Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die große Übereinstimmung des ersten Redners der Koalition und des Sprechers der Opposition im Grundsätzlichen gestattet mir, für die Fraktion der FDP mich auf Ergänzungen zu beschränken.
Lassen Sie mich zunächst in der Zeit der allgemeinen Begriffsverwirrungen mit einer Begriffsdefinition beginnen: Wenn wir von den unter dem Vorwurf des Kriegsverbrechens festgehaltenen Deutschen sprechen, so meinen wir alle jene, die als Angehörige der Wehrmacht, der Waffen-SS, der Polizei, j a im totalen Krieg vielleicht auch als Angehörige der Zivilverwaltung aus den besonderen Verhältnissen des Krieges in Schuld verstrickt wurden und hier schuldig oder teilschuldig geworden sind oder die vielleicht sogar unschuldig sind und Opfer von Siegerwillkür, von Besatzungsjustiz aus der Morgenthau-Psychose, von Mißverständnissen, vielleicht von Verfahrensmängeln mit Berufszeugen und Geständniserpressungen geworden sind. Wir meinen jedoch nicht jene, die auch nach deutschem Recht objektiv und subjektiv schuldig geworden sind und die Verbrecher im wahrsten Sinne des Wortes sind, weil sie sich ohne die Not des Krieges, ohne einen Zwang als Sadisten in Gefangenenlagern, als Menschenschinder oder als sonstige asoziale Elemente betätigt und den Namen ihres Volkes mit Schande bedeckt haben, so daß wir viele, viele Zeit brauchen, um in der öffentlichen Meinung der Welt das wiedergutzumachen, was solche Verbrecher angerichtet haben. Es wäre zweckmäßig, wenn auch die Auslandspresse hier diesen Unterschied machte, den sowohl der Herr Bundeskanzler wie die beiden Vorredner als entscheidend für eine Verständigung mit dem Ausland auf diesem Gebiete bezeichnet haben.
Man fragt sich draußen, warum das deutsche Volk sich mit einer solchen Intensität dieses Problems bemächtigt habe. Meine Damen und Herren, weil das deutsche Volk ja selbst erlebt hat, daß in der Geschichte der Völker Licht und Schatten sich verteilen und daß das Völkerrecht leider im totalen Krieg auf beiden Seiten gebrochen wurde. Die Trümmer Dresdens, Hamburgs und Kölns und die Ereignisse, die in Reutlingen, in Aitrach, in Markdorf geschehen sind, um nur einige Namen zu nennen — das Material liegt ja in unserer Hand —, beweisen, daß auch die andere Seite in vielen Fällen das tat, was man der deutschen Seite zum Vorwurf macht, und, meine Damen und Herren, sieben Jahre danach scheint doch nun Gelegenheit zu sein, einen Schlußstrich zu ziehen. Wir wollen nicht nach dem Prinzip „tu quoque" aufrechnen. Wir wollen den Blick nach vorn tun; aber wir müssen erwarten, daß auch die andere Seite den gleichen guten Willen hat.
Nun sind selbstverständlich auch der deutschen Bevölkerung jene Mängel bei den Verfahren bekannt. Wer wollte leugnen, daß im Rahmen der Dachauer Prozesse oft jene Methoden Anwendung fanden, die bei uns vorher bitter beklagt wurden und von denen uns zu befreien die Alliierten ja in den Krieg gezogen waren? Auch bei den Prozessen der Nachkriegszeit sind Geständniserpressungen, Folterungen, Scheinhinrichtungen und dergleichen vorgekommen, und sogar die amerikanische Öffentlichkeit ist darüber orientiert. Es genügt also nicht, wenn heute bei der Nachprüfung vielleicht lediglich die Akten eingesehen werden; sondern wer sich mit dem Problem der Verurteilten befaßt, muß auch die Umstände der Zeit und die Mängel der Verfahren in Rechnung ziehen. Die bloße Akteneinsicht genügt nicht.
Wir wissen außerdem, daß manche Verurteilungen auf Grund von Sondergesetzen erfolgt sind. Herr Professor Wahl hat das hier schon ausführlich dargelegt. Ich darf zum Beispiel erwähnen, daß das englische Militärstrafgesetzbuch im April 1944 geändert wurde und der § 443 im Kapitel 14 eine andere Fassung bekommen hat. Im Jahre 1950 ist jedoch wieder die alte Fassung bezüglich der Verantwortlichkeit bei Handeln auf Befehl eingeführt worden. Die USA hat im November 1944 die Regeln der Landkriegführung geändert. Frankreich hat Sondergesetze im Jahre 1944 und im Jahre 1948 erlassen, die die kollektive Schuldvermutung fixieren und die die Umkehrung der Beweislast festlegen. Grob gesagt: wenn der Täter einer Straftat nicht zu ermitteln ist, haftet kollektiv der ganze Verband oder besser alle Angehörigen dieses Verbandes, es sei denn, daß sie den Beweis ihrer Unschuld bringen.
Die Genfer Konvention von 1949 hat die Nichtanerkennung des Befehlsnotstandes, die in Nürnberg fixiert wurde, nicht übernommen. Es ist interessant, wie im Protokoll zum EVG-Vertrag über die allgemeinen Strafrechtsgrundsätze, im Justizprotokoll, das Problem des handeins auf Befehl gelöst wurde. Es heißt hier — ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren —:
Bei der Festsetzung der Strafen und bei der Art ihrer Anwendung wird die Schwere der Straftat, ferner der Umstand, ob der Täter sie als solche erkannte, und schließlich, ob er den Willen hatte, sie zu begehen, berücksichtigt, jedoch soll die Unkenntnis des Strafgesetzes nicht ein allgemeiner Grund für Straffreiheit sein können.
Infolgedessen soll das Gesetz gestatten, das Strafmaß anzupassen und gegebenenfalls den Strafvollzug den tatsächlichen Umständen der Tat und den persönlichen Gegebenheiten beim Täter anzupassen.
Das Gesetz soll die Fälle festlegen, in denen der materielle Urheber einer Straftat nicht strafbar ist; dies ist insbesondere der Fall:
— und hier bitte ich besonders hinzuhören -
a) wenn der Täter im Augenblick der Begehung der Tat vollkommen seines Bewußtseins oder seines Willens beraubt war. Demjenigen, der sich vorsätzlich in einen derartigen Zustand versetzt hat, kann jedoch das Gesetz die obigen Straf ausschließungsgründe verweigern,
b) wenn der Täter sich infolge eines unwiderstehlichen physischen oder moralischen
Zwanges genötigt sah, eine Handlung zu begehen oder sie zu unterlassen,
c) wenn der Täter von einer hierzu befugten Stelle einen rechtmäßigen Befehl erhalten hat,
d) wenn der Täter in Notwehr gehandelt hat. Das ist doch letzten Endes noch mehr als das, was wir schon in § 47 des Militärstrafgesetzbuches hatten und was wir auch auf die Verfahren der wegen Kriegsverbrechen verurteilten oder noch festgehaltenen Deutschen in Anwendung gebracht haben wollen.
Dabei darf man aber nun nicht vergessen, daß es ein Unterschied ist, militärischer Befehlshaber in einem demokratischen Staat oder in einem autoritären Staat zu sein, der jeden Befehlshaber mit der Geißel der Sippenhaft bedroht, wenn er den Befehl nicht ausführt. Für den 72jährigen Feldmarschall List, der sich in vielen Fällen den Befehlen Hitlers widersetzt hat, gilt das im besonderen. Er hat 1942 bereits seine Kaltstellung erfahren und saß in Wien. Er verantwortet wirklich nicht das, was nach 1942 noch auf dem Balkan geschehen ist. Trotzdem sitzt der Mann mit 72 Jahren en noch in Landsberg, während wirklich Schuldige frei sind.
Die Technisierung und Totalisierung des Krieges haben natürlich zur allgemeinen Verschärfung der Kampfgrundsätze geführt. Hier möchte ich vor allem Sie, Herr Rische, der Sie ja auch heute wieder durch Zurufe brillierten, fragen: wer hat denn den Grundsatz der verbrannten Erde erfunden? Wer ha, denn jene Verschärfung der Kampfmethoden durch den Partisanenkrieg gebracht? Das war die Rote Armee, der Sie so sympathisch gegenüberstehen.
Der deutsche Ostfrontsoldat weiß, daß von Grodno
über Minsk bis Smolensk, Wjsma und Kiew längst
die Städte in Brand waren, bevor ein deutscher Soldat sie betreten hatte, und daß ihnen später noch die Sprengstücke um die Ohren flogen. Sie haben jene Völkerrechtsbrüche provoziert, wie es auch Professor Wahl sagte,
und S i e haben am wenigsten Grund, heute so zu tun, als wenn die Rote Armee und ihre Kriegführung ein Musterbeispiel an Achtung vor Völkerrecht und Völkersittlichkeit gewesen wären.
Sie lesen vielleicht das Buch Ihres alten Genossen Plivier einmal nach, das er jetzt über Moskau schreibt.
Die Bereinigung der Kriegsverbrecherfrage ist leider Gottes nicht im Sinne des völkerrechtlichen „tabula-rasa-Prinzips" zu erreichen, wie wir als Realisten feststellen müssen. Ich möchte meinem Vorredner, Herrn Kollegen Merten, doch zu bedenken geben, ob ein solches völkerrechtliches Postulat, das jahrhundertealt ist, nicht gerade deswegen besonders günstig wäre, weil es einen allgemeinen Schlußstrich zieht. Bei jeder Amnestie und bei jeder allgemeinen Bereinigung trifft natürlich die Wohltat des Gesetzes auch Unwürdige; aber mir scheint, es ist besser, einige Unwürdige freizulassen, als einen großen Teil Unschuldiger festzuhalten.
Ich glaube, daß es möglich sein wird, auf dem Wege anderer Maßnahmen, vielleicht durch das Parole-Verfahren mit dem Ziel, nach Verbüßung eines Drittels der Strafe die Betreffenden nach Hause zu schicken, hier einem großen Teil die Freiheit zu geben.
Nun sagt man draußen: „Das Junktim ist unglücklich!", und manche Kollegen müssen sich vielleicht auch den Vorwurf in der Auslandspresse gefallen lassen, sie stellten ultimative Forderungen. Meine Damen und Herren, wenn wir das Problem unserer Zustimmung zum Verteidigungsvertrag nun einmal auch von einer gewissen psychologischen Voraussetzung und von der Bereinigung der Kriegsverbrecherfrage abhängig machen, so ist diese Koppelung nicht unmoralischer als die Koppelung des Generalvertrages mit dem EVG-Vertrag. Man kann hier also nicht das eine als richtig und das andere als falsch ansehen. Aber auch ich möchte bestätigen, daß die Kollegen, die hier gewisse Bedenken haben, sich schon zu einer Zeit mit der Kriegsverbrecherfrage beschäftigt haben, als der Bundestag vor drei Jahren noch das Verbot der Herstellung von Kriegsspielzeug diskutiert hat und nicht die Frage, ob die Integrierung auf Korpsebene oder Divisionsebene beginnen soll. Ich glaube, Abgeordnete aller Parteien, die hierin tätig sind, sind frei von dem Vorwurf, sie wollten hier durch ultimative Forderungen einen Druck ausüben. Aber, meine Damen und Herren, die Frage ist ein Problem psychologischer Voraussetzungen, weil eine Armee und auch die deutschen Divisionen keine Addition von Offizieren, Unteroffizieren und Soldaten und Material sind, sondern ein Organismus; und entscheidend für einen Organismus ist der Geist! Es ist ein Gebot der Fairneß sowohl gegenüber dem Ausland wie gegenüber der Regierung, rechtzeitig zu sagen, welche Gewissensbedenken man hat, damit alles getan werden kann, um diese Gewissensbedenken durch Taten auszuräumen.