Rede von
Dr.
Adolf
Arndt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über Wiedergutmachung kann in diesem Hause nicht gesprochen werden, ohne an die denkwürdige Rede anzuknüpfen, die unter dem einmütigen Beifall aller Fraktionen Georg August Zinn am 16. März 1950 in der 47. Sitzung des Bundestages gehalten hat. Als das Vermächtnis des deutschen Widerstandes hat Zinn den Gedanken der Versöhnung aufleuchten lassen. Zinn, der von sich sagte, daß er das Schicksal derer, die ihrer politischen Überzeugung wegen eingekerkert wurden, aber auch das Schicksal derer teilte, die in der russischen Steppe als Soldat vor Stalingrad oder sonst irgendwo auf dem weiten Kontinent in den schwersten Konflikt, den Konflikt zwischen Vaterland und Menschheit, gestellt waren, Zinn hat damals ausgesprochen, daß der Opfergang des Widerstandes nicht herausgelöst werden kann und darf aus dem Opfergang des ganzen deutschen Volkes, insbesondere seiner in ihrer Gläubigkeit betrogenen Jugend und aller der Irrenden, die zunächst im blinden und später im zagenden Vertrauen jenen folgten, die sich ihre Führer nannten. Aus der Gemeinsamkeit dieses Schicksals, sagte Zinn, möge eine Brücke werden zwischen den Männern und Frauen des deutschen Widerstandes und denen, die durch die Soldaten von Stalingrad repräsentiert werden.
Allein in diesem sinne wird die erste freigewählte Volksvertretung der Deutschen das für den inneren Frieden der Nation notwendige Wort zu sprechen haben, daß sich um das Wohl des deutschen Volkes und Staates verdient gemacht und sich rechtmäßig verhalten hat, wer aus Überzeugung oder um seines Glaubens oder Gewissens willen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Widerstand leistete, um die Menschenrechte zu verteidigen oder einem Verfolgten beizustehen oder der Zerstörung Deutschlands Einhalt zu gebieten oder sich gegen die Unterdrückung aufzulehnen.
Dieses Wort soll nicht gegen den einen oder anderen gesprochen sein; gegen keinen, der guten Willens oder guten Glaubens war. Insbesondere soll es niemandem, der sich um seine Pflicht als Bürger und Mensch redlich mühte, ein Recht absprechen. Die unselige Zeit, daß ganze Gruppen von Menschen ohne Ansehung des einzelnen rechtlos gemacht und um ihrer Gruppe willen mindergeachtet werden, muß abgeschlossen und vergangen sein. Dieses Wort der Anerkennung und Rechtfertigung soll vielmehr einzig eine Fürsprache sein, ein Wort für den Rechtsfrieden aller und darum für das Recht derer, denen Gewalt ihr Recht auf Menschsein und Bürgersein geraubt hatte und die als Zeugen des Rechts und der Freiheit grausames Leid und oft den Tod erduldet haben. Wir wollen nicht mehr zulassen, daß unser Volk weiterhin zerrissen wird durch Streit und Zank über Fragen, die nicht Gegenstand des Parteihaders sein dürfen, nicht Beute der Rachsucht oder des Unverstands Unbelehrbarer.
Die Gewissensnot und das Heldentum des deutschen Widerstands gehören der Geschichte an. Es kann darum nicht Aufgabe der Gerichte sein, über Geschichte zu urteilen.
Unsere Gerichte werden überfordert. Aber es ziemt ihnen auch nicht, einmal in Neumünster, einmal in Braunschweig und morgen wieder anderswo vor ihre Schranken zu ziehen, was ein bitteres und zugleich auch stolzes und verpflichtendes Erbe des ganzen Volkes ist.
Diese Fragen lassen sich nicht durch richterliche
Entscheidungen lösen, sondern allein auf politische
Weise dadurch, daß die Nation geistig überwindet,
sittlich gesundet und durch die selbstbestimmte Gestaltung ihrer Zukunft aus der Erfahrung des vergangenen Schicksals wieder zur geschichtlichen Gemeinschaft wird.
Darum soll dieses Gesetz, für alle Bürger und jedes Gericht bindend, ein Friedensspruch der Volksvertretung sein und unseren Willen zur Rechtfertigung des Widerstands kundtun, um von nun an diesen Streit aus unserer Mitte zu verbannen.
Was uns dann noch zu tun bleibt, ist, endlich die Wunden zu heilen oder zu lindern, die eine Gewaltherrschaft den Ausgestoßenen schlug. Ich komme damit zum zweiten Teil des Gesetzentwurfs, der mit seinem ersten Teil in einem allein moralischen Zusammenhang steht, sonst aber tatbestandsmäßig völlig davon zu trennen ist.
Widerstand ist weder erforderlich noch genügend, um wiedergutmachungsberechtigt zu sein. Ebensowenig allerdings ist eine Art der Wiedergutmachung überhaupt als angemessen denkbar für das, was die Frauen und Männer des Widerstands geopfert haben und was wir ihnen schulden. Einer Wiedergutmachung zugänglich sind nur Schäden, die heute als unbillige Nachteile fortwirken und von der Allgemeinheit zu tragen sind.
Wenn wir die Aufgaben des Bundestags überschauen, so stoßen wir allenthalben auf Notwendigkeiten einer Wiedergutmachung: an den Kriegsopfern, an den Heimatvertriebenen, an den Kriegs-und Besatzungsgeschädigten, an den verdrängten Beamten. Gegenüber diesen Opfern eines gemeinsamen Schicksals müssen jedoch d i e Menschen eine Sonderstellung einnehmen, die deshalb gelitten
haben, weil sie aus der Gemeinschaft ausgestoßen, weil sie durch Unrecht verfolgt wurden. In absichtlichem Unterschied zu den Landesgesetzen, die in der Ausführung zu groben Unzulänglichkeiten führten, knüpft deshalb unser Gesetzentwurf nicht an subjektive Merkmale des Geschädigten an, seine Rasse, seinen Glauben, seine politische Überzeugung, sondern an den objektiven Tatbestand des Unrechtes, das ihm durch eine nationalsozialistische Verfolgungs- oder Unterdrückungsmaßnahme zugefügt wurde, eines Unrechtes, das sich gegen die Menschen- und Bürgerrechte richtete. Denn es kann nicht genügen, die Menschenrechte durch unsere Verfassungen wieder zur Geltung gebracht zu haben und sie der Welt gegenüber in Anspruch zu nehmen. Die Rechtsgemeinschaft muß auch für das Verletzen der Menschenrechte in der Vergangenheit einstehen.
Wir begrüßen es deshalb, daß die Bundesregierung der Menschengruppe gegenüber, die nach Zahl und Maß am grausamsten in ihren Menschenrechten gekränkt wurde, den Weg des guten Willens beschritten hat: den Juden gegenüber. Unserem bereits am 24. Januar 1951 gestellten Antrag, den Staat Israel als Treuhänder für die verfolgten Juden in aller Welt anzuerkennen, ist dadurch in gewisser Weise Genüge geschehen. Wir halten es allerdings für erwünscht, daß die Bundesregierung in weit stärkerem Maße als bisher die deutsche Öffentlichkeit über den Sinn und die innere Rechtfertigung der vom Staate Israel erhobenen Ansprüche aufklärt, insbesondere darüber, daß es sich in der Hauptsache um eine Eingliederungshilfe für die durch rassenwahnsinnige Gewalt Heimatvertriebenen handelt, keineswegs dagegen um eine Art Ersatzleistung für die millionenfachen Blutopfer, vor denen wir nur in ohnmächtiger Scham verharren können. Wir Sozialdemokraten begrüßen von ganzem Herzen, daß die Bundesregierung gestern in Luxemburg mit dem Staat Israel ein Abkommen getroffen hat, das einen Beitrag unseres Volkes leisten will, um den Israelis beim Aufbau einer neuen Gemeinschaft zu helfen.
Allerdings wäre die Legitimation der Bundesregierung eine andere und bessere gewesen, hatte sie den politischen Gepflogenheiten der Demokratie entsprechend den Ausschuß des Bundestages für. auswärtige Angelegenheiten vor der Unterzeichnung beteiligt. Besonderen Dank wissen wir Sozialdemokraten den deutschen Unterhändlern Franz Böhm und Otto Küster, die sich mit ihrer ganzen Kraft dieser Aufgabe gewidmet haben.
Ich will aber auch nicht verschweigen, daß ich keinen Grund sehe, uns der jetzt von Deutschland versprochenen Leistungen zu rühmen oder gar zu meinen, dadurch eine Art Ausgleich geschaffen zu haben. Wir bleiben unter dem Schatten einer unermeßlichen Schuld und sollten wieder und wieder still werden im unvergeßlichen Gedenken an die Opfer des Rassenwahns, die ungesühnt uns eine bleibende Mahnung sein müssen. Wir dürfen uns der so bitteren Wahrheit nicht verschließen, daß es unserer menschlichen Kraft versagt ist, den Toten zu helfen. Um so mehr muß es unser Anliegen werden, den Überlebenden beizustehen.
Wir beklagen deshalb die Untätigkeit der Bundesregierung im Bereich der innerdeutschen Wiedergutmachung. Eine der peinlichsten Bestimmungen der umstrittenen Verträge mit den westlichen Besatzungsmächten ist die uns auferlegte Wiedergutmachung. Als ob es nicht unser ur-
eigenstes Anliegen sein müßte, diese gesetzgeberische Aufgabe selbst zu lösen!
Um der geschichtlichen Wahrheit willen darf ich feststellen, daß die Landesregierungen von Bayern, Hessen und Württemberg-Baden 1945 sofort aus freien Stücken die Arbeiten an deutschen Rückerstattungs- und Entschädigungsgesetzen aufgenommen haben. Wenige wissen, daß die Militärregierungen dann diese Arbeit lange Zeit hindurch ausdrücklich verboten haben,
und fast völlig unbekannt ist, daß der Süddeutsche Länderrat in Stuttgart nach Aufhebung dieses widersinnigen Verbots ein deutsches Rückerstattungsgesetz sogar beschlossen hatte, dem aber General Clay die Genehmigung versagte, obgleich das Länderratsgesetz sachkundiger und gerechter war als die späteren Besatzungsvorschriften.
Aber die Länder konnten diese gesamtdeutsche Aufgabe aus ihrer Kraft niemals befriedigend lösen — insbesondere fehlten ihnen dazu die Mittel —, selbst wenn der Wille besser gewesen wäre, als er sich leider inzwischen, da er auch erlahmte, gezeigt hat.
Bereits am 24. Januar 1951 haben wir deshalb die Bundesregierung interpelliert, wann sie ein Bundesgesetz vorlegen werde, um die Entschädigung der Verfolgten bundeseinheitlich zu regeln. In den anderthalb Jahren, die seitdem verstrichen sind, haben weder der Herr Bundesfinanzminister noch sein Staatssekretär es für nötig erachtet, in den Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht zu kommen, um über die finanziellen Möglichkeiten Aufschluß zu geben, obgleich der Ausschuß durch Beschluß darum ersucht hatte.
Die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands hat sich deshalb entschlossen, selbst einen Gesetzentwurf vorzulegen, der alle bisher erlassenen Landesgesetze sowie insbesondere die bei ihrer durchaus unbefriedigenden Ausführung gesammelten Erfahrungen berücksichtigt. Nach unserer Überzeugung duldet die Dringlichkeit dieser Aufgabe keinen Aufschub mehr. Die Alten sterben dahin, und die um ihre Jugend oder ihre Ausbildung Betrogenen stehen weiter im Schatten.
Allerdings hat ein westdeutsches Blatt als „Meinung des Auslands" berichtet — wenn ich das mit Genehmigung des Herrn Präsidenten vorlesen darf —:
„Was ist nun im Weltinteresse wichtiger, die Aufrüstung oder die Wiedergutmachungszahlungen? Die Westmächte sind weitaus mehr an der deutschen Aufrüstung interessiert; denn sie wissen, daß ohne deutsche Beteiligung keine Aussichten bestehen, den Osten in Schranken zu halten. Das Primäre ist daher die Aufrüstung."
Meine Damen und Herren, so zu lesen in der Pfingstnummer — Pfingstnummer! — des „Rheinischen Merkur".
Mir ist jedoch die Stunde zu ernst, um mich mit allen Widrigkeiten zu befassen, denen der Gedanke der Wiedergutmachung ausgesetzt war und ist. Ich bekenne mich zu dem Glauben, daß über Sein und Nichtsein eines Volkes zuerst und zuletzt entscheidet, ob es noch den Ruf der sittlichen Gebote hört.
Die Wiedergutmachung aber, und zwar endlich die unverzügliche Wiedergutmachung, ist ein sittliches Gebot. Ihre Regelung durch Bundesgesetz hat nicht nur den Sinn, die Rechtseinheit, sondern auch die tatsächliche und beschleunigte Erfüllung der Ansprüche zu gewährleisten.
Wir sind der Meinung, daß in der Rangfolge der öffentlichen Ausgaben die Wiedergutmachung mit an erster Stelle stehen muß. Die Amerikaner z. B. müssen 5,8 Milliarden Dollar jährlich für den Dienst ihrer Bundesschulden aufbringen, das sind also etwa 8 % ihrer gesamten Bundesausgaben. Die amerikanische Nationalschuld erreicht 260 Milliarden Dollar, also etwa eine Billion Deutsche Mark, mehr als das gesamte gegenwärtige Nationaleinkommen der. Amerikaner. Man hat deshalb Vergleiche zwischen der Staatsschuld anderer Länder und der der Bundesrepublik Deutschland gezogen. Wir halten solche Vergleiche für nicht möglich, da die Sachverhalte untereinander zu verschieden sind. Die scheinbare Geringfügigkeit der deutschen Staatsschuld erklärt sich daraus, daß unsere Schuldenlast noch weitgehend unsichtbar blieb. Die Londoner Schuldenkonferenz hat aber bereits eine erhebliche Schuldenlast erkennbar gemacht. Auch ist nicht zu verkennen, daß vordringliche Aufgaben ein Anwachsen der inneren Verschuldung notwendig machen werden. Gleichwohl wird es eine beachtliche Tatsache bleiben, daß die Währungsreform uns von einem bedeutenden Teil der inneren Staatsschuld entlastet hat. Wir stehen deshalb auf dem Standpunkt, daß zu den überkommenen Reichs- oder Bundesschulden in erster Linie die Verbindlichkeiten aus dem Unrecht der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gehören und daß es möglich ist, diese Schulden als Bundesschuld anzuerkennen, zu konsolidieren und zu tilgen. Wir werden darauf bestehen, daß Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt werden, um den Zahlungsdienst alsbald aufzunehmen.
Das Wesentliche an unserem Gesetzentwurf ist deshalb, daß er die Rechte auf Wiedergutmachung nicht bloß formell anerkennt, sondern eine praktische Regelung für die materielle Erfüllung bringt. Im einzelnen werden wir noch eine schriftliche Begründung zu unserem Gesetzentwurf nachreichen, um das Verständnis für die spätere Praxis zu erleichtern.
Namens der Fraktion der 'Sozialdemokratischen Partei beantrage ich, unseren Gesetzentwurf dem Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht zu überweisen. Wir halten es jedoch für unerläßlich, daß die Beratung des Gesetzes in absehbarer Zeit durchgeführt sein muß. Sollte sich dies bei der Überlastung des Rechtsausschusses als undurchführbar erweisen, so müssen wir uns vorbehalten, die Einsetzung eines besonderen Ausschusses zu beantragen.
Meine Damen und Herren, ein letztes Wort. Unser Ziel muß sein, das Menschenmögliche an Wiedergutmachung zu -leisten. Denn Empfänger dieser Leistungen sind nicht allein die durch Unrecht Verfolgten, sondern ist die gesamte Rechtsgemeinschaft, weil es darum geht, Deutschland wieder ehrlich zu machen. Auch bleibt uns die schmerzliche Einsicht nicht versagt, wie klein selbst die größte Leistung leider sein wird angesichts des Übermaßes an Unmenschlichkeit, das geschehen ist. Nichts wird das Blut und die Tränen auslöschen können, die für immer diese Blätter der deutschen Geschichte trüben und verdunkeln. Aber wir wollen ein neues Blatt der Geschichte beginnen, das
die Aufschrift tragen soll: Helfen, um wiedergutzumachen! Durch dieses Parlament geht außen- und innenpolitisch ein Riß der fast unversöhnlichen Gegensätze. Um so herzlicher darf ich Sie alle rufen: Reichen wir uns zu diesem Werk der Versöhnung die Hand! Wir sind aufgefordert, hier allen Streit schweigen zu lassen und uns zu finden im Geist der Menschlichkeit.