: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, daß die Millionen Hörer, die jetzt vor ihren Rundfunkapparaten gesessen haben
und der Rede des Abgeordneten Arndt zugehört haben,
auch das Wort gehört haben, daß man „mit Schlauheit und listiger Deutelei" eine Verfassung nicht interpretieren könne.
Meine Damen und Herren, genau dieser Vorwurf ist es, den ich der Art Verfassungsinterpretation, die Herr Dr. Arndt seit Jahr und Tag vorzunehmen beliebt, mache.
Ich habe mir, bevor Herr Dr. Arndt heute abend hier gesprochen hat,
vorgenommen, mich an dieser Stelle heute nicht in das Detail der Vertragswerke zu begeben — sofern dies notwendig ist, wird das mein Freund Dr. Kopf tun —, sondern mich grundsätzlich mit jenen politischen, pseudorechtlichen, scheinrechtlichen und halbrechtlichen Argumenten auseinanderzusetzen, die immer und immer wieder von seiten unserer politischen Gegner vorgetragen werden, wenn es sich um die Auslegung des Grundgesetzes handelt.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, ernsthaft eine Frage zu prüfen. Seitdem der Streit um diese Verfassung in deutschen Landen aufgeflammt ist, haben sich die ersten Persönlichkeiten der
deutschen Staatsrechtswissenschaft zur Verfügung gestellt — hüben wie drüben —
und haben uns ihre Meinung über diese Verfassung und darüber, wie sie auszulegen sei, gesagt. Schon der Respekt, den der Jurist vor seinen Kollegen, die große Namen im deutschen Staatsrecht haben, haben sollte, hätte ihn hindern müssen, ihnen zum Vorwurf zu machen, daß sie Schlauheit und listige Deutelei an die Stelle echter juristischer Auslegung setzten.
Aber lassen Sie mich sagen,
um was es bei dieser heftigen Auseinandersetzung wirklich geht.
— Sie bekommen die Argumente zu hören, wenn Sie erst einmal versuchen, mich ausreden zu lassen, wie wir Ihren Herrn Kollegen Arndt haben ausreden lassen.
Ich stelle eine Frage voran. Meine Damen und Herren, glaubt jemand in diesem Saal ernsthaft, daß, wenn wir im Jahre 1949 einen Wahlerfolg der Sozialdemokratie erlebt und eine sozialdemokratische Mehrheit in diesem Bundestag und eine sozialdemokratisch geführte Regierung bekommen hätten, wir jemals etwas von dieser Art der Auslegung des Grundgesetzes gehört hätten, die praktisch darauf hinausläuft, die politische Bewegungsfreiheit der Regierung mit allen Mitteln zu beschränken?
Wir hätten mit Sicherheit, so wie wir die sozialdemokratische Opposition kennen, erlebt, daß sie jede taktische Möglichkeit,
ihre eigene Handlungsfreiheit zu erweitern, benutzt hätte. Und dies ohne Bedenken!
Es geht hier nicht um Verfassungsauslegung, sondern es geht hier um einen politischen Kampf von seiten der Sozialdemokratie.
Man will nur das deutsche Volk glauben machen, daß es um eine Rechtsinterpretation gehe.
Meine Damen und Herren, die Wahlen zum Bundestag im Jahre 1949 waren deswegen von so großer Bedeutung, weil mit jenen Wahlen die grundsätzliche politische Prägung des neuen Staatswesens entschieden worden ist. Aus diesem Grunde hat die Sozialdemokratie ihre Niederlage bei jenen Wahlen niemals verwunden
und hat jenes Ergebnis, so demokratisch eindeutig es auch war, niemals innerlich anerkannt.
Aus dieser Haltung der Sozialdemokratie erklären sich die ungewöhnliche Leidenschaft ihrer Opposition die ganzen Jahre hindurch und zwei Ziele, die sie sich Besetz hat.
Das erste Ziel war — und ein führender Vertreter der Sozialdemokratie hat mir das schon nach vier Wochen in diesem Bundestag erklärt —, daß dieser Bundestag und die Regierung unter allen Umständen vorzeitig beendet werden müßten,
solange dies nicht gelänge, würde man mit allen Mitteln die politische Bewegungsfreiheit dieser Regierung einschränken.
— Ich kann es Ihnen sagen, wenn Sie wollen. — Es lag der sozialdemokratischen Opposition nahe, diesen Kampf auch durch schroff einengende Auslegung des Grundgesetzes zu führen.
Dieser Versuch, die politische Bewegungsfreiheit der Regierung dadurch einzuschränken, daß man sagt, das Grundgesetz habe nur eine provisorische und fragmentarische Bedeutung
und erlaube der Regierung nicht, dies und jenes zu tun, ist von der Sozialdemokratie natürlich aus ihrem politischen Willen heraus unternommen worden, die Regierung, wenn es irgendwie ginge, nicht zum Zuge kommen zu lassen.
So stehen sich nun die Thesen, aus dieser politischen Situation heraus entstanden, gegenüber. Das Grundgesetz ist entstanden in einer Zeit weitgreifenden Besatzungsrechts, in welcher die deutsche Souveränität ruhte und viele wichtige Zuständigkeiten nicht den deutschen, sondern Organen der Besatzungsmacht zustanden.
Darum mußte das Grundgesetz, wenn es vernünftig angelegt war, auf die Tatsache Rücksicht nehmen, daß im allmählich zu erwartenden Abbau des Besatzungsrechts deutsche Zuständigkeiten wieder auflebten und daß dann nicht Mal für Mal, wie jetzt behauptet wird, eine Ergänzung des Verfassungsrechts notwendig wurde.
Vielmehr mußte, was da auflebte, unmittelbar anwendbares deutsches Verfassungsrecht werden.
Wenn man etwa den Schöpfern des Grundgesetzes, den Männern und Frauen des Parlamentarischen Rates, unterstellen wollte, daß sie das Grundgesetz nur auf den kümmerlichen Leib der damaligen staatsrechtlichen Verhältnisse zugeschnitten hätten und nicht auf den mit Sicherheit zu erwartenden Zuwachs, dann wäre das auch für deutsche Verhältnisse eine unbegreifliche Wirklichkeitsferne gewesen.
Die Auslegung der Verhandlungen des Parlamentarischen Rats wird von der Opposition sehr einseitig und unrichtig vorgenommen.
Es ist nicht so, wie der Herr Kollege Arndt gesagt hat, daß man damals z. B. den ganzen Wehrkomplex nicht geregelt habe, weil man an das Deutschland östlich des Eisernen Vorhangs gedacht habe.
Man hat es nicht getan, weil damals einfach nach Lage des Besatzungsrechts eine Regelung der Wehrhoheit nicht möglich war.
Weder die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes noch seine Anlage berechtigen zu der Annahme, die die Sozialdemokratie uns immer wieder nahelegen will.
— Ihr Ärger beweist mir, daß der Tag nicht so schlecht ist!
— Ich komme gleich darauf, Herr Greve! — Man mag einwenden, daß es das gute Recht einer Opposition sei, bei allen ihren Bestrebungen danach zu trachten, daß ihre Position gestärkt wird. Das würde auch niemand übelnehmen, selbst nicht bei dem politischen Versuch der Verfassungsausdeutung. Aber, meine Damen und Herren — und ich bitte, hören Sie mich wirklich einmal mit Ruhe an —,
dann muß man das in einer Sprache tun, die wir noch ernst nehmen können und die nicht die öffentliche Meinung vergiftet!
Wir haben heute abend aus dem Munde des Herrn Abgeordneten Dr. Arndt wieder jene jakobinisch-anklägerischen Worte gehört,
die er immer in den Mund nimmt, wenn er hier heraufkommt, um über solche Fragen zu reden.
Ich will nur eine kleine Blütenlese aus seiner heutigen Rede veranstalten: Wir von der Koalition sind „mutwillig" diesen Weg gegangen und haben dadurch eine „katastrophale Verfassungsnot" heraufgeführt;
wir „verachten das Volk und die Demokratie",
und der Bundeskanzler hat bei seiner gestrigen Rede „einen Haß bis über das Grab hinaus bekundet".
Das Wort „Staatsstreich" ist wieder gefallen!
Meine Damen und Herren, ich habe das Glück, zurückgreifen zu können auf ähnliche Äußerungen des Herrn Dr. Arndt in der 18. Sitzung des Bundestags am 24. November 1949. Damals ging es um das Petersberger Abkommen. Herr Dr. Arndt hat damals gesagt:
In Wahrheit handelt es sich um nichts anderes als um ein neues Glied in der Kette der Versuche der permanenten Ausschaltung des Parlaments, des Unterfangens, Verfassungskämpfe durch autoritären Handstreich zu gewinnen.
— Warten Sie, meine Herren! — Herr Dr. Arndt hat damals weiter gesagt:
Was heute hier zur Debatte und zur Abstimmung steht; ist nichts anderes als die Probe dessen, ob das Grundgesetz ein Fetzen Papier ist ....
Das war die Sprache damals. Damit sollte das Petersberger Abkommen madig gemacht werden. Das Bundesverfassungsgericht hat inzwischen entschieden,
es hat erklärt, daß wir Rechtens gehandelt haben!
Ich hatte auch damals — wenn Sie meine damaligen Ausführungen nachlesen — Herrn Dr. Arndt und den Seinen nie das Recht bestritten, Zweifel an der Rechtmäßigkeit unserer Maßnahmen zu erheben. Das war ihr gutes Recht. Aber wir wehren uns ein für allemal dagegen, daß es in dieser anklägerischen Form geschieht, die uns bei jeder Gelegenheit des flagranten Verfassungsbruchs, des Unrechts und der Mutwilligkeit beschuldigt.
Herr Dr. Arndt hat in der vergangenen Woche erneut geglaubt, wieder einmal sagen zu müssen, das Abwarten des Gutachtens sei — nicht etwa zweckmäßig, nicht etwa ratsam, nein — „eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit", und wenn diese verfassungsrechtliche Notwendigkeit verletzt wor-
den sei, dann sei wieder einmal das Opfer die Demokratie.
Da wir nun einmal bei dieser Generalabrechnung sind, kann ich mir auch nicht versagen, die Worte zu zitieren, die Herr Dr. Arndt in der letzten Sitzung des Rechtsausschusses nicht nur seinen Kollegen, nicht nur uns, sondern nach dem Wortlaut auch ganz klar den Richtern des Bundesverfassungsgerichts warnend zugerufen hat. Soeben hat er die Redner getadelt, die angeblich derartige Warnungen nach Karlsruhe gerichtet haben sollen.
— Ich kann Ihnen genau sagen, was Sie gesagt haben, Herr Kollege Arndt. Sie sind auf das Petersberger Abkommen eingegangen. Sie haben gesagt, das Bundesverfassungsgericht habe entschieden, leider habe es sich geirrt;
man müsse einen solchen Irrtum eben allenfalls in Kauf nehmen und sich ihm beugen. Aber in dieser Frage sind sie fortgefahren:
Ich will Ihnen ganz klar sagen, ich für meinen Teil würde das Regime, das durch diese Verträge begründet wird, mit der gleichen Leidenschaft und mit der gleichen Empörung ablehnen, wie ich das nationalsozialistische Regime abgelehnt habe.
Herr Kollege Dr. Arndt fuhr dann fort:
Das ist dann keine Opposition mehr gegen eine jeweilige Regierung, — —
— Herr Renner, Ihnen fällt auch gar nichts Neues ein!
Herr Kollege Dr. Arndt sagte dann:
Das ist dann keine Opposition mehr gegen eine jeweilige Regierung, gegen die man Mißtrauen hat, sondern zu dem Staat, der hier geschaffen werden soll, gehöre ich nicht mehr dazu.
Ich hoffe, daß diese Auffassung des Herrn Kollegen Dr. Arndt wirklich nicht von seiner Fraktion geteilt wird. Wo kämen wir in diesem Lande hin, wenn wir versuchten, die Mehrheitsentscheidung, die nun einmal die demokratische Entscheidung ist, verhindern zu wollen?
Eine Auseinandersetzung darüber, ob eine Mehrheitsentscheidung genüge oder ob eine Verfassungsänderung oder eine Auflösung des Bundestages notwendig sei, kann man in anderer Sprache führen.
Wie ist nun die Lage in Wahrheit?
— Ich rede zu den Verträgen, nämlich dazu, wie man diese Verträge zu interpretieren hat und wie man sie eben nicht zu interpretieren hat!
— Ihr Widerspruch beweist mir nur, wie sehr Sie sich getroffen fühlen.
Als die Regierung die Verhandlungen über die Verträge begann, konnte sie besten Glaubens handeln. Das Grundgesetz selbst, die Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, die inzwischen erschienene verfassungsrechtliche Literatur — alle konnten der Bundesregierung die Überzeugung vermitteln, daß sich die Verträge, die sie da abzuschließen im Begriff war, in voller Übereinstimmung mit unserem Verfassungsrecht befanden.
Ich habe schon darauf hingewiesen, daß wir inzwischen eine große Zahl juristischer Fachgelehrter gehört haben, und es ist, sowohl was die Zahl dieser Gelehrten als was ihre Qualität als Rechtswissenschaftler anlangt, so, daß die Bundesregierung sich in keiner schlechten Position befindet,
und es ist ein sehr billiges Argument, von diesen Rechtsgelehrten immer nur als von den „Gutachtern der Bundesregierung" zu sprechen.
Das sind nicht einseitige Prozeßvertreter, sondern das sind Rechtswissenschaftler, die mit diesen Gutachten ihren guten Namen aufs Spiel gesetzt haben.
— Herr Kollege Greve, Sie kommen doch auch noch dran; Sie können mir doch noch zur Genüge antworten.
In unserer Bevölkerung wird ja gern immer wieder gefragt: Worüber können denn Juristen nicht streiten? Nun ja, es ist so, und gerade auf dem Gebiet des Verfassungsrechts ist es so. Aber die Juristen selbst sind nicht daran schuld; die Jurisprudenz nimmt eben teil an der allgemeinen Geistes- und Kulturkrise unserer Zeit,
und weil es so ist, wird die Frage auch der Auslegung einer konkreten Verfassung zu einem so außerordentlich schwierigen Problem, bei dem man sich hüten müßte, den eigenen Standpunkt immer wieder als ganz unanfechtbar hinzustellen.
Es geht doch um eine viel zu ernste Sache, als daß wir so miteinander verhandeln dürften.
Welche Fragen entstehen auf dem Gebiet? Was ist Recht, was ist der Staat, was ist die Verfassung, was ist das Wesen und die Aufgabe des Staates, wo liegen die Grenzen der Staatsgewalt?
Und diese Krise wirkt sich doch so stark aus, daß
wir überhaupt keine gemeinsame Methode der
Verfassungsauslegung haben. Jedem Juristen des öffentlichen Rechts ist es bekannt, daß es in der jungen deutschen Staatsrechtswissenschaft zu einer solchen gemeinsamen Methode noch nicht gereicht hat. Wenn ich Zeit hätte, würde ich Innen vorlesen, was etwa Rudolf Smend über diese Dinge gesagt hat: daß in Deutschland im Gegensatz zu der angelsächsischen Welt diese Tradition noch nicht begründet worden ist, daß wir Deutsche, meistens von der Einzelbestimmung ausgehend. naiv-formalistisch zu entscheiden streben und den Rest dann allzu gern politisch ergänzen, während man im großen angelsächsischen Rechtsraum aus dem Geist des Ganzen, Gesunden und Volkstümlichen seit mehr als zwei Jahrhunderten entscheidet.
Ich kenne einige Gutachten der Gegenseite. Drei davon sind so, daß sie sich methodisch völlig ausschließen, daß sie, obwohl sie äußerlich zum selben Ergebnis kommen, sich gegenseitig im Ergebnis aufheben. Denn es ist doch klar, meine Damen und Herren: wenn der eine Rechtsgelehrte sagt: mit der Methode des andern läßt sich ein vertretbares wissenschaftliches Ergebnis nicht Gewinnen — und das wird tatsächlich von dem einen gegen den andern gesagt —, dann heben diese Gutachten und ihre Ergebnisse sich gegenseitig auf. Man kann mit einer solchen Methode keine echten Ergebnisse gewinnen.
— Aber das ist Geisteswissenschaft und Jurisprudenz!
Herr Greve, Sie sind doch Jurist, und Sie sollten
der erste sein, der bei diesen Dingen zuhört!
Wir haben in der Weimarer Zeit die außerordentliche Schwierigkeit einer derartigen Verfassungsinterpretation erlebt. Wir alle, die wir damals noch in juristischen Seminaren saßen, haben uns doch damit herumschlagen müssen. Wir haben in Deutschland leider Gottes auch nicht, was man in anderen Ländern hat: eine lange begründete sichere Lehre und eine Geborgenheit in der Tradition einer jahrhundertealten gerichtlichen Praxis. Alles ist neu, alles ist unsicher, alles ist auf die persönlichen Thesen und Hypothesen einzelner Staatsrechtslehrer abgestellt.
Diese Not - und es handelt sich hier um eine echte Not — wurde zur Weimarer Zeit durchaus gespürt. Damals hat der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich in einem bekanntgewordenen Fall, in dem es um die Prüfung der Verfassungsgültigkeit eines preußischen Landeswahlgesetzes ging, in Erkenntnis der mangelnden Interpretationsmittel für die Erkundung des Verfassungswillens wie folgt entschieden. Er sagte — ich darf es mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten vorlesen, es sind nur wenige Sätze —:
Den Entschließungen des Gesetzgebers kann der Staatsgerichtshof, wenn überhaupt, so doch jedenfalls nur dann entgegentreten, wenn sie offensichtlich der inneren Rechtfertigung entbehren und wenn von ihnen deshalb mit Sicherheit gesagt werden kann, daß sie dem zum Ausdruck gelangten Willen des Verfassungsgesetzgebers zuwiderlaufen.
Ich will hier nicht etwa eine Mahnung nach Karlsruhe hin richten. In Karlsruhe muß man sich dieser Schwierigkeiten ja selbst bewußt sein und muß zusehen, wie man ihrer Herr wird. Ich will damit nur darauf hindeuten, daß es bei der Verfassungsinterpretation tausendfach Unsicherheiten, Zweifel, Unklarheiten gibt und daß es noch keine Methode logizistisch-mathematischer Exaktheit gibt, die uns sagt: Das eine ist richtig, das andere ist falsch.
— O nein! Er hat sich von seinen Gutachtern und Sachbearbeitern sehr sorgfältig beraten lassen, von Sachkennern des einschlägigen Rechtsgebietes, bevor er seine Entscheidungen traf.
Eine besondere Schwierigkeit bereitet bei dieser ganzen Auslegung die berühmte Trennung von Rechtsfragen und politischen Fragen. Einer der Gutachter der SPD sagt ganz offen und klar, dem Bundesverfassungsgericht lägen — wörtlich — „die großen politischen Entscheidungen in juristischer Verkleidung" vor. „Die großen politischen Entscheidungen in juristischerVerkleidung"!, dieses Wort ist außerordentlich gefährlich.
Das Bundesverfassungsgericht hat jedenfalls im Südweststaat-Prozeß gesagt — und es hat dies im Anschluß an Anschütz und andere gesagt —, daß es nur über Rechtsfragen und über nichts sonst zu entscheiden habe.
Hieraus, meine Damen und Herren, ergibt sich das Problem einer immanenten inneren Begrenzung der Verfassungsauslegung. Wo man mit den Mitteln der bloßen Rechtsinterpretation nicht mehr weiterkommt, muß man eben haltmachen, und wenn es nicht anders geht, zu einem non liquet kommen — ich kann mich weder so noch so entscheiden — und muß dann, wie das der Staatsgerichtshof getan hat, die Entscheidung den politischen Instanzen überlassen, die dafür die Verantwortung tragen.
Natürlich kann man eine Verfassung politisch interpretieren; und das, meine Damen und Herren, was uns Herr Kollege Arndt hier, abgesehen von seinen hyperpolemischen Ausführungen, vorgetragen hat, war weitreichend keine rechtliche Interpretation der Verfassung, sondern eine politische.
Niemand von uns verwehrt der Opposition diese politische Interpretation der Verfassung. Eine Verfassung kann, je nachdem ich Föderalist bin oder Zentralist oder Sozialist oder Liberaler — eine Verfassung gar unserer Art, die den bekannten Kompromißcharakter hat —, natürlich politisch verschieden ausgelegt werden.
Aber diese Auslegung ist etwas ganz anderes als die Auslegung, die jemand treffen muß, der zu jener furchtbaren Verantwortung aufgerufen ist zu sagen: Von hier ab entscheide ich: dieses ist recht und jenes unrecht!
Vor dieser Entscheidung stehen die Richter des Bundesverfassungsgerichts.
Wo sich Rechtsfragen und politische Fragen nicht trennen lassen, sollte man äußerste Vorsicht walten lassen und sollte bescheiden genug sein, sich zu sagen: ich mag zwar meinen Standpunkt mir selber einigermaßen plausibel begründen können; aber den Rest, den ich aus meinem politischen Willen heraus hinzufügen muß, kann ich nur als Politiker hinzufügen! Und diese Aufgabe kann ich auch nicht einem Verfassungsgericht übertragen. Sonst würde die Verfassungsgerichtsbarkeit in deutschen Landen zerstört und die Politik mit ihr.
Meine Damen und Herren! Wir haben große Beispiele der Verfassungsauslegung, — zwar nicht in der kurzen Zeit der modernen deutschen rechtsstaatlichen 'Demokratie — ich habe eines davon genannt —, aber drüben in der Neuen Welt, in den Vereinigten Staaten von Amerika, gibt es schon seit zwei Jahrhunderten eine solche große Rechtstradition. Wie dort die Verfassung von den dazu berufenen Gerichten interpretiert wird, das darf ich mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten in wenigen Zitaten, die aus unmittelbaren amerikanischen Quellen und vor allen Dingen aus berühmt gewordenen Gerichtsentscheidungen stammen, kurz vorlesen.
Das erste Zitat:
Die Gerichte unseres Landes
— der Vereinigten Staaten —
zeigen sich entschlossen, unseren geschriebenen Verfassungsgesetzen durch Auslegung die Elastizität zu verleihen,
die sie mit den öffentlichen Interessen, wie die Gerichte sie sehen, in Übereinstimmung bringt. Ihre Bestimmungen werden im Wege der Auslegung laufend ausgedehnt und ausgeweitet, um den fortschreitenden und sich steigernden Lebensbedürfnissen gerecht zu werden.
Das zweite Zitat:
Das Gericht wünscht nicht, sich dieser engherzigen Auslegung der Verfassung anzuschließen, welche Zuständigkeiten leugnen würde, die nach dem gewöhnlichen SprachSinn begründet werden, und welche die Regierung lahmlegen würde
— im Urtext heißt es: verkrüppeln würde —
und sie außerstande setzte, die Aufgaben zu erfüllen, für die sie geschaffen wurde, während sie doch in der Lage wäre, diese Aufgaben zu erfüllen, wenn man nur die Zuständigkeitsfragen richtig versteht.
— Oh nein! Diese Rechtsprechung der Vereinigten Staaten hat noch niemand in dieser Welt angegriffen, sie sei nicht demokratisch-rechtsstaatlich, außer den Trabanten Moskaus!
Und das dritte Zitat:
Das ist auch so ausgedrückt worden, daß eine Verfassung dem Geiste nach auszulegen ist, welcher belebt, und nicht nach dem Buchstaben, welcher tötet.
Meine Damen und Herren! Diese Art der Verfassungsauslegung kann uns ein Vorbild sein:
Der Geist und nicht der tötende Buchstabe.
Herr Kollege Arndt! Sie haben heute früh zitiert, daß Ihr Kollege Herr Professor Schmid seine Äußerung im Parlamentarischen Rat über das System der kollektiven Sicherheit so verstehe — wenn nicht damals so verstanden habe —, daß von einem System kollektiver Sicherheit nur gesprochen werden könne, wenn in ihm auch der virtuelle, der mögliche Angreifer selbst eingeschlossen sei. Sie haben deswegen gesagt, das System der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft sei kein kollektives Sicherheitssystem. Ja, meine Damen und Herren, haben wir hier nicht von allem Anfang an und immer wieder erklärt, daß diese Europäische Verteidigungsgemeinschaft keineswegs nur gegen eine Bedrohung vom Osten her geschlossen worden ist, sondern deswegen, weil wir in Europa reinen Tisch machen wollen und auch die unter uns, die einmal virtuelle Angreifer sein könnten, zusammenführen wollten zu einem Frieden?
Haben wir nicht immer wieder erklärt, daß wir dieses neue Europa auch geschaffen hätten ohne die Bedrohung von Osten her und daß diese Bedrohung von Osten her diese unsere Arbeit nur beschleunigen kann?
Sie haben also, meine Damen und Herren — und ich hoffe, daß mich auch die einfachen Leute dabei verstehen —, durchaus Möglichkeiten einer Verfassungsauslegung,
die haltbar, hieb- und stichfest ist, wenn man nur guten Willens ist.
Auch wir und gerade wir bejahen den demokratischen Rechtsstaat. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich bezweifle nicht, daß dieser Wille auch in Ihren Reihen herrscht. Aber sollte es Sie nicht nachdenklich machen, daß immer wieder in den Fragen, um die es jetzt geht, wenn Sie hier auftreten, einer von da drüben — etwa der bewährte, unverdrossene Vorkämpfer des Rechtsstaates wie unser Kollege Renner — an Ihrer Seite steht und das Wort ergreift?
Ich konnte angesichts der Sprache, die die Opposition bei der Frage der Verfassungsauslegung gegen uns führt, einer Sprache, die wir unstatthaft, unwahr und nun wirklich für die Demokratie gefährlich nennen müssen, nicht schweigen.
Von einem flagranten Verfassungsbruch durch den Abschluß der großen Verträge kann keine Rede sein.
Ich habe die Schwierigkeiten, wie es nicht anders möglich war, in skizzenhafter Form darzustellen versucht. Aber wir sind auch überzeugt und getrosten Mutes, daß auch eine verborgene Verfassungsverletzung in den Verträgen nicht enthalten ist, jedenfalls keine, die das Schicksal der Vertragswerke selbst in Frage stellen könnte.
Einer der Gutachter der Gegenseite hat darauf hingewiesen, daß wir in einer Zeit gewaltig sich verwandelnder staats- und völkerrechtlicher Verhältnisse leben, und er hat gesagt, daß in dem rapiden Prozeß, den wir da durchmachen, die alten Verfassungen sich anpassen und, so meinte er, durch Verfassungsänderung ergänzt werden müßten. Er hat aber nicht sehen wollen, daß es in diesem Europa nicht nur alte Verfassungen — hundert Jahre alte oder fünfzig Jahre alte oder noch ältere — gibt, sondern daß es drei neue Verfassungen gibt, geschaffen nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, geboren aus den Leiden dieses Weltkrieges — es sind die französische, die italienische und das deutsche Grundgesetz —, und allen, die dabei mitgewirkt haben, wird es eines Tages zum Ruhme gereichen. Diese Verfassungen haben > von vornherein ins Auge gefaßt den Abbau der staatlichen Souveränität, der nach diesen Gutachten das Kriterium der alten Verfassung sein soll, zugunsten eines Systems der kollektiven Sicherheit. Feierlich hat das Grundgesetz in seiner Präambel die Freiheit Deutschlands in einem vereinten Europa verkündet. Die Artikel 24, 25 und 26 des Grundgesetzes haben ein breites und weites Tor für das System der kollektiven Sicherheit geöffnet. Das Grundgesetz ist kein Gesetz, das sich diesen Verhältnissen erst durch eine Verfassungsergänzung anpassen müßte; das Beste an ihm ist, daß es dies von Anfang an getan hat.
Gewiß, wir haben die Rechtsfrage nicht zu entscheiden; sie liegt in anderen Händen. Meine Damen und Herren, bedenken Sie noch einmal diese Frage und nehmen Sie es mir wirklich ab, um was es geht!
— Nicht Sie dort drüben; Sie anderen alle! Es geht in diesen Zeiten darum, nicht mit kleinlichen Bedenken eine große Aufgabe zu versäumen. Erst jüngst hat ein bedeutender Autor darauf aufmerksam gemacht — es ist nicht das erste Mal geschehen —, daß alle Hochkulturen der vergangenen Jahrtausende immer wieder dadurch zugrunde gegangen sind, daß sie innerlich und äußerlich gegen den Ansturm von außen her nicht gerüstet waren. In dieser Situation steht die letzte Hochkultur, die wir kennen, die abendländische.
Dieser Autor schließt damit: Ob unsere eigene
abendländische Kultur endlich diese Verteidigungsfähigkeit in ausreichendem Maße besitzt, das ist die große Schicksalsfrage, die die Weltgeschichte eben jetzt an uns stellt. So gnade uns Gott, daß wir diese Frage nicht überhören!