Rede von
Dr.
Hugo
Decker
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der Föderalistischen Union hat durch ihre beiden Anträge die gestrige und heutige Debatte ausgelöst. Es steht ihr daher wohl zu, zu dem Verlauf der Debatte Stellung zu nehmen. Der Herr Bundeskanzler ist der Ansicht, daß durch den Wortlaut unseres Antrags das Thema nach seiner Breite wie nach seiner Tiefe eng umgrenzt ist. Wir können es ihm nicht verdenken, daß er es bei dem etwas angesprungenen Porzellan seiner Politik vermeidet, diese Grenzen sehr weit zu ziehen. Die Debatte ist infolgedessen dadurch gekennzeichnet, daß der Bundestag und mit ihm das deutsche Volk auch seit gestern über den Generalvertrag und über den Wehrbeitrag nicht viel mehr wissen, als die Presse schon längst geschrieben hat.
Es steht außer Diskussion, daß unsere Heimat, unser Volk und unsere Kultur gegen Angriffe, woher sie auch kommen mögen, verteidigt werden müssen. Nun ist es die Aufgabe einer verantwortungsbewußten Staatsführung und Heerführung, den Schwerpunkt der Verteidigung dahin zu legen, wo der Angriff zu erwarten ist. Hier stehen wir vor dem Kernpunkt des Problems. Lenin hat sich einmal dahin geäußert, daß Europa nicht durch Kriege, sondern durch den Zusammenbruch seiner
wirtschaftlichen und sozialen Struktur als reifer Apfel in den Schoß der Sowjets fallen werde. Ein Angriff vom Osten ist also zuerst nicht auf militärischem Gebiet zu erwarten, sondern auf dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Sektor.
— Es ist richtig, er ist schon im Gange. Die Aufrüstung ist deshalb nicht der Weisheit letzter Schluß. Wir müssen uns vielmehr zuvörderst fragen, ob vorher schon alles geschehen ist, um uns auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet stark und widerstandsfähig zu machen.
Die barsche und unvermittelte Methode, Volk und Parlament vor Tatsachen zu stellen, hat Mißtrauen und Unsicherheit bis zum äußersten erregt. In der Frage des Wehrbeitrags ist unvermutet die Katze aus dem Sack gelassen worden; dann kam noch eine Katze und dann noch eine Katze, und wir fragen uns: wieviel Katzen stecken noch in diesem Sack, und springt nicht zuletzt ein arger Kater heraus?
Der psychologische Boden für eine Wiederaufrüstung ist durch die Regierung und die Besatzungsmächte denkbar unfruchtbar gemacht worden. Die Jugend kann es nicht vereinen, wie man ihr einerseits durch Verfassung und Gesetz das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt und andererseits von ihr verlangt, daß sie mit Begeisterung in das Lied „Volk, ans Gewehr!" einstimmt. Viele unserer jungen Leute fragen: Werden wir, wenn es tatsächlich zum Ernstfall kommt, Mitkämpfer finden, die Kameraden auf Leben und Tod sind, an unserer Seite aushalten und uns im Ernstfall nicht im Stich lassen?
Und eine andere Frage wühlt die wehrfähige Jugend ebenso auf; die Frage: Können wir Vertrauen zu einer obersten Führung haben, an deren Spitze ein Mann steht, der Hunderttausende Deutscher, die sich ihm und seinem Staat im Vertrauen auf Fairneß und Recht ergeben haben, an die Russen ausgeliefert hat, wie man eine Viehherde ausliefert? Sein Staat trägt die Mitschuld daran, daß der europäischer Kultur geheiligte Boden Weimars heute von asiatischen Truppen betreten wird.
Über diese ernstem Fragen sind unsere jungen Leute auch nicht durch Aussichten auf militärische Idyllen und eine Verteidigungslyrik hinwegzutäuschen, die anscheinend an die Stelle des früheren preußischen Kasernenhofdrills treten sollen. Tun wir wirklich von einer Plattform gegenseitigen europäischen Vertrauens den Schritt zu einer europäischen Wehrmacht? Die politischen Ereignisse der letzten Tage lehren uns, daß das nicht der Fall .ist. Manche Stimme für den Schumanplan mag im Vertrauen auf eine loyale Haltung Frankreichs in der Saarfrage abgegeben worden sein. Unser Vertrauen ist zutiefst erschüttert worden, und gestern noch hat uns die Mitteilung des Kanzlers über die Presseverlautbarung Berards gezeigt, daß Frankreich die Hand, die ihm das deutsche Volk freundschaftlich entgegenstrecken will, mit der das deutsche Volk Frankreich Kameradschaft zeigen möchte, nicht annehmen will. Und Kameradschaftsgeist ist doch die erste Voraussetzung für eine gemeinsame Wehrmacht.
Wir wissen auch nicht, ob die Diskriminierungen tatsächlich bis zum letzten und bis zum kleinsten fallen werden. Das Wortspiel „Gleichberechtigung bedeutet nicht Gleichbehandlung" beweist uns, daß unsere Partner an eine tatsächliche und restlose
Aufhebung der Diskriminierung nicht denken.
Wir haben immer wieder gehört, daß die Zeit drängt. Das mag vielleicht richtig sein.
Aber die Zeit drängt nicht nur uns Deutsche, sie drängt auch Frankreich, Großbritannien, Italien und alle anderen europäischen Staaten; denn sie dürfen sich nicht einbilden, daß sie im Ernstfall auch nur eine Stunde länger Ruhe haben werden als wir. Darum können wir auch verlangen, daß sie die Vora issetzungen für die Gleichberechtigung und einen Wehrbeitrag mit derselben Eile schaffen, die sie von uns hinsichtlich des Wehrbeitrags fordern.
Eine weit über den Rahmen der nationalen Belange hinausgehende Voraussetzung für einen Wehrbeitrag ist eine zweifelsfreie Klarstellung des völkerrechtlichen Status der deutschen Soldaten und der Gehorsamspflicht. Sollen wir es erleben, daß deutsche Soldaten in einen Zwiespalt kommen zwischen Anweisungen ihres supranationalen Kommandeurs und Anweisungen, die sie aus der Heimat erhalten, .und daß schließlich nur noch die Frage offenbleibt: Wer von den beiden ist berechtigt, den Soldaten wegen Gehorsamsverweigerung zu erschießen?
Die Regierung kann keine Sicherheit dafür geben, daß Deutschland in einer etwaigen militärischen Auseinandersetzung mit dem Osten nicht doch eine Vorfeldstellung zugedacht ist. Die Erklärung, daß Deutschland verteidigt werden soll, genügt uns nicht. Wir kennen vom Feldherrn Schicklgruber her auch eine „elastische Verteidigung", und Sie wissen, was es heißt, wenn in einer „elastischen Verteidigung" die Feuerwalze hin- und herrollt. Es ist das Ende. Es muß möglich sein, und unsere Regierung muß darauf hindrängen, daß unsere Partner eine bindende Erklärung abgeben, Deutschland so zu verteidigen, daß es möglichst wenig Schaden erleidet.
Eine innerdeutsche Voraussetzung zur Wiederaufrüstung ist in ihrer ganzen Bedeutung noch nicht genügend gewertet worden. Vor der Schaffung eines militärischen Potentials muß weitgehend für den Schutz der Frauen und Kinder gesorgt werden. Bis in die letzten Jahre sind die Bunker, die vom vorigen Krieg übernommen sind, rücksichtslos und auf Kosten der deutschen Steuerzahler gesprengt worden. Wir bedauern es, daß die Bundesregierung die Aktivität, die sie in den Maßnahmen zur Wiederaufrüstung gezeigt hat, nicht auf den Schutz der Zivilbevölkerung ausgedehnt hat. Wo sind denn heute neue Bunker? Wo sind die Schutzeinrichtungen bei Neubauten von Häusern? Wo ist die Unterrichtung und die Schulung der Bevölkerung? Wo ist eine organisierte Schar von Arzten und Helfern, die ausgebildet ist, um radioaktive Schädigungen zu behandeln? Wir wissen, daß ein Großteil der Japaner, die durch die Atombombe radioaktiv bestrahlt worden sind, hätte gerettet werden können, wenn ausgebildete Arzte dagewesen wären.
Ich führe, zusammenfassend, die Voraussetzungen an, die für unsere Stellungnahme zu einem Verteidigungsbeitrag maßgebend sind:
1. Ein überzeugender Beweis, daß die Aufrüstung der einzige Weg zur Sicherung Europas ist und daß über die Westmächte alle anderen möglichen Mittel versucht worden sind, der Versuch aber zwecklos gewesen ist;
2. Ausbau der sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Abwehr;
3. volle und restlose Gleichberechtigung;
4. keine Ein führung der allgemeinen Wehrpflicht;
5. Klarstellung des völkerrechtlichen Status etwaiger deutscher Soldaten und der Gehorsamspflicht in der europäischen Armee;
6. sofortiger und wirksamer Ausbau des Schutzes für die Zivilbevölkerung;
7. landsmannschaftliche Gliederung und Führung eines deutschen Kontingents;
8. echte Verteidigung der Bundesrepublik an der Ostzonengrenze;
9. restlose Klärung aller verfassungsrechtlichen Fragen und
10. eingehende Kenntnis des Generalvertrags und des europäischen Verteidigungsbeitrags.
Aus dem Gefühl tiefster Verantwortung für das ganze deutsche Volk und für Europa, für Glück und Leben von Millionen müssen wir uns die volle Freiheit der Entscheidung vorbehalten, solange diese Voraussetzungen weder erfüllt noch abgelehnt sind. In der gegenwärtigen Lage müssen wir allerdings ein Nein sagen.