Rede von
Dr.
Hans-Joachim
von
Merkatz
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist Mode geworden, den Straßburger Rat und sein Verfahren vor der Öffentlichkeit als unwirksam herabzusetzen.
Wir sind der Auffassung, daß diese Mode, die auf dem Mißverständnis und der Unkenntnis der Möglichkeiten einer solchen Verhandlungsmethode beruht, als gefährlich bezeichnet werden muß. Wir sehen keinen anderen praktischen Weg, als über dieses Gremium das Riesenwerk zu unternehmen, das die Einigung Europas darstellt. Wenn hier gefragt warden ist, warum dieser Antrag gestellt worden ist und weshalb es zu diesem Zeitpunkt geschehen ist, so kann ich nur sagen: ich glaube,
wer Ohren hat zu hören, der hat eben aus dem Munde des Herrn Renner das Nötige gehört.
Deshalb sollte hier gar nicht weiter polemisiert werden.
Vor einem relativ uninteressierten Hause ist an Hand dieses Antrags eine Debatte in Gang gekommen, die doch sehr Wesentliches zutage gefördert hat, Wesentliches und, wie ich sagen möchte, zugleich Gefährliches. Herr Mommer hat drei Thesen aufgestellt, die sehr sorgfältig überlegt werden sollten. Die erste These, so wie ich sie im Gedächtnis behalten habe, lautet: Wir widersetzen uns einer kleineuropäischen Lösung, weil diese kleineuropäische Lösung eine zusätzliche Spaltung in unserer bereits so gespaltenen Welt bedeutet. Die zweite lautet: Wir widersetzen uns den Plänen, bestimmte Sonderbehörden auf lebenswichtigen Gebieten zu schaffen, weil sie die Gefahr in sich schließen, daß hierin die europäische à-la-modeVerkleidung des auf der Unterwerfung Deutschlands aufgebauten Besatzungsregimes enthalten ist.. Und die dritte These: Wir widersetzen uns all jenen wirklichkeitsfremden Versuchen, die wir als unpraktisch empfinden müssen, weil sie in der Straßburger Versammlung zum Versanden verurteilt sein müssen, da diesen Versuchen die reale Grundlage fehlt.
Diese drei Thesen, die die Opposition aufgestellt hat, veranlassen mich zu einer Antwort. Die erste These ist seinerzeit, als man im Parlamentarischen Rat mit der Ordnungszelle der Bundesrepublik versuchte, das deutsche Leben Schritt für Schritt wieder in eigene Verantwortung zu nehmen, in vergleichbarer Weise aufgetaucht. Ich glaube, daß man darüber nicht mehr viel reden sollte. Es ist doch ein ganz einfacher Vorgang, daß man einen erkrankten Körper aus seinen gesundgebliebenen Bezirken heraus zu heilen versucht.
Wir dürfen doch eines nicht vergessen: der Gedanke
des Vereinigten Europas ist in Osteuropa und in
Mitteldeutschland geboren und durchdacht worden.
Ich erinnere an den Namen Leibniz. Er hat zum erstenmal die moderne Konzeption der Vereinigung Europas ausgesprochen. Ich erinnere an Kant und an Herder. Herders großer Einfluß auf das Werden des Nationsbegriffes in Europa — und von dort nach dem Osten ausstrahlend — ist besonders deutlich. Glauben Sie wirklich ernsthaft, daß Sie dann, wenn ein wahrhaft wirksamer Schritt getan wird, um das hohe Werk des Friedens mit der Vereinigung Europas zu beginnen, und wenn es gelingt, dies von den Positionen aus, von denen es praktisch möglich ist, aufzubauen — also im Kleinen anfangend, um nach dem Größeren fortzuschreiten —, daß Sie dann nicht auch geistige Mächte mobilisieren, die wesenhaft dazu beitragen werden, das endgültige Ergebnis, die Einheit ganz Europas, voranzubringen? Letzthin ist das Gelingen der gesamteuropäischen Einheit unser deutsches Schicksal. Denn unsere Einheit als Gesamtstaat, die Überwindung der Spaltung unserer Nation und die europäische Einheit im Geiste des in gerechter Ordnung gesicherten Friedens, das ist doch das wesentliche nationale und zugleich europäische Anliegen, das wir haben. Im Ziel der Wiederherstellung der mitteleuropäischen Ordnung decken sich unser nationales Wollen und unser nationaler
Weg vollkommen mit dem, was im europäischen Sinne notwendig ist, um auf diesem alten Kontinent den Frieden wiederherzustellen.
Ich habe Herrn Renner einen einzigen Satz zu erwidern. Es ist eine völlige Verkehrung der Dinge, wenn man behauptet, daß diese europäische Idee nach ihrer ganzen Geschichte, ihrer Tradition und ihrem Gehalt irgend etwas mit Gedanken der Kriegsvorbereitung zu tun habe. Nein, der europäische Einigungsgedanke ist seinem ganzen Wesen nach die solide Ordnung eines Friedens, er bietet in seinem Ursprung und in seiner praktischen Durchführbarkeit die Gewähr dafür, daß in Europa, das aus so vielen Wunden blutet, der Frieden hergestellt und in einer menschenwürdigen Form wieder verwirklicht wird, menschenwürdig deshalb, weil die Basis dieses Friedens die praktische Verwirklichung und Erhaltung der Freiheit des einzelnen se in muß.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein kurzes Wort zum Abschluß sagen über die Vorstellungen, die man von einer europäischen Verfassung haben kann. Sie kennen den alten Gegensatz zwischen den Funktionalisten und den Föderalisten. Sie wissen, daß seinerzeit von Mackay ein Kompromißplan vorgeschlagen worden ist. Ich glaube, die Gespräche sind deshalb in eine Sackgasse geraten, weil man sich nicht darüber klar geworden ist, daß alle jene Begriffe vom Staatenbund und vom Bundesstaat oder von den verschiedenen Bündnissystemen letzthin nur Gedankenfiguren, juristische Vorstellungen des 19. Jahrhunderts sind, daß hier das völlig neuartige Verfassungswerk einer Staatenverbindung aufgebaut werden muß, von einem festen Kern der Staaten ausgehend, die zu einer Aufgabe von Souveränitätsrechten bereit sind, und in Kreisen aufbauend, unter engerer oder loserer Einbeziehung möglichst aller europäischen Staaten, d. h. völlig neue Formen der Zusammenarbeit müssen juristisch entwickelt werden.
Der einzige Ort, an dem dies praktisch verhandelt werden kann, ist Straßburg. Gewiß, hier soll nur etwas ausgearbeitet werden, und der Antrag könnte zu Mißdeutungen Anlaß geben, wenn hier von Ermächtigung und Vereinbarung gesprochen wird. Es geht um die Abfassung des Textes eines Bundesvertrages, der nicht am grünen Tisch ersonnen werden kann, sondern der mühsam erarbeitet werden muß in der genauen Erkenntnis der Interessenlage der daran beteiligten Mächte. Den Leuten aber, die hier sagen, alle diese Wege führten zu einer Vertiefung der Spaltung Deutschlands und der Spaltung unseres Kontinents, möchte ich entgegenhalten, daß sie sich von der Verantwortung für die praktische Aktion zurückziehen und damit in die Gefahr geraten, zu Proselyten des Kreml zu werden, ob sie das wollen oder nicht.