Rede von
Willy
Brandt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Fraktion respektiert das Anliegen der Antragsteller und ist
damit einverstanden, daß diese Angelegenheit im Ausschuß behandelt wird. Wir möchten aber gelegentlich der Behandlung dieses Antrags die Aufmerksamkeit des Hohen Hauses und der Bundesregierung auf Vorgänge lenken, die uns aus Göttingen bekanntgeworden sind und für die es möglicherweise an anderen Orten der Bundesrepublik Parallelen gibt.
Der Sachverhalt, der mir selber vor wenigen Wochen in Göttingen von den Betroffenen dargestellt wurde, ist folgender. Eine Reihe von Bürgern der eben erwähnten Stadt, darunter namhafte Universitätslehrer, werden regelmäßig zur Kriminalpolizei bestellt und werden in Zusammenhang mit Briefsendungen, die sie aus der sowjetischen Besatzungszone erhalten, von der Polizei befragt. Diese Maßnahmen scheinen auf Veranlassung der britischen Behörden zu erfolgen, und es soll regelmäßig vorkommen, daß so Vorgeladene gebeten werden, eine Vollmacht zu unterschreiben, durch die die Polizei ermächtigt wird, Postsendungen — in diesem Fall aus der Sowjetzone — gleich einzubehalten, wobei schleierhaft ist, wie die Polizei, ohne das Briefgeheimnis zu verletzen, feststellen will, welche Briefe von wem kommen, und wie sie äußerlich zwischen Propagandasendungen und anderen Briefsendungen unterscheiden will, die der Betreffende erhält. Uns ist über einen der betroffenen Professoren in Göttingen bekanntgeworden, daß ihn, nachdem er sich geweigert hat, der Polizei eine solche Vollmacht zu geben, vierzehntäglich weiterhin solche Vorladungen zur Polizei erreichen.
Die sozialdemokratische Fraktion hält es gewiß für erforderlich, daß die Propaganda aus der sowjetischen Zone genau beobachtet und — wo irgend möglich — eingedämmt wird. Aber sie ist nicht bereit, dieses politischen Zieles wegen das Briefgeheimnis preiszugeben; sie ist vor allem nicht bereit, willkürlichen Maßnahmen zuzustimmen, wenn sie vielleicht auch in relativ milder Form angewandt werden. Die Antragsteller möchten die Wahrung des Briefgeheimnisses, wie es im Antrag heißt, „den modernen Verhältnissen anpassen". Was ich Ihnen eben in diesem Fall aus Göttingen berichtet habe, scheint uns dieser Zielsetzung nicht zu entsprechen. Wir werden im Ausschuß auf diese Dinge zurückkommen, wollten aber heute schon vor diesem Hohen Hause klargelegt haben, daß wir keine politische Zensur und keine willkürlichen Vorladungen der Polizei im Zusammenhang mit Briefsendungen akzeptieren können.