich behandelt wird.
Zum Inhalt selbst darf ich sagen, daß genau das, was die Opposition anläßlich der Schumanplan-Beratung dazu sagte, in vollem Umfang unwiderlegbar und bis zur Stunde unwiderlegt bleibt. Nur sagte damals McCloy in der Zusammenkunft mit Gewerkschaftlern in Frankfurt:
Mit dem Odium der Durchführung des Gesetzes Nr. 27 wollen wir nicht die Hohe Behörde belasten. Das mag die Hohe Kommission tun.
Heute muß man sagen: Mit dem Überleitungsvertrag verpflichtet sich die deutsche Bundesregierung zur weiteren Duldung und Mitwirkung bis zur Durchführung des Gesetzes Nr. 27. Mit dürren
Worten: Die Bundesregierung nimmt freiwillig dieses Odium auf sich.
Sollte dies etwa dadurch schmackhafter gemacht worden sein, daß mit dem Überleitungsvertrag der Aktientausch legalisiert wird? Ist man sich nicht der Tatsache bewußt, daß die Zwangssatzungen für die deutschen Eisen- und Kohlengesellschaften bestehen bleiben und daß die Beschränkungen des Aktienbesitzes in Verbindung mit einem „günstigen" Sperrmarkkurs zu einer Entnationalisierung der deutschen Grundindustrie zwingen? Wäre es nicht viel europäischer und im Dienste aufrichtiger Integration besser gewesen, wenn man die europäische Eisenwirtschaft nicht mit zweierlei Maß gemessen hätte, wenn man nicht auf der einen Seite eine zerissene Verbundwirtschaft zementiert und es auf der anderen Seite nicht begrüßt hätte, daß sich fast zur selben Stunde zwei französische Stahlfirmen zum Zwecke der Steigerung der Konkurrenzfähigkeit auf dem Edelstahlgebiet zusammenschließen?
Welche Kluft zwischen Nationalwirtschaften wird
hier aufgerissen und soll hier zementiert werden!
Meine Damen und Herren! Die deutsche Wirtschaft soll gebunden, soll zurückgehalten werden. Das Kommissariat kann nicht ökonomisch planen und soll nicht so planen können; es muß strategisch planen. Hierzu sagt die Bundesregierung in ihrer Begründung: „Zur echten Partnerschaft gehören wechselseitiges Vertrauen und allseitige Freiheit der Entscheidung und des Handelns."
Man sagt, glaube ich, kürzer und besser: Die Bundesrepublik soll in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung gehemmt und gefesselt werden. Sie soll auf das langsame Marschtempo der schwachen Partner herabgedrückt werden.
Das Kommissariat soll jedoch nicht nur planen und Programme gestalten; es soll auch die Vergabe und Kontrolle der Aufträge vornehmen. Das Kommissariat ist ein Auftraggeber von erheblichem Gewicht und von besonderer Art. Daher verpflichten sich die Mitgliedstaaten und somit auch Deutschland durch Vertrag, alle allgemeinen und besonderen Maßnahmen zu treffen, die Entscheidungen und auch die Empfehlungen des Kommissariats durchzuführen.
Zu diesen Maßnahmen gehört — nun bitte ich Herrn Naegel als Propheten der sozialen Marktwirtschaft besonders aufmerksam zu sein —: erstens: Der Erlaß eines Bundesleistungsgesetzes ist nach dem Überleitungsvertrag, nach dem EVG-Vertrag zwingend. Der Tatbestand ist ganz einfach. Wir haben im Ausschuß festgestellt: 16 Monate hat die Abstimmung zwischen zwei Referenten zweier Bundesministerien über die Grundsätze dieses Entwurfs gedauert.
Bis zur Stunde steht nicht einmal ein abgestimmter Referentenentwurf zur Verfügung. Wir haben uns im Ausschuß darüber also gar nicht unterhalten können. Dabei weiß jede Gemeinde, jeder Handwerker, jeder Landwirt, jeder Gewerbetreibende, was ein Leistungsgesetz bedeutet.
Als zweites: Das Wirtschaftssicherungsgesetz soll und muß nach den bestehenden Vertragsbestim-
inungen erweitert werden. Nun, Herr Naegel, eine kleine Panne. Das Wirtschaftssicherungsgesetz wurde vor anderthalb Jahren erstmalig beraten.
Da war es gerade Herr Naegel, der im Ausschuß sagte; Negativlisten, d. h. also Verwendungsverbote von Roh- und Hilfsstoffen, sind noch Mittel der Sozialen Marktwirtschaft. Herr Professor Erhard konnte nicht eingreifen, weil er damals auch nicht da war.
Positivlisten dagegen, so wurde von Herrn Naegel interpretiert, d. h. Verwendungsgebote von Roh-und Hilfsstoffen, stehen außerhalb des Katalogs der Sozialen Marktwirtschaft. Nun, meine Damen und Herren, Verwendungsgebote bedeuten Produktionsauflagen. Der Vertrag verlangt ganz klar und eindeutig die Erweiterung des bestehenden Wirtschaftssicherungsgesetzes um Verwendungsgebote. Das bedeutet den Anfang eines Güterbewirtschaftungsgesetzes, bedeutet den Anfang der Zuteilung von Roh- und Hilfsstoffen an bestimmte Produktionen. _So steht es mit der Sozialen Marktwirtschaft, auf die hoffentlich die Soldaten der EVG nicht vereidigt werden sollen, Herr Naegel!
Im Zuge der Auflagen aus dem EVG-Vertrag feiern demnach zwangswirtschaftliche Bestimmungen fröhliche Urständ, ohne daß der Herr Bundeswirtschaftsminister, der eigentlich für diese Tatsache seine Leiche versprochen hatte, dadurch Schaden an seiner Seele nähme.
Nun, meine Damen und Herren, ich muß ein drittes Beispiel dieses Zwanges noch hinzufügen. Herr Naegel hat sich mit sehr lauter Stimme dagegen gewehrt, daß Lenkungsmaßnahmen für die Arbeitskräfte durchgeführt würden. Er hat festgestellt, daß Dienstverpflichtungen weit von uns gewiesen werden müßten und daß davon nichts im Vertrage stünde. Ich darf auf die Bestimmungen des Truppenvertrags Art. 44 und Art. 37 hinweisen. Ich möchte nichts weiter dazu anführen als das, was ein Regierungsvertreter im Ausschuß für Wirtschaftspolitik dazu selbst ausführte: Regierungsvertreter gaben zu, daß das Vorhandensein von Gesetzen über eine Dienstpflicht — das war ja das „böse Wort" von Herrn Naegel —
in den alliierten Ländern dazu führen könne, daß die Partner des Generalvertrags eine entsprechende Gesetzgebung von Deutschland verlangen könnten. Sehen Sie, meine Damen und Herren, nichts hilft es hier, zu beschönigen. Das ist die einfache Tatsache. Herr Naegel, wenn Sie Zeit haben, lesen Sie bitte noch einmal die Verträge genau! Das erstreckt sich nicht nur auf die Arbeitskräfte, die bei den Besatzungsmächten als Hilfspersonal tätig sind, sondern auf die gesamten Arbeitskräfte der gesamten deutschen Wirtschaft.
Nun, Programme der Auftragsvergabe des Kommissariats stehen, wie ich darlegte, im Dienste militärisch-strategischer Notwendigkeiten. Diese militärisch-strategischen Notwendigkeiten bedeuten ein Weniger für Deutschland und innerhalb Deutschlands, ganz klar und deutlich eine Verlagerung der industriellen Kraft von Ost nach West. Damit wird eine Tendenz verstärkt, die Ihnen allen bekannt ist und die so gern verschwiegen wird.
Ich darf Ihnen für Niedersachsen die Zahlen nennen. Die Abwanderung der gewerblichen und industriellen Betriebe aus Niedersachsen betrug 1949 nahezu 300, 1950 600, 1951 517 und im Zuge des Ausweichens des britischen Hauptquartiers von Oeynhausen nach Mönchen-Gladbach werden es 1952 wahrscheinlich noch mehr sein.
Diese Tendenz der Verödung und Entleerung der Gebiete der deutschen Mitte findet selbstverständlich ihr Gegenstück in der Zentralisierung der Produktion im strategisch nicht gefährdeten, nicht einmal exponierten Westen Europas.
Die zweite Frage war die nach der Tragfähigkeit 'der deutschen Wirtschaft, die ökonomische Frage: Aufwand und Nutzen, welche Lasten für uns, wie ist die Verteilung 'der Lasten bei uns und bei den anderen. Sicher, man wird nicht genau in D-Mark rechnen können, und man soll es auch nicht tun. Aber man soll auch nicht lässig bequem von einer Versicherungspolice reden. Man soll die Frage nach der Tragfähigkeit der deutschen Wirtschaft und des deutschen Sozialgefüges stellen. Die Regierung ging erstens von der Annahme aus, die Zuwachsrate des Sozialprodukts um 4% pro Jahr würde eine solche Belastung tragen können; zweitens war die im EVG-Vertrag erwartete konjunkturelle Befruchtung in diesen 4 % enthalten. Der schöne Ausdruck „Befruchtung" stammt aus dem OEEC-Bericht und nicht von mir.
— Damit kann ich Ihnen auch aufwarten, Herr Stücklen. — Auf diesen Größen aufbauend, war die Regierung der Meinung, daß die Kosten für diese „Versicherungspolice "aus dem laufenden Zuwachs, also ohne eine 'Beeinträchtigung der Konsumrate getragen werden könnten. Nun, meine Damen und Herren, es ist ganz interessant: Herr Professor Erhard hat in Ulm erklärt, daß der Verteidigungsbeitrag aus dem Steigen des Sozialprodukts spielend bestritten werden könne.
Aber zur gleichen Zeit veröffentlichte der Deutsche
Gewerkschaftsbund eine 'eingehende Untersuchung
über die Tragfähigkeit und schrieb darin:
Selbst wenn das Sozialprodukt in diesem und im nächsten Jahr noch einmal um je 5 v. H. steigen sollte, können bei einer notwendigen und wahrscheinlichen Ausweitung der Investitionen um 10 v. H. die privaten Verbrauchsausgaben und sozialen und sonstigen Leistungen der öffentlichen Hand nicht mehr steigen.
Die Gewissenhaftigkeit der Untersuchung auf der einen und der anderen Seite ist beachtenswert; das steht in vollstem Zusammenhang mit dem Artikel in der heutigen „Welt" über die Vertragsunkenntnis des Herrn Bundeswirtschaftsministers anläßlich der Sitzung des Ministerrats in Luxemburg.
Nun, in der Zwischenzeit haben sich jedoch einige Kalkulationsfehler herausgestellt. Es hat sich nämlich erstens die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß die Rüstung 'keine Eintagsfliege ist und daß man, wirtschaftlich gesehen, auf lange Zeit investitionsmäßig festgelegt ist und daß die Kosten der Rüstung, wenn sie einmal angelaufen ist, die Tendenz zur Ausweitung in sich haben. Zweitens hat sich bei der Regierung die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß
die Fortschrittsrate von 4 % sicher einer zu optimistischen Betrachtung entsprungen ist. Im Gegensatz zu den mit großer Lautstärke von Herrn Naegel vorgetragenen Argumenten darf ich hier ganz bescheiden zitieren, was das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung am 5. 9. 1952 schreibt — das wissen Sie übrigens alle, meine Damen und Herren, weil Sie diese Berichte regelmäßig bekommen und lesen —:
Die Verflachung des wirtschaftlichen Aufstiegs ... sollte von den für die Wirtschaftspolitik verantwortlichen Stellen als ernstes Warnsignal gewertet werden . . . Es droht die Gefahr, daß der nach der Produktionskapazität an sich mögliche Umfang des Sozialprodukts wesentlich unterschritten wird. Dies würde volkswirtschaftliche Verluste von jährlich einigen Milliarden DM bedeuten, insbesondere würde die Aufbringung des in Aussicht genommenen „Verteidigungsbeitrages" auf Schwierigkeiten stoßen.
Nun, die Zusammenfassung dieser Erkenntnisse
bedeutet einfach, daß -die EVG-Leistungen zu
Lasten der Konsumrate gehen werden. Die nähere
Betrachtung zeigt erstens, daß für die deutsche
Volkswirtschaft die natürliche Fortschrittsrate entfällt, daß die Wirtschaft an sich schon zurückbleibt.
— Ihre volkswirtschaftlichen Kenntnisse in allen Ehren; aber Sie dürfen sich niemals auf die Zahlen der letzten vierzehn Tage stützen. Das zweite: das Anzapfen der Konsumrate bedeutet eine Preiserhöhung für die Konsumgüter und damit die Not-wendigkeit der Abwälzung der Lasten auf die sozial schwachen Schichten. Man nennt diese ja gern die „breiten Schultern". Da darf ich aus dem Bulletin Nr. 74/52 — vielleicht ist das auch schon überholt? zitieren:
Es besteht Übereinstimmung, daß ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung des Bundesgebietes nicht in der Lage ist, sich so zu ernähren, wie es zur Erhaltung seiner Gesundheit und Leistungsfähigkeit erforderlich wäre.
Weiter ist leider zu erwarten, daß die soziale Lage dieser Bevölkerungskreise sich in naher Zukunft nicht entscheidend bessern wird.
Vielleicht gehört das allerdings auch zu den „relativen Kleinigkeiten" des Vertrags, wie der Herr
Bundeskanzler meinte.
Meine Damen und Herren, neben wirtschaftliche Entleerung der Gebiete der deutschen Mitte tritt eine soziale Verelendung. Diese wird sich in allererster Linie in Notstandsgebieten der deutschen Wirtschaft zeigen.
Wie es mit dem Elend der Notstandsgebiete steht, darf ich Ihnen nach den Angaben des Bundesarbeitsministeriums schildern — ich glaube, daß die Zahlen nicht überholt sind, sondern noch bestehen
—, wonach in den östlichen Zonengrenzgebieten sich 80% der gesamten Arbeitslosen, 80 % der gesamten Notstandsarbeiter, 50 % der gesamten Kurzarbeiter und 75 % der gesamten Fürsorgeempfänger befinden.
Aber vielleicht wird für sie die Erträglichkeit der Belastung hinsichtlich des sozialen Gefüges etwas leichter, wenn sie daran denken, daß es ja bestimmt eine Gruppe von Menschen in Deutschland gibt, die durchaus bereit ist, diese Versicherungspolice zu zahlen, weil Rüstungswirtschaft immer schon ein einigermaßen einträgliches Geschäft war.
Zwei Fragen wurden als Grundsätze der Kritik herausgestellt. Erstens: Führt das Vertragswerk zu einer wirklichen europäischen Integration?
— Ich komme darauf zurück! — Die Erkenntnis lautet: Tiefer und stärker werdendes Gefälle der Wirtschaft von West nach Ost.
Zweitens: Bringt das Vertragswerk eine gleichmäßige Belastung oder unterschiedlichen Aufwand und Ertrag?