Meine Damen und Herren! So kommt es, daß Art. 24 in den Mittelpunkt der Erörterungen rückte. Art. 24 ermöglicht es bekanntlich der Bundesrepublik, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Organe zu übertragen und sich einem kollektiven Sicherheitssystem im Wege des einfachen Bundesgesetzes einzuordnen. Wir haben uns im Rechtsausschuß mit der Frage befaßt, ob dieser Art. 24 Abs. 1 hier überhaupt Anwendung finden könne. Es war hier der Begriff der Übertragung der Hoheitsbefugnisse zweifelhaft. Die Mehrheit hat darauf hingewiesen, daß nach der allgemeinen Rechtslehre der abgeleitete Rechtserwerb, der sogenannte derivative Rechtserwerb nicht nur dann vorliegt, wenn derjenige, der ein Recht hat, gerade dieses Recht überträgt, sondern auch, wenn er zugunsten eines anderen Abspaltungen von seiner umfassenden Rechtsposition vornimmt, die nachher als Belastungen dieser l Rechtsposition erscheinen.
Der wichtigste Punkt ist natürlich der Abs. 2, das kollektive Sicherheitssystem. Zunächst: was ist der Begriff der kollektiven Sicherheit? — Wir von der Mehrheit haben den Standpunkt vertreten, daß mit Rücksicht auf die internationale Entwicklung des Kriegsverhütungsrechtes vor allem in der Organisation der Vereinten Nationen auch Verträge von der vorliegenden Art als kollektive Sicherheitsverträge angesehen werden können, zumal sich diese Verträge bewußt dem Gesamtsystem der UNO einordnen.
Der Begriff der zwischenstaatlichen Einrichtung war ebenfalls Gegenstand langer Erörterungen. Es ist natürlich außerordentlich schwer, von diesen rechtlichen Erwägungen hier wirklich einen Begriff zu vermitteln. Ich nehme an, daß Sie diesen Punkt in idem Bericht auf Seite 34 nachgelesen haben. Ehe ich nun zu den Einzelfragen komme, möchte ich noch auf die Ergebnisse unserer letzten Sitzung im Rechtsausschuß eingehen, über die in dem Schriftlichen Bericht noch nicht berichtet werden konnte.
Es handelt sich darum, daß die Vertreter der Minderheit unseren Versuch, die Motive des Parlamentarischen Rates auszuschöpfen, kritisierten. In der Tat war diese Ausschöpfung der Motive des Parlamentarischen Rates von Anfang an ein schwieriges Unterfangen. Zunächst verwahrten sich die sozialdemokratischen Abgeordneten gegen die Unterstellung, die Wehrfrage sei aus Rücksicht auf die Besatzungsmächte nicht expressis verbis in den Zuständigkeitskatalog der Bundesgesetzgebung aufgenommen worden, und hoben hervor, daß es ihre Absicht gewesen sei, das junge Staatswesen nicht von vornherein dem Vorwurf auszusetzen, es solle der deutsche Militarismus wieder zum Leben erweckt werden. Als ich dann im Mehrheitsgutachten daraus die Folgerung zog, daß bei einer deutschen Teilnahme an internationalen Verteidigungsanstrengungen und bei der Teilnahme an einer internationalen Armee dieser Einwand ja entfallen müsse, wurde auch gegen diese Version protestiert und die gesamtdeutsche Situation als ihr Hauptmotiv gegen die deutsche Wiederbewaffnung bezeichnet.
— Das bezieht sich jetzt auf Kollegen Wagner.
Es ist ja beschlossen worden, daß der Ausschußbericht — ich meine das stenographische Protokoll der letzten Sitzung des Ausschusses — verteilt werden soll; das ist mittlerweile geschehen.
Die Frage, die ich an Herrn Justizrat Wagner stellte, ob dieses gesamtdeutsche Motiv von ihm damals als Vorsitzender des Zuständigkeitsausschusses ausdrücklich erklärt worden sei, verneinte Herr Justizrat Wagner, so daß nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen diese unausgesprochenen Motive meines Erachtens außer Betracht bleiben müssen und meine Ausführungen im Mehrheitsbericht des Rechtsausschusses ihre volle Geltung behalten.
Es ergab sich noch etwas: Nachdem die sozialdemokratischen Fraktionsmitglieder erklärt hatten, daß sie im Parlamentarischen Rat die ganze Verfassung hätten scheitern lassen, wenn die Wehrgewalt mit in das Gesetz hätte aufgenommen wer-
den sollen, erklärte Herr Geheimrat L a f o r et, die Wehrfrage sei im Parlamentarischen Rat nicht auf die Spitze getrieben worden, und Herr Justizrat Wagner schloß sich dem an. Das heißt, man wußte, daß hier ein gewisser Richtungsgegensatz bestand, und jede Partei fand sich mit dem ab, was in dem Grundgesetz an positiven Texten stand, in der Meinung, damit für die weitere Entwicklung die nötigen Ansatzpunkte zu besitzen.
Wenn man in diesem Sinne annimmt, daß der Parlamentarische Rat im Grundgesetz das Problemder Wehrfrage nicht auf die Spitze getrieben hat, so taucht das schon oft erörterte Problem der Auslegung von Kompromißgesetzen auf. Wenn sich die politischen Parteien nämlich zu einem Kompromiß die Hand reichten, ohne sich über das Grundprinzip, das zwischen ihnen streitig war, geeinigt zu haben, dann muß, meine Damen und Herren, der Richter, wenn er dieses Gesetz auslegt, nach Rechtsprinzipien suchen, die vor diesem Gesetz bestanden. Und dieses Prinzip kann nur das Prinzip sein, daß jeder Staat sich selbst verteidigen kann. Das Prinzip ist also die Bejahung der Wehrgewalt.
Man kann weiter fragen, ob der Inhalt des Grundgesetzes mehr für oder mehr gegen die Wehrgewalt spricht, was also das Übergewicht hat, und da meine ich nach dem, was ich zu Beginn vorgetragen habe, daß die die Wehrgewalt implizierenden Texte das Übergewicht haben, und zwar aus dem Grund, den ich vorhin schon kurz erwähnte: Bei internationalen Organisationen stellt sich im modernen Kriegsverhütungsrecht die Frage nicht mehr im alten Sinne, welche Kompetenzen bei den nationalen Organen liegen. Das gilt für die Organisation der UNO; das gilt erst recht für die sogenannten supranationalen Einrichtungen, die wir heute haben. Daraus ergibt sich, daß die früheren Hauptstücke der sogenannten Wehrverfassung heute eine viel geringere Bedeutung haben als früher. Ich habe das in meiner Erwiderung auf den Bericht des Herrn Kollegen Arndt dargelegt und darf auf diesen Passus besonders hinweisen.
Ich darf Sie bitten, nun vielleicht die Seite 50 des vor Ihnen liegenden Berichts aufzuschlagen. Da habe ich gesagt — und ich bitte den Herrn Präsidenten um die Erlaubnis, diesen einen Teil ausnahmsweise wörtlich bringen zu dürfen —:
Denn in den kollektiven Sicherheitssystemen,
an denen sich die Bundesrepublik beteiligen
darf, ergeben sich für beide Fragen
— also Oberbefehl und Kriegserklärung — Gestaltungen, die mit dem traditionellen Rechtsgut der europäischen Verfassungen nichts mehr zu tun haben. Dieses war für Nationalstaaten und Kriege alten Stils zwischen solchen Nationalstaaten bestimmt, paßt aber überhaupt nicht für die modernen internationalen Gestaltungen.
Bis zu einem gewissen Grade ist das einer der Hauptgedanken auch des Gutachtens von Professor Löwenstein.
Für den Oberbefehl habe ich im ersten Teil des Mehrheitsgutachtens bereits das Nötige gesagt. Für die Kriegserklärung möchte ich zur Verdeutlichung noch auf folgendes hinweisen: Das Grundgesetz und das Vertragswerk haben nur einen Verteidigungskrieg für möglich erklärt. Bei einem Verteidigungskrieg gegenüber einem Angriff entfällt aber, wie schon die jüngste Geschichte eines verwilderten internationalen Lebens zeigt, die Kriegserklärung überhaupt oder wird bei praktisch schon begonnenen Kriegshandlungen zu einem reinen 1 Formalakt, dem sich mit Rücksicht auf die entstandene Lage kein Staatsorgan entziehen kann. Es bleibt höchstens — je nach der Sachlage — die Ermessensentscheidung zu treffen, ob Angriffshandlungen auf die durch den Vertrag geschützten Gebiete von der Art sind, daß sie einen allgemeinen Krieg auslösen oder nicht. Man kann annehmen, daß das Einstimmigkeitserfordernis in den vorgesehenen Beschlußgremien für diese Entscheidung nur retardierend wirken kann, weil auch die vom unmittelbaren Kriegsgeschehen nicht betroffenen, geographisch entfernt liegenden Staaten zustimmen müssen. Vor allem aber hat die moderne Verfassungsentwicklung im Zusammenhang mit der Weltfriedensorganisation der UN die Bedeutung des alten Verfassungsrechts stark abgeschwächt.
Der Sicherheitsrat entscheidet nach der Satzung über die Reaktion auf einen Angriff auch mit Wirkung für solche Länder, die dem Sicherheitsrat nicht angehören, und kann Kriegsanstrengungen von allen Mitgliedern der UN verlangen. Die Entscheidung des Sicherheitsrats setzt keine parlamentarische Zustimmung für die an der Entscheidung mitwirkenden Regierungen voraus, der sich die Mitgliedstaaten unterworfen haben, und für den Beitritt zur UN ist trotz dieser schwerwiegenden Folgen und einschneidenden Auswirkungen auf die nationalen Verfassungssysteme nirgends verfassungsändernde Mehrheit verlangt worden.
Das Minderheitsgutachten tut immer so, als ob wir noch um das Jahr 1900 lebten und die beiden Weltkriege mit ihrem Auftrieb für das internationale Kriegsverhütungsrecht nicht stattgefunden hätten.
Natürlich kann man fragen, ob das Grundgesetz nicht zu weit gegangen ist, als es im Art. 24 dieser Entwicklung das Tor öffnete. Ich glaube aber, daß die Entscheidung des Parlamentarischen Rats richtig war, durch einfache Gesetzgebung solche Verträge zu ermöglichen. Jedenfalls kann angesichts dieser gesamten Entwicklung nun nicht die Ansicht der Mehrheit, die aus dem Art. 24 die Konsequenzen zieht, als ein Verfassungsbruch hingestellt werden.
Eine andere Frage ist es, ob das Grundgesetz mit seiner schrankenlosen Zulassung der Beteiligung an internationalen Organisationen gleichviel welcher Art hier tatsächlich nicht doch über das Ziel hinausgeschossen ist. Das ist jedenfalls auch der Sinn der von dem Professor Dr. Löwenstein berichteten Anpassungsversuche in den Staaten, die eine ältere Verfassung haben und die sich nun fragen, ob eine Zweidrittelmehrheit vielleicht gefordert werden müsse. Bisher ist das nicht der Fall.
Ich komme deshalb zu dem Ergebnis, daß das Zustimmungsgesetz nicht der Zweidrittelmehrheit bedarf.
Die Einzelfragen, die wir im Rechtsausschuß behandelt haben, werden vielleicht am besten jeweils bei den Erörterungen der einzelnen Vertragsteile behandelt. Denn es ist natürlich sehr schwer, in einem solchen zusammenfassenden Bericht alle die verschiedenen Einzelbestimmungen, die dort auf ihre Verfassungsmäßigkeit untersucht worden sind, hier in ihren Beziehungen zum Grundgesetz darzulegen.
Deutscher Bundestag — 241, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 4. Dezember 1952 11307