Rede von
Margarete
Hütter
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Es fällt mir nicht leicht, nach den Reden des heutigen Tages und insbesondere nach der sachlich echten und bewegenden Rede des Herrn Kollegen Lemmer heute vormittag — meines alten Führers aus der Zeit der zwanziger Jahre, als er noch der jüngste demokratische Abgeordnete in Berlin war
und ich selbst zu den Jungdemokraten gehörte — eine kritische Frage aufgreifen zu müssen, die wir nicht das erste Mal in großen politischen Zusammenhängen diskutieren: die Frage der sogenannten Kriegsverbrecher. Sie stand schon mehrfach auf der Tagesordnung dieses Hohen Hauses. Dennoch ist es nie zu einer Grundsatzdebatte gekommen, weil die Bundesregierung über eine Bereinigung dieser Frage monatelang verhandelte und wir mit Rücksicht auf die laufenden Verhandlungen nicht eingreifen wollten. Heute ist es nun so weit, daß wir uns mit der Frage befassen müssen, die ich als eines der Hauptstücke des Generalvertrags betrachte und die nicht nur eine rechtliche, sondern und vor allem eine menschliche und auch eine politische ist.
Was mich angesichts der vielen Menschen im Gewahrsam der östlichen und westlichen Mächte bewegt, was uns Männer und Frauen der Kriegsgeneration am nächsten angeht — uns, die Frauen der Gefangenen und Vermißten und die Heimkehrer — und was unser Gewissen beunruhigt und uns bange Zweifel aufdrängt, das ist die Frage: Verringert nicht das neue Vertragswerk die Hoffnung unserer Gefangenen in der Sowjetunion auf Heimkehr? Als sich in dieser Sache der greise evangelische Landesbischof Dr. Theophil Wurm aus meiner Heimatstadt Stuttgart kürzlich an Winston Churchill wandte, tat er es mit den Worten: „Ich denke, daß der Mann, der die Initiative zur staatlichen Einigung der europäischen Staaten ergriffen hat, am ehesten Kraft und Mut besitzt, zur Beseitigung der letzten Kräfte des Geistes von Nürnberg — wie sie auch in dem neuen Vertragswerk noch gefährlich nachwirken — die Initiative zu ergreifen. Es ist eine Tat der Gerechtigkeit und der Weisheit, die ich von Ihnen erbitte."
Meine Herren und Damen, solange die Sowjetunion sieht, daß der Westen noch immer Deutsche zurückhält, fühlt sie sich womöglich zu Gleichem berechtigt. Ich und mit mir Hunderttausende von Schicksalsgefährten ersuchen daher die Bundesregierung, sie möge auch jetzt mit tiefstem Ernst überlegen, was für unsere Gefangenen in der Sowjetunion, deutsche Männer und Frauen, getan werden kann, welcher Preis gegebenenfalls für sie geboten werden muß. Hätte man angesichts dieser gemeinsamen Verpflichtung gegenüber unseren Gefangenen im Osten nicht die drei westlichen Vertragspartner zu entscheidenden Zugeständnissen
für unsere Gefangenen in ihrer Hand bewegen können?
Was nun die Regelung der sogenannten Kriegsverbrecherfrage im Generalvertrag angeht, so finden wir sie in Art. 6 des Überleitungsvertrags, der sich auf die künftigen Verfahren der Behandlung dieser Frage bezieht. Nach diesem Artikel soll ein gemischter Ausschuß, bestehend aus drei deutschen und drei alliierten Mitgliedern, nämlich je einem Engländer, einem Franzosen und einem Amerikaner gebildet werden. Seine Befugnisse erstrecken sich auf Empfehlungen an die Besatzungsländer für die Beendigung oder Herabsetzung der Strafen, wobei nur einstimmige Empfehlungen bindend sind, während Mehrheitsbeschlüsse ausgeführt werden können, aber nicht müssen.
Eine andere Bestimmung in dem Abs. 4 des Art. 6 bringt zum Ausdruck, daß sich die Alliierten die Fortsetzung des Strafvollzugs auf deutschem Gebiet solange vorbehalten, bis die Deutschen in der Lage sind, ihn zu übernehmen.
Im Abs. 5 des Art. 6 verpflichtet sich die Bundesregierung ausdrücklich, daß sie nach Übertragung des Gewahrsams durch die Drei Mächte die übergebenen Personen unter denselben Bedingungen in Haft halten wird, wie sie für ihre Haft im Zeitpunkt dieser Übertragung des Gewahrsams gelten.
Damit begibt sich die Bundesregierung der Möglichkeit, künftig Menschen, die sie in Haft hält, Recht zukommen zu lassen. Wenn auch nach Abs. 1 eine ausdrückliche Anerkennung der Urteile nicht verlangt wird, so gibt immerhin die Feststellung zu Bedenken Anlaß, daß die Gültigkeit der Urteile nicht in Frage gestellt werden darf. Wir können uns daher mit dieser Regelung nicht zufrieden geben; denn da die Urteile selbst unangetastet bleiben, kann eine echte Überprüfung, also eine Revision nicht stattfinden. Außerdem möchte ich darauf hinweisen, daß diese Regelung nur für die auf deutschem Gebiet Inhaftierten Gültigkeit hat, also die ca. 700 Gefangenen auf außerdeutschem Boden innerhalb Europas nicht betrifft. Diese unterstehen nach wie vor ihren Gewahrsamsländern.
Um was für Urteile handelt es sich nun da, die wir unbesehen übernehmen müssen, und auf was für Recht waren sie gegründet? Das Erschreckende an den Kriegsverbrecherprozessen war die Anwendung eines Rechts, das nirgendwo früher galt und den Verurteilten auch nicht bekannt war. Es wurde geschaffen, als der Krieg zur Neige ging und sein Ausgang zugunsten der Alliierten sichtbar war.
So wurde z. B. erst im April 1944 in aller Stille der § 443 des Kap. 14 des Britischen Militärgesetzbuches geändert, der bisher besagte, daß derjenige vom Feind nicht bestraft werden kann, der auf höheren Befehl handelt. Das entsprechende amerikanische Gesetz „Regeln der Landkriegsführung" wurde in gleichem Sinne erst im November 1944 geändert. Die Grundlage für die Verfahren in Frankreich sind bekanntlich die Ordonnance vom 28. August 1944, die also noch während des Krieges, und zwar von der französischen Exilregierung in Algier erlassen wurde, und das Gesetz vom 15. September 1948, die sogenannte Lex Oradour. Auch das norwegische Recht wurde im Herbst 1944 von der Exilregierung in London in der Weise ergänzt, daß nunmehr die Verurteilung Angehöriger der deutschen Besatzungsmacht in Norwegen möglich war.
Wir sehen, es wurde ein ad hoc geschaffenes Sonderrecht angewandt, das dem international anerkannten Grundsatz Nulla poena sine lege widerspricht. Das Trauerspiel endet damit, daß z. B. das britische Militärgesetzbuch in Anerkennung dieses Grundsatzes im Jahre 1950 wieder seine alte Fassung erhielt. Demgegenüber sei noch der § 92 des Deutschen Militärstrafgesetzbuches in seiner Fassung vom 10. September 1940 zitiert, wo es heißt:
„Wer einen Befehl in Dienstsachen nicht befolgt und dadurch . . . einen erheblichen Nachteil herbeiführt, wird mit geschärftem Arrest, . . . mit Gefängnis oder Festungshaft bis zu 10 Jahren bestraft. Wird die Tat im Felde begangen oder liegt ein besonders schwerer Fall vor, so kann auf Todesstrafe . . . erkannt werden."
Meine Herren und Damen! Die Frage des militärischen Gehorsams stand im Mittelpunkt der Prozesse. Die meisten Verurteilungen beruhten auf der Nichtanerkennung des Befehlsnotstands. Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß selbst die neue Genfer Konvention die Rechtsgrundlagen der Nürnberger Prozesse nicht übernommen hat. Als Begründung gab ein Alliierter an: „Wir wissen nicht, wie die Dinge in einem neuen Krieg aussehen werden."
Auf die vielen anderen Mängel der Rechtsfindung wie Aussagen unter Druck und andere Dinge möchte ich gar nicht erst eingehen. Kennzeichnend sind die zahlreichen kritischen Stimmen aus dem Ausland, darunter Churchill, Taft, Lord Hankey, der Bischof von Chichester, Frieda Utley, Maître Donnedieu de Varbres, Montgomery, Belgion. Es blieb dem britischen Feldmarschall Montgomery vorbehalten, am 26. Juni 1946 in Portsmouth zu betonen, daß unbedingter Gehorsam selbstverständliche Voraussetzung für jeden Soldaten ist, während Paget, der Verteidiger Man-steins, über den Begriff der militärischen Notwendigkeit in seinem Schlußplädoyer die Worte sprach:
Wenn die Zerstörung Dresdens am 13. Februar 1945 eine militärische Notwendigkeit
war, dann ist der Begriff der militärischen
Notwendigkeit dehnbar genug, um auch das
zu umfassen, was Manstein tat. Es liegt wirk-
lich eine große Ironie darin, einen Mann in
einer Stadt wie Hamburg vor Gericht zu
stellen dafür, daß er Städte zerstörte.
Nach alledem kommen wir zu dem Ergebnis, daß der überwiegende Teil der so gefällten Urteile — die Juristen sprechen von 85 bis 90 % — zu Unrecht gefällt wurde. Schon am 14. November 1950 hat der Herr Bundesjustizminister von dieser Stelle aus dargelegt, daß und warum wir nach der Idee des Rechtsstaates und dem Wortlaut unseres Grundgesetzes jene Urteile nicht anerkennen können. Denn das Grundgesetz sieht in seinem Art. 103 Abs. 2 vor, daß die Anwendung rückwirkender Strafgesetze nicht gestattet ist. Das Kontrollratsgesetz Nr. 10, auf Grund dessen alle sogenannten Kriegsverbrecher verurteilt sind, ist aber ein solches, und bei Anwendung der zur Zeit der Tat gültigen Strafgesetze wären die meisten sogenannten Kriegsverbrecher nicht verurteilt worden. Hieraus geht einwandfrei hervor, daß die Übernahme derjenigen Kriegsverbrecher, die nach der Revision durch den Ausschuß dem deutschen Strafvollzug unterstellt werden sollen, so lange verfassungswidrig ist, bis eine erneute Verurteilung nach deutschem Strafrecht stattgefunden hat.
Nach § 90 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes kann jedermann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 33, 101, 103 und 104 des Grundgesetzes enthaltenen Rechte verletzt zu sein, die Verfassungsbeschwerde erheben. Es ist nicht anzunehmen, daß, würde man so verfahren und die Prozesse neu aufrollen, noch viele Kriegsverbrecher übrigblieben, wenn man berechnet, daß sie alle eine Zuchthausstrafe von sieben und unter Anrechnung der good-conduct-time, d. h. des Erlasses eines Drittels der Strafe bei guter Führung, von 101/2 Jahren bereits hinter sich haben.
Es bleibt also nach unserer Überzeugung eigentlich nur der Weg der Bereinigung dieser Frage. Viele Gründe sprechen dafür, wenige dagegen. Berücksichtigt man außerdem, daß außer der bereits verbüßten Strafzeit von 101/2 Jahren mehrere Tausende seit 1945 hingerichtet wurden, so kann man heute mit guten Gründen sagen, daß nur noch wenige von den über 600 Gefangenen in Landsberg, Wittlich und Werl leben, die vielleicht eine höhere Strafzeit als 101/2 Jahre Zuchthaus verdient hätten.
Es gehört nun zum Wesen jeder Bereinigung einer Nachkriegsepoche. daß auch einige Schuldige daraus Nutzen ziehen. Wir müssen die Liquidierung dieser Frage, den endgültigen Schlußstrich — sei es auf dem Wege der Amnestie oder auf einem anderen möglichst schnellen Wege — trotzdem fordern. Denn die baldige Freiheit von einigen hundert Gefangenen ist nicht anders zu erreichen. Sie wiegt nach den Grundsätzen jedes Rechtsstaats schwerer als die Freilassung weniger noch Schuldiger.
Demgegenüber verschließt der Art. 6 eine echte Revision aller Urteile. Denn wer weiß, wann endlich die in Art. 6 vorgesehene Kommission ihre Arbeit aufnehmen wird, wann sie sich ihre Verfahrensvorschriften gibt, bis wann sie die Zehntausende von Seiten Akten und Dokumenten in die beiden anderen Sprachen übersetzt haben wird, wann endlich die ersten Ergebnisse vorliegen, Ergebnisse, die stets keine echte Revision sind, auf Grund deren dann aber die Bundesregierung die übrigen Gefangenen einmal übernehmen soll. Man ist auf amtlicher deutscher Seite der Ansicht, daß von der Möglichkeit des Art. 6 Abs. 9 Gebrauch gemacht wird, heißt es im Bulletin der Bundesregierung vom 17. Juni 1952, und daß noch vor Beginn der Tätigkeit des gemischten Ausschusses die Drei Mächte im Gnadenverfahren weitere Entlassungen durchführen würden. Die Bundesregierung nehme an, daß dadurch die Zahl der Fälle, die dann noch zur Entscheidung stehen, erheblich vermindert sein wird. Der gemischte Ausschuß könne dann in relativ kurzer Zeit die restlichen Fälle einer Lösung zuführen.
Die mir vorliegenden Informationen scheinen dafür zu sprechen, daß die Amerikaner in Landsberg im Gegensatz zur Praxis der Franzosen in Wittlich nur geringen Gebrauch davon zu machen gedenken und fast alles der späteren Kommission überlassen werden. So äußerte sich ein hoher amerikanischer Beamter Ende vorigen Monats noch in Landsberg gegenüber den Gefangenen: „Sie meinen. Sie brauchten nur noch drei Monate zu warten? Nein. es gibt keine Entlassungen vor Ratifizierung. Erst unterschreiben!"
Meine Herren und Damen, es trifft bestimmt zu, wie uns der Herr Bundeskanzler versichert hat, daß die Verhandlungen zum Generalvertrag in der angenehmen Atmosphäre vertrauender Partner geführt wurden. Ob aber der Geist des Vertrauens auch die Verantwortlichen für die Ausführung des Vertrags beherrschen wird, ist mehr als fraglich.
Es ist aus naheliegenden psychologischen Gründen zu befürchten, daß jeder der fremden Vertreter im gemischten Ausschuß bestrebt sein wird, einen beträchtlichen Rest von sogenannten Kriegsverbrechern, die von Gerichten seines Staates verurteilt sind, als endgültige Verbrecher übrigzulassen, und daß die fremden Vertreter aus Gründen der Gegenseitigkeit einander unterstützen werden. Hiergegen werden die deutschen Vertreter und die Bundesregierung machtlos sein.
Das Verfahren nach Art. 6 wird sich auch auf die zahlreichen Fälle, die nicht darunter fallen, schädlich auswirken. In Frankreich, Holland usw. wird man die Einleitung der Liquidierung des Gefangenenproblems zurückstellen, bis der gemischte Ausschuß seine Tätigkeit aufnimmt, dann, bis seine Praxis zu übersehen ist, und schließlich vielleicht, bis alle Fälle von dem Ausschuß entschieden sind.
Wir sehen aus der Problematik der Materie, daß wir uns mit der im Generalvertrag vorgesehenen Regelung der Kriegsverbrecherfrage nicht zufrieden geben dürfen, da einerseits die Urteile unangetastet bleiben müssen und andererseits einer Begnadigung der Betroffenen viele Hindernisse im Wege stehen. Sie ist auch nicht vereinbar mit dem Gedanken der Partnerschaft. Dazu schrieb mir in diesen Tagen ein vor kurzem von den Westmächten entlassener Gefangener, daß es untragbar wäre, wenn die Söhne der aus dem letzten Krieg noch nicht heimgekehrten sogenannten Kriegsverbrecher, die noch im Gefängnis und Zuchthaus sitzen, den Waffenrock anziehen müßten.
Man ist sich in weiten Kreisen darüber einig, daß das Problem der sogenannten Kriegsverbrecher gelöst werden muß. Es darf nicht den Weg in ein neues Europa vergiften. Es muß gelöst werden, bevor sich im nächsten Wahlkampf die Nationalisten seiner bemächtigen und es für ihre Zwecke mißbrauchen.
Man bedenke, daß das politische Gewicht jedes einzelnen unschuldigen Gefangenen von Tag zu Tag zunimmt und daß diese Frage einmal eine furchtbare politische Reaktion heraufbeschwören kann, deren wir, die wir die Zusammenarbeit mit dem Westen grundsätzlich bejahen, nicht mehr Herr werden würden,
weil das deutsche Volk das Vertrauen zu uns verlieren muß, wenn wir mit diesem Problem nicht tabula rasa machen.
Das Mitglied desbritischen Oberhauses Lord Hankey sagte kürzlich, kein Engländer würde bereit sein, sich mit den Deutschen zu verbünden, solange britische Feldmarschälle und Admirale von den Deutschen im Tower gefangengehalten würden; und Marschall Juin hat, als Göring ihn 1942 dazu bewegen wollte, daß die Franzosen zusammen mit den Deutschen die französischen Kolonialgebiete verteidigen sollten, geantwortet, daß er dies seinen Truppen nicht zumuten könne, solange sich noch französische Gefangene in Deutschland befänden. Glaubt man, daß die Deutschen weniger Ehrgefühl haben sollten, als Lord Hankey und
Marschall Juin mit Recht bei ihren Landsleuten voraussetzen?
Meine Herren und Damen, mein Wunsch geht dahin, daß eine zusätzliche Regelung gefunden wird, die der von mir aufgeworfenen Problematik voll und ganz gerecht wird. Ich berufe mich dabei auf die Ausführungen des Herrn Justizministers vom November 1950 und auf die Entschließung der Regierungsparteien vom 8. Februar dieses Jahres und komme zum Schluß, indem ich Ihnen die Worte des britischen Prime Minister Marquess of Salisbury zu bedenken gebe: Die ganze Kunst der Politik besteht darin, kleine Probleme zu regeln, bevor sie zu großen Problemen anwachsen.
Wir müssen der Bundesregierung und den Alliierten immer wieder mit der ganzen Kraft unseres Gewissens vorhalten, daß ohne eine realistische Lösung des Problems der sogenannten Kriegsverbrecher der positive Geist der großen westlichen Allianz überschattet bleibt.