Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag auf Drucksache Nr. 3088 wünscht eine Erweiterung des § 299 StGB. und seine Anpassung an die modernen Verhältnisse. Der § 299 StGB. heißt jetzt:
Wer einen verschlossenen Brief oder eine andere verschlossene Urkunde, die nicht zu seiner Kenntnisnahme bestimmt ist, vorsätzlich und unbefugterweise eröffnet, wird mit Geldstrafe
oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft.
Das bedeutet, daß nur das unbefugte und vorsätzliche Eröffnen von Briefen strafbar ist. Jedes versehentliche Öffnen unterliegt, auch wenn der Brief danach unbefugt in Händen gehalten wird, nicht der Strafe. Unsere Meinung ist aber, daß es bei der Wahrung des Briefgeheimnisses nicht so sehr auf die Eröffnung, sondern mehr auf die Benutzung eines Briefes ankommt. Wir sprechen daher in unserem Antrag von der Anpassung an die modernen Verhältnisse. Damit meinen wir, daß heutzutage vornehmlich die Menschen, die in besonderen Funktionen stehen, kaum ohne ein Büro auskommen. Das heißt, daß sie die bei ihnen ankommende Post überhaupt nicht selber öffnen. Wenn aber alle Briefe beim Sekretariat einlaufen, wird, auch wenn alle Wahrscheinlichkeit dafür spricht, der Tatbestand des § 299 nie oder höchst selten erfüllt werden. Denn nur — das möchte ich noch einmal wiederholen — das uribefugte Eröffnen ist strafbar. Es ist möglich, daß man bei Schaffung dieses Gesetzes nur denjenigen hat treffen wollen, der sozusagen nach einer Art Feldzugsplan auf die Eröffnung eines Briefes ausgegangen ist. Aber dann ist nach unserer Meinung die Erweiterung des gegenwärtigen Paragraphen noch dringender erforderlich.
Vielen von uns ist es schon passiert, daß wir einen für uns bestimmten Brief, bevor wir ihn selbst in der Hand hatten, in Zeitschriften, in Flugblättern oder an Litfaßsäulen haben lesen können. Wenn man sich dann an den Herausgeber dieses Druckerzeugnisses gewandt hat, hat man höhnische Antworten erhalten. Wenn man zum Gericht gegangen ist, mußte man dort erfahren, ) daß man seine Erwartungen in bezug auf den Schutz des Briefgeheimnisses doch wesentlich überspannt hat.
Die Antragsteller meinen nun nicht, daß man diejenigen schützen sollte, die leichtfertig Briefe verlieren oder Matrizen oder Pauspapiere usw. verstreuen. Aber es muß doch möglichst, und zwar durch Strafandrohung, sichergestellt werden, daß fehlgelaufene und auch versehentlich geöffnete Briefe an den Empfänger oder an den Absender zurückgegeben werden. Das gilt im einfachen Leben als eine Selbstverständlichkeit; man sollte es auch in dem Gesetz zu einer Selbstverständlichkeit machen. Das ist leider nicht der Fall.
Ich darf an ein Vorkommnis erinnern, das schon einige Zeit zurückliegt. Es ist in keiner Weise mehr sensationell; denn es hat einen ergiebigen Stoff für Zeitschriften, Flugblätter usw. usw. dargeboten. Ein Eisenbahner schrieb mir einen Brief. Er gebrauchte darin einige Formulierungen, die nicht zu billigen sind, die aber, da ich der Empfänger war, nur meiner Kritik und nicht der Kritik irgendeines anderen unterworfen sind. Dieser Brief ging versehentlich nicht an den Abgeordneten Kurt Schmücker, sondern an den Abgeordneten Dr. Kurt Schumacher. Das war ein Postirrtum, der nicht weiter verwunderlich ist. Die Sekretärin des Kollegen Dr. Schumacher öffnete arglos und ihrer normalen Betätigung den Brief und gab ihn dann, sicher auch ebenso arglos, ihrem Chef weiter mit der Bemerkung, daß es sich um eine Bahnsache handle. Was inzwischen geschehen ist, kann ich naturgemäß nicht untersuchen. Jedenfalls steht auf dem Brief ein Weiterleitungsvermerk mit Männerhandschrift: „Genosse Jahn"! Über diesen Kollegen Jahn gelangte der Brief an die Gewerkschaft der
Eisenbahner Deutschlands, deren zweiter Vorsitzender, Herr Hatje, sich berufen fühlte, den Brief, von dem er wissen mußte, daß er ihn nichts anging, dem Absender zu beantworten. Ungefähr zur gleichen Zeit wurde jener Brief im Prozeß Kahl — jener unrühmlichen Affäre um einen reichlich rasch hochgeschossenen Mann — verlesen. Er erschien dann — mit willkürlichen Auslassungen und Zusätzen — in einer Zeitschrift; nennen wir sie ruhig, im „Spiegel". Durch diese Zeitschrift erfahre ich erst von der Existenz dieses Briefes.
Ich möchte gleich sagen, daß ich nicht jedem der an diesem außerplanmäßigen Verteilerschlüssel beteiligten Damen und Herren
einen Vorwurf machen will. Aber derjenige, der als erster den Irrtum der Post bemerkt hat, hat nach meiner Meinung die verdammte Pflicht und Schuldigkeit gehabt, den Brief zurückzugeben.
Keinesfalls durfte er den Brief gebrauchen.
Das Gesetz jedoch ist anderer Ansicht; und das Gericht hat denen recht gegeben, die den Irrlauf dieses Briefes als eine Chance angesehen haben, eine meiner Meinung nach unfruchtbare Diskussion mit neuem Stoff zu füllen. Niemand hatte vorsätzlich und unbefugt einen Brief eröffnet, und niemand war gesetzlich schuldig geworden.
Ich könnte Ihnen weitere Beispiele berichten; denn Fälle dieser Art passieren wenn nicht täglich, so doch mindestens wöchentlich Dieses eine Beispiel mag genügen. Es zeigt Ihnen, daß der § 299 unter den modernen Verhältnissen unzureichend ist. Es kommt doch darauf an — um es noch einmal zu wiederholen —, daß die unbefugte Benutzung und Verbreitung eines Briefes durch Dritte — unter gewissen Bedingungen zumindest — unter Strafe gestellt wird, nicht das unbefugte und vorsätzliche Eröffnen eines Briefes. Auch die Bestimmungen, die einen literarisch oder sonst wertvollen Brief schützen, reichen nicht aus. Im Gegenteil, die dabei üblichen Formulierungen mit diesen Begriffen klingen wie ein Hohn für denjenigen, der für seinen Briefwechsel, gleich welcher Art, den Schutz des Geheimnisses verlangt.
Der Schutz des Briefgeheimnisses ist darüber hinaus in Art. 10 unseres Grundgesetzes ungeteilt eigens noch einmal festgelegt. Die Antragsteller sind daher der Meinung, daß es doppelt dringend erforderlich ist, den Schutz des Briefgeheimnisses für alle Gebiete des Lebens in möglichst günstiger Form zu realisieren. Die augenblickliche gesetzliche Regelung reicht keinesfalls aus.
Wir schlagen dem Hohen Hause vor, den Antrag Drucksache Nr. 3088 dem Rechtsausschuß zu überweisen, der vielleicht eine noch präzisere Formulierung wählen kann, als sie hier gefunden worden ist.