Rede von
Dr.
Paul
Luchtenberg
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der von meiner Fraktion in Drucksache Nr. 3038 vorgelegte Antrag entstammt der Sorge um die Einheit des deutschen Geisteslebens und zielt insbesondere ab auf die Überbrückung von Gegensätzen und die Beseitigung ,von Schwierigkeiten, die sich in der Entwicklung des deutschen Erziehungs- und Bildungswesens seit 1945 ergeben haben.
Als im Jahre 1848 die deutschen Stämme in der Frankfurter Paulskirche zusammenkamen, um ein einiges Deutschland zu schaffen, forderten die Pädagogen aller Kategorien eine in allen deutschen Ländern einheitlich organisierte deutsche Schule. Diese Forderung wurde durch die Erkenntnis begründet, daß vom Erziehungs- und Bildungswesen als der elementaren Basis einer sich immer mehr und mehr differenzierenden Kultur in erster Linie zu erwarten sei, daß es die geistige Einheit der nationalen Existenz gewährleisten helfe. Man hat damals nicht ahnen können, daß hundert Jahre später die Erzieher und Lehrer in der Bundesrepublik Deutschland sich in ernster Sorge um die gefährdete Einheit des deutschen Bildungswesens mühen. Es sind nun aber keineswegs die Pädagogen aus Beruf allein in diesem Bemühen vereinigt. Ihre begründete Unzufriedenheit wird von der gesamten Elternschaft geteilt, und in Handwerk und Handel, Industrie und Verwaltung verfolgt man mit wachsendem Unwillen eine Entwicklung, die nach Änderungen verlangt.
Die historische und psychologische Situation von heute, aus der dies alles begriffen werden muß, ist natürlich grundlegend anders als die des Jahres 1848, in dem die allmähliche Herausbildung eines gesamtdeutschen Schulwesens begann; denn was damals, vor hundert Jahren, als Ideal erstrebt wurde, hat man inzwischen in einer Hybris erlebt, die half, die Erde zur Hölle zu machen. Diese Erfahrungen nähren seither die Befürchtung, das Einheitsstreben innerhalb der „pädagogischen Provinz" könnte wieder zur Vernichtung der Freiheit und wieder zur Schändung der Menschenwürde mißbraucht werden. So kommt es, daß man mit verständlicher Skepsis alles betrachtet, was bundeseinheitliche Regelung im Erziehungs- und Bildungswesen anstrebt.
Andererseits kann auch nicht geleugnet werden, daß diese bundeseinheitlichen Regelungen je länger, je mehr notwendig geworden sind. Fremdstaatliche Machtbefugnisse in militärischen Zonengrenzen haben nicht nur den nationalsozialistischen Ungeist in Erziehung und Unterricht bekämpft, sondern zugleich auch die organisatorischen Grundlagen der deutschen Bildungseinheit weitgehend vernichtet.
Was dann dem fragwürdigen Unternehmen der sogenannten Umerziehung folgte, hat nicht minder dazu beigetragen, die auseinanderstrebenden Gestaltungskräfte zu stärken und jene verhängnisvolle Zersplitterung in der äußeren Organisation und in der inneren Ausgestaltung des deutschen Erziehungs- und Bildungswesens herbeizuführen. So kam es, daß der gegenwärtige Zustand der deutschen Schule keineswegs der föderalistischen Staatsidee entspricht; denn diese verlangt nicht nur für die Länder Kulturautonomie, sondern sie fordert auch, daß die Einheit des Bundes durch eine gemeinsame und einheitliche Pflege seiner geistigen Grundlagen geschaffen und gesichert wird. Da diese geistigen Grundlagen der nationalen Einheit immer wieder jeder jungen Generation durch das Erziehungs- und Bildungswesen vermittelt werden müssen, sollte in ihm nichts versäumt werden, was zur Wahrung der Einheit des deutschen Geisteslebens beizutragen imstande ist.
Ich kann darauf verzichten, hier die lange Liste von beklagenswerten Fehlentwicklungen auf zurollen, nachdem diese seit geraumer Zeit in Zeitun-
gen und Zeitschriften, in der pädagogischen Fachpresse, vom Städtetag und von den Gewerkschaften, auf der Weinheimer Tagung des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten und an vielen, vielen anderen Stellen in hinreichender Ausführlichkeit erörtert worden sind. Es ist Tatsache, die Bundesrepublik Deutschland ist zu einem pädagogischen Experimentierfeld geworden,
auf dem andauernde Beunruhigung eine allgemeine Unzufriedenheit geschürt hat. Man ist sich einig, es gilt, so schnell wie möglich eine schwärende Wunde zu heilen.
Angesichts der großen Mängel, die nicht mehr übersehen werden können, haben die Kultusminister der Bundesländer aus dieser Not eine Tugend gemacht. Sie haben eine „Ständige Konferenz" eingerichtet, um in ihr koordinierende Maßnahmen vorzubereiten, von denen erwartet wird, daß sie Gegensätze ausgleichen und so Einheit neu begründen könnten. Die Kultusminister haben sich offenbar dabei von der Einsicht leiten lassen, daß auch eine sinnvolle Grundsatzentscheidung zu Entartungen führen kann, sobald sich in ihr die in ihr angelegten sinnwidrigen Übersteigerungen geltend machen. Diese Einsicht hat sich nicht zuletzt aus der bitteren Erfahrung ergeben, daß der an sich gesunde Unitarismus des deutschen Erziehungs- und Bildungswesens, der auch von jedem echten Föderalismus gefordert wird und gefordert werden muß, in der nationalsozialistischen Ära zu einem verderblichen Zentralismus wurde. Ebenso kann nun aber auch — und das sollte man nicht übersehen — der kulturpolitische Föderalismus der in ihm lauernden Gefahr erliegen, zu einer partikularistischen Staatsgesinnung zu entarten, wenn er sich mit der Förderung landeseigener Kulturinteressen begnügt und so den Tatsachen eines gesamtdeutschen Geisteslebens nicht hinreichend gerecht wird. Weil dies erkannt worden ist, wird man zu gegebener Zeit der Ständigen Konferenz der Kultusminister ihre geschichtliche Bedeutung nicht aberkennen können. Ihre Erfolge und mehr noch ihre Mißerfolge sind zu Wegweisern zu einer als notwendig erstrebten bildungspolitischen Integration der deutschen Länder geworden.
Wenn dennoch die erreichten Ergebnisse unbefriedigend sind, so ist dies nicht zuletzt auf eine Beschränkung der Wirksamkeit der Ständigen Konferenz zurückzuführen, die in ihrer juristischen Position begründet ist. Die Ständige Konferenz ist nämlich keine im Grundgesetz verankerte Institution, sondern beruht lediglich auf einem freiwilligen Übereinkommen der beteiligten Kultusminister. Nach der von ihnen getroffenen Vereinbarung können in der Ständigen Konferenz nur einstimmige Beschlüsse gefaßt werden. Aber auch diese einstimmigen Beschlüsse werden nur wirksam, wenn sie in den einzelnen Ländern die Billigung der Landtage finden. So kommt es, daß die notwendigen Angleichungen in pädagogischen Reformen entweder unnötig verzögert oder überhaupt verabsäumt werden.
Wenn man dazu bedenkt, daß in den Parlamenten der Länder bei wechselnden Mehrheiten sogar die bereits gesetzlich sanktionierten pädagogischen Reformen durch neue Beschlüsse schon kurz nach ihrer Einführung im Sinne ihrer Gegner abgelöst werden können,
so wird die pädagogische Tragik spürbar, die ganze
geradezu bildungsfeindliche Ungeborgenheit der
deutschen Schule, die für das gegenwärtige deutsche Bildungswesen kennzeichnend ist.
Es ist infolgedessen keineswegs verwunderlich, daß hier und dort radikale Lösungen vorgeschlagen worden sind, die ohne Änderung des Grundgesetzes nicht durchgeführt werden können. Daher ist weder die Einrichtung eines Bundeskultusministeriums noch auch eine Bundesregelung durch Rahmenvorschriften im Erziehungs- und Bildungswesen nach Art. 75 des Grundgesetzes möglich.
Dagegen enthält das Grundgesetz keine Bestimmung, auf Grund deren die Einrichtung eines Bundesbeirats für das Erziehungs- und Bildungswesen verhindert werden könnte. Denn nach der Konzeption meiner Fraktion ist dieser Bundesbeirat weder eine gesetzgebende Versammlung noch ein Gremium, das Rahmenvorschriften erlassen kann. Er soll vielmehr eine Vereinigung von Sachverständigen sein, die auf Grund ihrer Leistungen und ihrer Einsichten berufen sind, in einer von Legislative und Exekutive gleichermaßen unabhängigen Arbeit für die Probleme des deutschen Erziehungs- und Bildungswesens die Lösungen vorzuschlagen, die geeignet sind, im öffentlichen Bewußtsein entscheidende Zustimmung zu finden. Denn es geht hier um nichts anderes als um dies: endlich jenseits des Streits der Parteien durch Autoritäten der Praxis die verbindende Plattform zu schaffen, auf der sich ein weitgehend einheitliches Erziehungs- und Bildungswesen entfalten kann, das den Erfordernissen der Länder und den Bedürfnissen des Bundes gleichermaßen gerecht wird.
Auf Grund der Erhebungen, die zur Vorbereitung dieses Antrags von mir veranlaßt worden sind. dürfte erwiesen sein. daß die Elternschaft es allenthalben begrüßen wird, wenn endlich geschieht, was sie längst erwartet und mit steigender Eindringlichkeit gefordert hat, nämlich den Neubau des Erziehungs- und Bildungswesens unbeeinflußt von unangemessenem politischem Rivalisieren der Parlamente und Parteien so einzurichten, daß die deutsche Jugend sich in jeder Schule und in jeder Bildungsstätte des deutschen Bundes heimisch fühlen kann.
Denn dies ist die unerläßliche Voraussetzung dafür, daß in der deutschen Jugend ein gesamtdeutsches Staatsbewußtsein wächst und wirkt.
Um einem möglichen Mißverständnis vorsorglich zu begegnen, möchte ich bemerken, daß der Bundesbeirat unter keinen Umständen nur eine Lehrerversammlung ' sein darf. Nicht nur Lehrer sind an der Erziehung und Bildung der Jugend beteiligt. In allen Bezirken unseres Daseins finden sich Männer und Frauen, die sich von ihrem besonderen Wirkungskreis aus mit bildungspolitischen Notwendigkeiten auseinandergesetzt haben und zu wahrhaften pädagogischen Experten geworden sind. Man denke etwa nur an die besondere und teilweise sogar sehr vorbildliche Anteilnahme aller derer, die dem beruflichen Bildungswesen nahestehen. Auch in den Verwaltungen, in den Unterrichtsverwaltungen insbesondere, gibt es Sachkenner, auf deren Erfahrungsschatz bei Neuordnungen im Erziehungs- und Bildungswesen nicht verzichtet werden kann.
Dieser Bundesbeirat wird keine Weisungsbefugnisse besitzen. Keine Weisungen, sondern Empfehlungen sind von ihm zu erwarten. Aber die Persönlichkeiten dieses Bundesbeirats dürften in ihrer Gesamtheit sozusagen eine moralische Instanz sein, eine moralische Instanz, die ein solches Gewicht in der
öffentlichen Meinung besitzt, daß ihre begründeten Stellungnahmen mehr als nur unverbindliche Empfehlungen sein werden. Jedenfalls ist zu erwarten, daß ihre ausschließlich aus sachgebundenen Voraussetzungen gewonnenen Stellungnahmen in den Fraktionen der Länderparlamente bereitwillige Aufnahme finden werden. Und sollte dies nun nicht auch von den Kultusministern begrüßt werden? Denn ihre koordinierende Tätigkeit vermag ja wohl keine stärkere moralische Unterstützung zu finden als die, die von dem Bundesbeirat als dem pädagogischen Gewissen der Bundesrepublik gewährt wird.
Wer in diesem Sinne die beratende Funktion des Bundesbeirats zu würdigen weiß, der wird gern jene unseligen Auseinandersetzungen hinter sich lassen, in denen man zuweilen den Eindruck gewinnen konnte, als betrachteten die Länder den Bund als ihren erkorenen Erbfeind. Darum sollte auch kein Streit nach dem Standort des Bundesbeirats bestehen.
Eine Zuordnung zum Bundesinnenministerium wird durch folgende Sachverhalte nahegelegt. Die Bildung eines Bundesbeirats sollte folgerichtig in einem Bundesministerium erfolgen, um seine ureigensten Anliegen eindeutig und eindrucksvoll zu unterstreichen. Würde etwa den Landtagen die Bildung dieses Bundesbeirats zufallen, so könnte die Gefahr auftauchen, daß die Vorschläge zur Berufung von Mitgliedern mehr aus der Perspektive der Länderinteressen als von gesamtdeutschen Gesichtspunkten her erfolgen. Wer anerkennt, daß dás Erziehungs- und Bildungswesen besonders geeignet ist, das notwendige Maß der geistigen Einheit zu schaffen, auf die das gegenseitige Verstehen im Inneren eines Staatsgefüges angewiesen ist, der wird nicht zögern, dem Bundesinnenminister die Federführung bei der Bildung dieses Bundesbeirats zu überlassen.
Wird aber nicht — so kann man fragen — ein solcher Bundesbeirat, der aus Autoritäten der Praxis besteht, sozusagen eine Hintertür zur Einführung eines neuen autoritären Regimes im Erziehungs- und Bildungswesen aufstoßen können? Meine Damen und Herren, wer der jungen Demokratie das ihr gebührende Vertrauen entgegenbringt — ohne das j a nun einmal ihre Existenz überhaupt nicht gesichert werden kann —, wird diese Sorge nicht teilen und wird sogar vor der Neigung warnen müssen, immer wieder den Teufel an die Wand zu malen, sobald irgendwo neue Ansätze zur Wiederbelebung einer kommandierenden Staatspädagogik in Erscheinung treten und sich Geltung verschaffen möchten. Es sollte nicht übersehen werden, daß gewisse Länder offenbar sehr viel mehr als der Bund selbst der Gefahr der staatspädagogischen Uniformierung ausgesetzt sind. Ihnen gegenüber könnte ein von Legislative und Exekutive unabhängiger und sich selbstverantwortlicher Bundesbeirat ein besonders gewichtiges Wort sprechen, das als Beitrag zur Bildung der öffentlichen Meinung nicht hoch genug veranschlagt werden kann, da er helfen würde, den inneren Frieden zu sichern.
Unsere Erörterungen legen den Gedanken nahe,fehlt unseres Erachtens die innere Berechtigung; denn die längst erkannten Strukturfehler der Reichsschulkonferenz sind bei der Bildung eines Bundesbeirats ohne weiteres vermeidbar. Der Bundesbeirat sollte unter keinen Umständen wie die Reichsschulkonferenz ein „pädagogisches Parlament" von mehreren hundert Mitgliedern sein. Man wird sich vielmehr ein kleines, arbeitsfähiges und arbeitswilliges Gremium von etwa 15 ständigen Mitgliedern denken müssen. Diese sollten keineswegs nach repräsentativen Gesichtspunkten gewählt werden, sondern ausschließlich nach Maßgabe ihrer Eignung. Man bedenke, daß die abzugebenden Stellungnahmen, die Begründung ihrer Standpunkte aus der Fähigkeit erwachsen müssen, die ganze kulturelle Tragweite eines pädagogischen Anlegens zu übersehen. Aus der Erfahrung der Reichsschulkonferenz ergibt sich ferner, daß die Mitglieder nicht nach dem Delegiertenprinzip ausgewählt werden sollten, weil sonst der Bundesbeirat in eine Versammlung von Interessenvertretern umgefälscht würde. Nur dann wird man dem Bundesbeirat Erfolge voraussagen können, wenn die bestehenden Interessengegensätze auf einer höheren Ebene auszugleichen sind, auf der ein gegenseitiges Verstehen und ein gemeinsames Geltenlassen erst möglich werden.
der Bundesbeirat werde nichts anderes als eine Neuauflage der Reichsschulkonferenz vom Jahre 1920 sein können. Er werde daher vielleicht auch — wie sie — nichts anderes zu erreichen vermögen, als die bildungspolitische Zerrissenheit in einer mehr oder minder repräsentativen Demonstration darzustellen. Dieser negativen Prognose
Die Zeit ist zu kurz, um die ganze Fülle der Gesichtspunkte vor Ihnen zu entwickeln, die uns zu diesem Antrage veranlaßt haben. Durch den Antrag meiner Fraktion wird eine Aufgabe in Angriff zu nehmen sein, die nicht durch einige koordinierende Hebelschaltungen im organisatorischen Gefüge unseres Erziehungs- und Bildungswesens gelöst werden kann. Es gilt vielmehr, in die geistigen Tiefenschichten hinabzuloten und in ihnen die Kräfte zu finden, die fähig und bereit machen, jene Spannungen zu lösen, die — zwar historisch verständlich, aber staatspolitisch unvertretbar — bisher bundeseigene Regelungen im Erziehungs- und Bildungswesen verhindert haben. Wir glauben annehmen zu dürfen, daß ein Bundesbeirat beim Bundesinnenministerium, wie er andeutungsweise hier entworfen worden ist, die moralische Instanz sein kann, die frei von Verkrampfungen und Konjunkturchancen, frei von Prestigekonkurrenzen und Zuständigkeitsansprüchen, lediglich von der Logik der Sache her versöhnende Ausgleiche anzubahnen berufen sein wird. Weil es sich dabei um ein ernstes Anliegen aller handelt, die sich der Einheit und der geistigen Konsolidierung des Bundes mit Hilfe einer bildungspolitischen Integration verpflichtet wissen, darf ich dem Hohen Hause die Unterstützung des Antrags empfehlen und bitten, die Bundesregierung zu beauftragen, Vorschläge zur Einrichtung eines Bundesbeirats für das Erziehungs- und Bildungswesen zu unterbreiten.