Rede von
Dr.
Kurt Georg
Kiesinger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Ollenhauer, ein Wort vorweg: Sie haben sich soeben über eine Interpretation beklagt, die der Herr Bundeskanzler gewissen Äußerungen gegeben hat, die Sie gemacht haben. Ich möchte mich nicht lange bei dem Thema aufhalten. Aber ich will doch darauf hinweisen, daß es auch für unsereinen schwer war, zuzuhören, als Herr Wehner Äußerungen, die der Herr Staatssekretär Kalistein getan hatte, und Äußerungen,
die der Herr Bundeskanzler in Siegen getan hatte, Äußerungen, die Sie allenfalls als einen Lapsus linguae hätten tadeln können
— allenfalls, wenn Sie es hätten tun wollen —, sogar eine wirkliche, realistische politische Konzeption unterstellt hat, so, als ob wirklich der Herr Bundeskanzler und der Herr Staatssekretär daran gedacht hätten, eine deutsche Außenpolitik einer Neuordnung bis zum Ural zu betreiben.
Sie alle wissen ganz genau, daß keiner der beiden auch nur im Traume an etwas Derartiges gedacht hat.
Wer also selbst im Glashause sitzt, sollte vorsichtig sein, wenn er mit Steinen wirft.
Nun aber zur Sache. Herr Ollenhauer, Sie haben heute Argumente vorgebracht, von denen ich sagen muß, daß sie zu den schwächsten gehören, die ich bisher zu einem außenpolitischen Thema von der sozialdemokratischen Seite in diesem Hause gehört habe.
Ich will nicht nur diese Behauptung aufstellen, sondern ich will versuchen, auf Ihre Argumentation zum Schluß noch einmal einzugehen. Ich bin einverstanden mit Ihrer Grundthese — und wir alle sind es —, die bedeutet, daß eine deutsche Einigung in Frieden und Freiheit nur über eine Verhandlung und Verständigung der vier Großmächte zustande kommen kann. Ich bin einverstanden mit Ihrer zweiten These — und wir alle sind es sicherlich —, daß wir nichts tun sollten, was eine ernsthafte — dies ist Ihr eigenes Wort — Verhandlung der Vier erschweren oder hemmen könnte. Ich möchte Ihre Formulierung so korrigieren, daß wir nichts tun sollten, was eine ernsthafte und die deutschen Interessen nicht gefährdende Verhandlung der Vier erschweren oder hemmen könnte.
Aber dann kamen Sie zu Ihren anderen Thesen. Sie haben die hier heute abend schon vielfach beanstandete These vertreten, daß wir allen Partnern so gegenübertreten sollten: in gleicher Wertung und in gleicher Bedeutung. Sie haben damit ausdrücken wollen, wenn ich Sie recht verstehe, daß diese Partner für uns in der Verhandlung technisch gleichwertig und gleichbedeutend seien. Vielleicht haben Sie auch sagen wollen, und Sie haben es zu anderer Zeit und bei anderer Gelegenheit schon einmal gesagt, daß diese vier Partner für uns jeder für sich existieren und also auch so von uns behandelt werden müßten. Ich halte diese These für falsch. Das Wesentliche dazu hat mein Freund von Brentano schon gesagt. Bei jeder Verhandlung weiß man doch, wer es gut mit einem meint und wer es schlecht mit einem meint.
— Ich hoffe, daß keiner in den Reihen der SPD etwa meiner These widerstreitet, daß sicherlich Rußland es nicht gut mit uns meint.
Wenn aus einigen Äußerungen Ihrer Freunde herausgeklungen ist, daß es der Westen ja auch nicht
so gut mit uns meine, und daß er ausschließlich egoistische Politik betreibe, dann darf ich doch darauf hinweisen, daß ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen der Haltung des Westens uns gegenüber und der Haltung des Ostens uns gegenüber besteht,
und sei es nur dewegen, weil die Interessen des Westens und die unsrigen um der Freiheit willen identisch sind.
— Wenn ich von Freiheit spreche, verehrter Herr? Das höre ich höchst ungern aus Ihrem Mundet Sollten Sie denn das Wort Freiheit auch bereits angeknabbert haben?
Nun das weitere Argument. Wenn ich recht verstanden habe, Herr Ollenhauer, wollten Sie sagen, daß wir nicht etwa das westliche Lager als den einen Partner und den Osten als den anderen an- sehen sollten. Vielleicht bestehen solche Gefahren. Gerade darum ist es für uns wichtig, daß das westliche Lager, bevor eine , Viererkonferenz zustande kommt, mit uns zusammen seine Dinge bereinigt hat und daß es dann einheitlich bei solchen Verhandlungen auftritt.
Das ist ein außerordentlich wichtiger Gesichtspunkt.
Sie haben weiter gesagt, Selbstbeschränkung in einer solchen Situation sei außerordentlich weise. Sie haben diesen Gedanken mit dem Hinweis auf das Provisorium der Bundesrepublik verbunden. Sie lieben ja diesen Hinweis neuerdings bei vielen Fragen, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: Immer dann, wenn es um wirklich wichtige und große Entscheidungen geht, die Ihnen nicht ins Konzept passen, ist die Bundesrepublik ein Provisorum.
Ich hätte es gern gesehen, wenn Ihnen einmal der Ernstfall vorgelegen hätte, eine große Entscheidung zu treffen, die auch Ihnen ins Konzept gepaßt hätte. Da hätte ich sehen mögen, ob Sie dann auch den Einwand gemacht hätten, die Bundesrepublik sei ein Provisorium. Ich bin überzeugt, Sie hätten es nicht getan.
— Das ist keine Rabulistik, Herr Kollege Schoettle! Sie gebrauchen dieses Argument, die Bundesrepublik sei ein Provisorum, auch auf anderen Ebenen. Warum? Weil die Entscheidungen, die anstehen, nicht die Ihrigen sind! Das ist doch der Grund.
— Natürlich sind es deutsche Entscheidungen!
— Richtig; Herr Wehner! Weil wir in deutschen Entscheidungen gemeinsam handeln sollten, würde ich lieber einmal aus Ihren Reihen ein Ja statt Ihres ewigen Nein hören.
Herr Kollege Ollenhauer, Sie haben gesagt, Selbstbeschränkung wäre in dieser Situation weise. Ich denke, es ist gerade umgekehrt. Wenn schon das Schicksal einem Teile des deutschen Volkes, nämlich uns, die Gelegenheit in die Hand gegeben hat, Sachwalter der Interessen des ganzen deutschen Volkes zu sein,
dann wäre es eine sträfliche Unterlassung, wenn wir nicht jede Gelegenheit, die sich uns böte, diese Interessen wahrzunehmen, auch wirklich ausnützten.
Selbstbeschränkung ist da weise, wo etwas angepackt werden soll, was nicht möglich ist.
Die Politik, die die Bundesregierung betreibt, ist eine Politik des Möglichen; das hat sie bis jetzt bewiesen, und das wird sie auch in der Zukunft beweisen.
Herr Kollege Schmid fragte in seinen Ausführungen, was es für einen Sinn habe, jetzt die Verhandlungen mit dem Westen weiterzuführen, wenn ein Gespräch mit dem Osten eröffnet werden solle; man müsse doch dem Russen noch ein Interesse offenlassen. Ja, so sind die meisten Ihrer Formulierungen: vage, offen nach allen Seiten. Welches Interesse — bitte, nennen Sie es mir! — soll man dem Russen offenlassen?
— Den Frieden, den wollen wir! Ich hoffe nur, Herr Renner, daß auch Sie deli Frieden wollen!
Welches Interesse ist denn das? Sie sehen doch das Interesse, das der Russe hat! Zunächst hat er ganz klar und deutlich eines, nämlich das, Deutschland zu neutralisieren und damit zu paralysieren. Das ist das russische Interesse!
Die russischen Interessen liegen — wie es gerade eben Herr Ollenhauer noch gesagt hat — nicht nur bei der deutschen Frage; es sind Interessen, die den ganzen Planeten angehen, und wir sollten bei der Betrachtung der deutschen Frage diese planetarische Situation nie aus dem Auge lassen.
Ich habe in den Ausführungen der sozialdemokratischen Redner heute abend überhaupt eine seltsame Armut des Wortschatzes bemerkt.
Es ist so gewesen, als lebten wir noch in den
Zeiten, sagen wir einmal, vor 1914. Da war die
Rede von einer selbständigen, unabhängigen deutschen Außenpolitik, von selbständigen Entscheidungen der deutschen Regierung; da war die Rede
davon, daß man .sich zwischen dem Westen und dem Osten Unabhängigkeit und Bewegungsfreiheit bewahren müsse.
Nun, meine Damen und Herren, im Faust II. Teil gibt es irgendwo das Wort: „Den lieb' ich, der Unmögliches begehrt."
Aber es war eine Frau, die dieses Wort ausgesprochen hat, und sie hat es nicht unter politischen Gesichtspunkten getan.
Die Weltsituation von heute — niemand von Ihnen kann es leugnen — verträgt Feststellungen wie die einer deutschen unabhängigen Politik schlechthin nicht.
— Gut, Herr Wehner, dann müssen Sie aber diese Ausdrücke von vornherein vorsichtiger formulieren!
Herr Wehner, Sie haben gesagt, man solle in einer solchen Situation nicht eine Politik betreiben, die die Gefahr in sich berge, daß eine Tür zuschlagen könnte. Herr Wehner, wir leben in einem sehr zugigen Hause! Dieses Haus hat mehrere Türen, und mehrere Türen können zuschlagen.
Damit komme ich auf die nach meiner Überzeugung falsche Grundthese der Sozialdemokraten.
— Herr Wehner, ich habe Sie vorhin ausreden lassen,
ich bitte Sie um die Höflichkeit, nun auch mich ausreden zu lassen!
— Ja, ja, sie kommen!
Ich komme nun auf die falsche Grundthese der sozialdemokratischen Außenpolitik. Wenn ich mich recht erinnere, ist sie zweimal in diesem Hause proklamiert worden, einmal von Herrn Dr. Schumacher, und wiederholt von Herrn Dr. Arndt. Es war die These: Wir können es uns leisten, wir haben Zeit, denn die Amerikaner sind auf uns angewiesen.
— Herr Dr. Arndt, dieses Haus erinnert sich an Ihre und an Herrn Dr. Schumachers Worte!
— Dem Sinne nach lauteten die Worte so, wie ich es eben sagte! Wir haben es protokollarisch, Sie können es nachlesen!
Dem Sinne nach haben Sie das gesagt.
Die Frage, um die es geht, ist die Möglichkeit, ob
die Amerikaner eine andere Politik betreiben
könnten als die einer Unterstützung Deutschlands gegenüber dem Osten, und diese Möglichkeit haben Sie, Herr Dr. Arndt, wenn überhaupt noch Worte einen Sinn haben, damals verneint.
Und Herr Dr. Schumacher hat das auch gesagt. Deswegen glauben Sie jetzt, bei dieser Frage den Westen einfach liegenlassen zu können, ja, manchmal habe ich geradezu das Gefühl, den Westen brüskieren zu können. Wir sind mit dem Westen in sehr wichtigen Verhandlungen, die uns nicht selbstverständlich und in der Automatik der Dinge zugefallen sind. Sie verlangen nun, .daß diese Verhandlungen einfach gestoppt werden und daß wir um irgendeiner vagen Chance willen auf ein Gespräch der Vier dringen sollten, und das in welcher Situation!
Herr Ollenhauer, Sie haben davon gesprochen, daß eine deutsche Regierung bei einem etwa kommenden Vierergespräch Bewegungsfreiheit oder Unabhängigkeit haben müsse. Mir scheint es viel wichtiger zu sein, daß eine deutsche Regierung, daß Deutschland bei einem kommenden Vierergespräch eine günstige und gesicherte Position hat.
Das ist ein sehr wesentlicher anderer Gesichtspunkt. Glauben Sie — ich habe diese Frage schon ein anderes Mal an Sie gestellt —, daß die deutsche Position bei einem kommenden Vierergespräch dann besser ist, wenn wir unser Verhältnis mit dem Westen bereinigt haben, und zwar unsere Position allen Partnern gegenüber, oder wenn wir als ein bloßes Objekt in der Luft schweben, über das man verfügen kann?
Ich glaube wirklich, diese Frage stellen heißt, sie sofort beantworten; denn wenn wir unser Verhältnis mit dem Westen bereinigt haben, dann haben nicht nur wir, sondern dann hat auch der Westen Verpflichtungen übernommen.
Wenn diese Verhandlungen stattfinden, ohne daß eine solche Bereinigung erfolgt ist, dann allerdings schweben wir in der Luft und laufen Gefahr, daß mit uns Dinge geschehen, die uns nicht lieb sein würden.
Hier liegt das Problem, und hier sind wir uns in Wahrheit nicht einig. Wir sollten diese Gegensätze ganz klar ansprechen und aussprechen.
— Nun, Herr Dr. Arndt, ich wäre außerordentlich froh, wenn Sie etwas anderes gemeint hätten; denn ich halte diese These der SPD für äußerst gefährlich, für eine These, die, wenn sie die Grundlage einer deutschen Außenpolitik bilden würde, uns in die verhängnisvollste Situation führen könnte.
Ich finde also, man sollte nicht so tun, als ob Sowjetrußland, wenn nun die Gespräche mit dem
Westen weitergehen und wenn es mit dem Westen zu einer Verständigung kommt, keine Möglichkeit mehr hätte, zu verhandeln, und als ob dann wirklich eine Tür endgültig zugeschlagen sei. Ich halte die Konzeption des Herrn Bundeskanzlers für vollkommen richtig, daß, wenn wir die Verhandlungen mit dem Westen weiterführen und wir mit ihm zu einer Verständigung kommen, dann erst Sowjetrußland gezwungen wird,
echte Angebote zu machen.
— Ja, natürlich, Herr Renner! Glauben Sie ernsthaft, daß Sowjetrußland uns etwas auf schönes Bitten hin geben wird?
— Wenn ich. sage „gezwungen", dann meine ich ganz einfach
jenen Zwang, den Sowjetrußland im Kalten Krieg
ja reichlich und sehr raffiniert anzuwenden weiß.
— Ihr Urteil, Herr Fisch, ist ganz bestimmt nicht maßgebend. Im Gegenteil, ich freue mich, wenn ich Ihren Protest errege; denn dann habe ich so ziemlich die Gewißheit, daß ich auf dem rechten Weg bin.
Darum also geht es: Die deutsche Situation, vor allen Dingen die gesamtdeutsche Situation, wird nicht verschlechtert, wenn eine Einigung mit dem Westen kommt. Mein Freund Tillmanns hat vollkommen recht: es gibt nicht das eine oder das andere, oder das eine nach dem anderen, sondern es gibt das eine und das andere.
Es ist immer ein sehr schlechtes Prinzip einer Außenpolitik gewesen, wenn man ein schwierig zu erreichendes Hauptziel auf dem direkten Weg glaubt anstreben zu müssen, das heißt, wenn man glaubt, dem Qualitätsvorrang den zeitlichen Vorrang bergesellen zu müssen. Sehr häufig wird dadurch, daß man den zeitlichen Vorrang proklamiert, der Qualitätsvorrang zerschlagen.
— Die Deutschen, Herr Rische, in der Deutschen Demokratischen Republik sind nicht identisch mit den derzeitigen Machthabern der Deutschen Demokratischen Republik.
Zahllose Briefe und Botschaften von drüben erreichen uns, die uns sagen: Bleibt auf eurem Weg fest und laßt euch nicht beirren!
Die Deutschen drüben — Berlin hat es gezeigt — wissen besser, worauf es ankommt. Daß z. B. jüngst Frau Helene Wessel mit ihrer Konzeption gerade in Berlin Schiffbruch erlitten hat,
ist ein gutes Zeichen für die Politik des Bundeskanzlers.
So, also, glaube ich, sollten wir die Dinge sehen, und wir sollten uns ganz klar und fest auf der einmal eingeschlagenen Linie weiterbewegen. Es werden keine Türen nach dem Osten zugeschlagen. Der Osten ist nicht so zart besaitet. Das, was Rußland uns und dem Westen anzubieten hat, ist sehr viel mehr als das, was Rußland bisher geboten hat. Die Antwortnote, die der Westen gegeben hat, ist keine Absage an Sowjetrußland gewesen, und die Sowjetrussen haben das sehr viel besser begriffen als Sie, meine Herren [zur KPD]. Sie werden es auch in der Zukunft begreifen.
Noch eins möchte ich zum Schluß sagen. Wir haben heute den ganzen Tag über die deutsche Frage geredet. Ich habe bedauert, daß gerade aus den Kreisen der Partei, die einmal so sehr das Internationale ihres Programms betont hat, das deutsche Problem so isoliert, so antiquiert isoliert, angesprochen worden ist.
Wir haben eine deutsche Aufgabe, aber wir haben eine deutsche Aufgabe in einer konkreten Situation. Diese konkrete Situation sieht uns nicht isoliert in irgendeiner vagen Welt, sondern sie sieht uns hineingestellt in eine heraufkommende ganz neue Welt. Diese heraufkommende neue Welt heißt zunächst einmal für uns: Deutschland i n Europa und Deutschland und Europa. Nur wenn wir Deutschen den europäischen, den freiheitlichen europäischen Weg gehen, wird unser Mühen am Ende von Erfolg gekrönt sein.