Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundesjustizminister Dr. Dehler hat heute eine ganz große Rede gehalten. Er hat heute eine Rede gehalten, von der ich wünschen möchte, daß sie gedruckt an das ganze deutsche Volk hinausginge.
Er hat eine Rede gehalten, von der ich wünschen möchte, daß sie, etwas ergänzt, als Flugschrift zur Aufklärung der Nichtaufgeklärten verwendet werden möge, und sofern in diesem Hause noch Nichtaufgeklärte sitzen, möchte ich wünschen, daß auch diese Nichtaufgeklärten, soweit sie willig sind, Tatsachen und der Wahrheit ihre Ohren zu öffnen, aufgeklärt worden sind.
Herr Dr. Dehler hat mir meine Aufgabe für heute außerordentlich erleichtert, und ich danke ihm. Der Amerikaner würde sagen: he stole the show — er stahl die Schau. Das war die Rede, die niemand in der heutigen Debatte erreichen und übertreffen kann.
Ich bedaure, daß diese beiden Anträge nun schon wiedergekommen sind und an einem Grundsatz der Verfassung, an einem Grundsatz des Grundgesetzes rütteln. Ich halte es auch für durchaus unerfreulich, daß der gleiche Antrag in einem Zeitablauf von zwei Jahren zum zweitenmal kommt, obwohl sich am Tatbestand nichts geändert hat und obwohl nicht damit zu rechnen ist, daß dieser Grundsatz des Grundgesetzes geändert wird. Ich bedaure das, weil wir uns nicht dauernd mit dem gleichen Thema befassen können, das jenesmal ausführlich und gründlich erörtert worden ist. Der einzige Gewinn dieser Anträge ist die Rede, die wir heute aus dem Munde des Herrn Bundesjustizministers gehört haben.
Aber das haben Sie j a nicht erwartet, und das haben Sie auch nicht gewollt. Wenn diese Rede trotzdem kam, so sind Sie, glaube ich, darüber sehr wenig erfreut; denn ich habe den Eindruck, Sie wollen nun einmal diesen Grundsatz des Grundgesetzes, daß die Todesstrafe abgeschafft sein soll, wieder beseitigen, koste es, was es wolle, und seien die Argumente, wie sie auch immer sein mögen.
Meine Herren und Damen, in der 50. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates vom 10. Februar 1949 hat nach meinem Antrag, der nun Art. 102 des Grundgesetzes geworden ist, ein Abgeordneter das Wort ergriffen und das ausgeführt, was ich Ihnen — es ist sehr kurz — mit gütiger Genehmigung des Herrn Präsidenten vorlesen darf. Er sagte:
Ich bin dem Herrn Kollegen Wagner sehr dankbar, daß er den Antrag jetzt hier gestellt hat. Ich darf daran erinnern, daß ich in der zweiten Lesung den Antrag gleichfalls gestellt hatte, und darf mich auf meine damalige Begründung ausdrücklich beziehen. Ich brauche die Ausführungen von Herrn Wagner nicht noch weiter zu unterstützen; denn sie sprechen für sich selbst. Vom weltanschaulichen Gesichtspunkt aus ist es insbesondere nach den Erlebnissen der letzten Jahre, nicht nur der Zeit bis 1945, sondern auch der Zeit seit 1945, eine unbedingte Notwendigkeit, daß wir uns gegen die Todesstrafe aussprechen. Ich bin auch der Auffassung, daß wir diese Frage in dem Grundgesetz zu regeln haben. Es ist eine Frage, die nicht dem normalen Gesetzgeber überlassen werden sollte. Die Frage ist so wichtig, daß sie in einem Grundgesetz Verankerung finden muß. Deswegen unterstütze ich den Antrag und werde dafür stimmen.
Und wer war das? Dieser Mann, der so sprach, war das Mitglied des Parlamentarischen Rats Dr. Seebohm,
der Vertreter der Deutschen Partei.
Und jene Deutsche Partei ist heute die Antragstellerin, die diese Debatte zusammen mit der Bayernpartei ausgelöst hat.
Meine Damen und Herren, da muß man sich nun fragen: Warum haben dann die Herren nach 1945 einen weltanschaulichen Standpunkt — wie sie ihn nennen — eingenommen, von dem sie heute, in ihrer Mehrheit zum mindesten, nichts mehr wissen wollen? War es denn vielleicht j enes-mal die Sorge um die Köpfe gewisser Männer, um die sie bangten,
und ist für sie in ihrer Vorstellung vielleicht diese Gefahr überwunden
und ihre Weltanschauung plötzlich geändert?
Oder ist es vielleicht — manche munkeln und vermuten so etwas —
der Hinblick auf ein neu zu schaffendes Militärstrafgesetzbuch der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, in dem die Todesstrafe enthalten sein soll?
Ist nicht der Hinweis des Herrn Kollegen Ewers auf den Landesverrat, den man noch in die Todesstrafe einbeziehen müsse, schon wieder die Erinnerung an die Erschießungskommandos, die man schon wieder in der Zukunft sieht?
Hier eröffnen sich gewisse Perspektiven. Wenn Sie die vor das deutsche Volk stellen, werden Sie eine Antwort erhalten, die Sie enttäuscht.
Lassen Sie mich ganz kurz, da meine Zeit es mir nicht erlaubt, es näher zu tun, und da Herr Dr. Dehler im großen und ganzen das viel besser getan hat, fragen, wie aus der ehrlichen Empörung heraus, die die Menschen draußen und wir alle empfinden, wenn Morde begangen sind, die Reaktion des einfachen Menschen ist. Er hört von einer scheußlichen Tat, und diese Tat wird in der Zeitung ganz groß aufgemacht, und dann sagt er: „Das ist doch eine Schweinerei; der Kerl gehört aufgehängt." Das ist eine ganz natürliche Reaktion, geboren aus der ganzen Vergangenheit, mit der wir belastet sind. Das ist natürlich. Dann kommen die Befürworter der Todesstrafe und schreien: „Seht ihr hier diesen Mord, — und die Todesstrafe ist abgeschafft!" Als ob zwischen der Abschaffung der Todesstrafe und dem Mord ein Kausalzusammenhang bestünde,
als ob die Abschaffung der Todesstrafe diese Morde geradezu erzeugt habe. Ich habe es erlebt, daß ich nachts in meiner Wohnung, nachdem eine solche Tat passiert ist, angerufen worden bin. Mich, den man für den Art. 102 für verantwortlich hält, hat man dann auch für diesen Mord moralisch verantwortlich gemacht. Eine solche Sinnesverwirrung ist schrecklich. Ein Abgeordneter, der die Dinge mit klarem Kopf betrachten muß, sollte zu einer solchen Schlußfolgerung keinen Beitrag leisten. Aber auch eine saubere und anständige Presse sollte sich etwas beherrschen, ehe sie derartige Dinge so aufmacht. Insbesondere aber sollten sich die Richter enthalten, Propaganda gegen das Grundgesetz zu machen,
indem sie dem Angeklagten geradezu die Frage vorlegen: „Hätten Sie die Tat auch begangen, wenn die Todesstrafe nicht abgeschafft wäre?" Solche Richter gehören hinausgeworfen, weil sie von Jurisprudenz nichts verstehen.
Solche Richter können keine Strafrichter sein, weil
sie auch von Kriminalpsychologie keine Ahnung
haben, und solche Richter gehören nicht vom Staat
bezahlt, weil sie gegen das Grundgesetz arbeiten.
Ich frage die Anhänger der Todesstrafe eines: hat es denn zu der Zeit, als die von Ihnen so geliebte Todesstrafe noch Gesetz war, etwa in Deutschland keine Morde gegeben?
Da haben Sie nichts davon gehört. Ist nicht unter dem Regime der Todesstrafe in einer Weise gemordet worden, daß es, als es während der Nazizeit zur Spitze kam, geradezu schrecklich war? Da haben Sie kein Propagandamaterial gegen die Todesstrafe gefunden.
Jetzt wollen Sie, wenn wiederum Morde vorkommen, dafür verantwortlich machen, daß die abschreckende Wirkung der Todesstrafe nicht mehr gegeben sei und daß durch den Wegfall dieser abschreckenden Wirkung die Tat geboren und ermöglicht wird.
Der Herr Justizminister hat diese Dinge widerlegt. Der Herr Kollege Ewers hat mir geradezu ein Argument dagegen gegeben: jener angeklagte Mörder bittet seinen Richter um die Todesstrafe. Für ihn ist das ja eine Erlösung, für ihn ist das ) keine Abschreckung, sondern etwas, das er dem lebenslänglichen Zuchthaus vorzieht. Wenn schon die Behauptung, daß der Wegfall der Todesstrafe die Mordfälle vermehrt habe, nachgewiesenermaßen falsch ist, dann ist auch die Berechtigung der Antragsteller, jetzt nach zweieinhalb Jahren das Thema wieder auf die Tagesordnung zu setzen, nicht mehr gegeben. Sie hätten sich nicht durch große Zeitungsüberschriften beeinflussen lassen dürfen, sondern sie hätten es in der gleichen gewissenhaften Weise wie unser Bundesjustizminister machen müssen, der die Dinge nachgeprüft hat und ihnen den Beweis geliefert hat, daß ihre Behauptung unrichtig ist und daß sie sich benehmen wie die draußen, die keine Aufklärung besitzen.
Schließlich noch ein Gedanke, der Gedanke der Vergeltung. Wenn Sie diesem Gedanken Rechnung tragen wollen, dürfen Sie es nicht nur auf dem Gebiet des Mordes und des Menschenraubs tun, wie es nunmehr ein Teil der Antragsteller wünscht. Warum die Vergeltung in dieser Weise nur in dem einen Fall? Wenn Sie schon ein System, das unserem Strafrechtssystem fremd ist, wieder einführen wollen, warum dann nicht die Körperstrafe? Warum wollen Sie denn nicht die Prügelstrafe überhaupt einführen? Ist nicht in weiten Kreisen unseres Volkes auch Stimmung dafür zu machen, daß es sagen würde: dieser miserable Kerl hat jenes Sexualverbrechen an diesem kleinen Mädchen begangen, zur Vergeltung: jeden Tag über den Bock und zwanzig Peitschenhiebe! Das ist die gleiche Empörung, die gleiche Reaktion, der gleiche Vergeltungsgedanke, wie er die Anhänger der Todesstrafe beherrscht. Trotzdem machen Sie diesen Schritt nicht! Vor dem schrecken Sie zurück, weil er doch einer zu weiten Vergangenheit angehört.
Sie wollen nur den Schritt in den Zustand zurück machen, den wir hatten, ehe die Todesstrafe abgeschafft war. Wenn Sie die Dinge systematisch durchdenken, müssen sie erkennen — ich will da nicht wiederholen, was der Justizminister über das Wesensfremde der Todesstrafe in unserem ganzen Strafrechtssystem gesagt hat —, daß Sie zu einem Strafrecht kämen, das sich vom mittelalterlichen gar nicht unterscheiden würde. Sie kämen mit diesem brutalen Strafrecht der Todesstrafe und der Körperstrafe in eine Verbrechensepoche hinein, wie sie nur die Vergangenheit gekannt hat.
Der Staat hat mit gutem Beispiel und erzieherisch voranzugehen, wenn ihm das Volk in seiner Masse folgen soll, nicht umgekehrt. Der Staat ist auch ein Erzieher, wenn er sich selbst der Gewaltmittel entäußert, die ihm für meine Begriffe gar nicht zustehen.
Ich will die rechtsphilosophischen und weltanschaulichen Gedankengänge gar nicht vertiefen, will auch nicht wiederholen, was ich schon gesagt habe, sondern möchte nur noch auf einen Gesichtspunkt hinweisen. Täuschen Sie sich nicht! Sie streichen mit dem Art. 102, der besagt: die Todesstrafe ist abgeschafft, nicht nur einen Satz, Sie streichen einen Grundsatz, und zwar einen Grundsatz, der geradezu einen Baustein in unserem Grundgesetz bildet, denn angefangen vom Art. 1. der erklärt, daß die Würde des Menschen unantastbar ist, über Art. 2 Abs. 2, daß jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat, bis zum Art. 102, der die notwendige Ergänzung ist, zieht sich dieser Grundsatz, der dem Sinne nach heißt: das Leben ist heilig. Vergessen Sie nicht, daß Sie diesen Grundsatz der Heiligkeit des Lebens verletzen und damit das Tor für alle Möglichkeiten öffnen.
Die Antragsteller des zweiten Antrags wollen, daß der Satz 1 dahin modifiziert wird, daß die Todesstrafe für Mord und Menschenraub gelte. Diese Antragsteller sind durch den Herrn Ewers bereits überboten, und sie sehen, wohin das führt. Er sagt: das genügt mir nicht, Todesstrafe allein für Mord und Menschenraub; es gibt noch ganz andere Delikte. Wenn Sie einmal das Tor zu den barbarischen Strafen aufgestoßen haben, gibt es keine Grenze mehr, dann hängt das von momentanen Stimmungen gesetzgebender Körperschaften ab, dann werden Sie im Prinzip' zu dem gleichen System kommen, das im Nazireich herrschte, und werden alle Dinge, die empörend sind, mit der Todesstrafe bedrohen, werden auch die Todesstrafe verhängen und damit einen Weg begehen, der verhängnisvoll ist.
Meine Damen und Herren, und wenn wir das einzige Volk in Europa oder selbst in der Welt wären, das die Todesstrafe abgeschafft hat, würden wir sagen: wir bleiben bei diesem Grundsatz und kämpfen weiter für ihn. Warum sollte nicht einmal das deutsche Volk auf diesem humanitären Gebiet der Schrittmacher sein und alle Völker führen, warum sollten wir nicht die sein, die den ersten großen, bedeutenden Schritt täten, der von der Barbarei zur Humanität führt?! Deshalb, meine Damen und Herren, beantragen wir nicht etwa eine Überweisung an den Ausschuß, sondern wir beantragen, daß über beide Anträge zur Tagesordnung übergegangen wird, um zu zeigen, daß dieser Grundsatz des Grundgesetzes, daß die Bestimmung der Heiligkeit des Lebens keine Sache ist, die ,man heute so und morgen so regelt, son-
dern daß das deutsche Volk und das deutsche Parlament sich bewußt sind, daß eine Verfassung nicht geschaffen wird, um jeden Tag umgemodelt zu werden, wenn nicht das Parlament selbst das Ansehen beim Volke verlieren will.