Rede von
Helene
Wessel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Von meinen Vorrednern ist bereits ausführlich dargelegt worden, wie sehr die Einigung Europas im Bewußtsein seiner auch noch heute für die Menschheit bedeutenden Aufgabe das Ziel der deutschen Politik sein sollte. Dieses nach zwei Weltkriegen verarmte und zerstückelte Europa kämpft verzweifelt um seine Existenz, während es vor Jahrzehnten noch die Weltherrschaft besaß, der Schöpfer von Reichtümern war, das Hirn der Welt, der Träger von Ideen, die das Gesicht der Völker bestimmten. Der zweite Weltkrieg hat die Vorstellungswelt dieses Europas begraben, das heute wie Deutschland zweigeteilt ist und mit seiner einen Hälfte in dem Machtbereich Rußlands liegt.
Und die weitere Tatsache, von der auch die Vorredner anläßlich der Frage der Europaarmee gesprochen haben, ist doch die, daß Europa sich nicht mehr selbst verteidigen kann und von einem außereuropäischen Staat gegen einen anderen außereuropäischen Staat geschützt wird. All das zeigt deutlicher als alles andere, wer den zweiten Weltkrieg verloren hat: nämlich Europa. Wenn Europa aus seinem jetzigen Zustand der Abhängigkeit von Amerika herauskommen soll, dann muß es auf der Basis der Gleichheit mit Amerika sprechen können. Schon aus dieser Betrachtungsweise kann niemand an der Notwendigkeit zweifeln, daß die europäische Föderation kommen muß, wenn Europa nicht zwischen den beiden Weltmächten Amerika und Rußland zerrissen werden soll.
In dieser gefährlichen Situation steht heute Westeuropa. Es war sehr interessant, daß die. Befürworter des Straßburger Europarats hier erklären mußten, daß dieses Westeuropa noch immer im Vorfeld seiner Bemühungen um die politische Einigung steht. Ebenso ist interessant, daß der französische Außenminister Schuman — mit Recht — die politische Einigung Europas und die Schaffung übernationaler Autoritäten als d a s Zentralproblem der europäischen Politik bezeichnet hat, wenn überhaupt die Aufstellung einer europäischen Armee noch irgendeinen Sinn haben soll. Insofern stimme ich den Ausführungen meiner Vorredner durchaus zu, die von der Notwendigkeit dieser Erkenntnisse gesprochen haben. Die Zentrumsfraktion hat auch insoweit volles Verständnis für den Antrag der Regierungsparteien, der die deutschen Delegierten des Europarats ermächtigen soll, die Verfassung einer
europäischen Föderation mit den Mitgliedern der
im Europarat vertretenen Nationen zu vereinbaren.
Aber so sehr meine politischen Freunde und ich das einsehen und wünschen, daß das Ziel der gesamteuropäischen Föderation erreicht wird, so müssen wir doch feststellen, daß eine echte Einigung nicht in dem Zusammenschluß nur eines Teils der europäischen Staaten gesehen werden kann, wie es Befürworter dieses Antrags hier getan haben. Ein europäischer Zusammenschluß ohne England und ohne die skandinavischen Staaten würde außer der bestehenden Teilung in Westeuropa und Osteuropa noch eine weitere künstliche Teilung herbeiführen.
Wir glauben also — das ist auch gesagt worden -, daß England in seiner gegenwärtigen Position, in seiner Stellung im mittleren und nahen Osten, in seiner Haltung zum Commonwealth nicht in der Lage sein wird, sich stärker in Europa zu engagieren, als es bis jetzt im Europarat geschehen ist. Die im Empire denkenden und verwurzelten englischen Staatsmänner Eden und Churchill werden bei aller Bejahung des Europagedankens ebenso wie Attlee und Morrison nicht bereit sein, über die bestehenden Verpflichtungen hinaus zur Schaffung übernationaler Autoritäten in Europa beizutragen. Herr Kollege Dr. Becker hat auf einer Tagung in Frankfurt von der Meinung einer englischen Frau gesprochen, die die Notwendigkeit einer europäischen Einigung einsieht. Ich glaube, dabei muß doch daran gedacht werden, wie die Konstruktion des Europarats aussieht, vor allen Dingen auch daran, daß im Ministerrat nicht die Vertreter der Völker, sondern die der Regierungen sitzen.
Ich möchte vor allen Dingen davor warnen, zu glauben, daß Europa mit einer kleineuropäischen Lösung, etwa entsprechend den Vorschlägen von Graf Coudenhove-Kalergi, zu schaffen ist.
Ich möchte auch noch auf ein weiteres Argument eingehen, das bereits von meinen Vorrednern angeführt worden ist und mir einen sehr wichtigen Gesichtspunkt zu enthalten scheint. Wenn von der Unzweckmäßigkeit dieses Antrags im gegenwärtigen Augenblick gesprochen wird, dann ist damit vor allen Dingen die Frage gemeint, wieweit die Wiederherstellung der deutschen Einheit von den Antragstellern mit ihrem Antrag gefördert oder behindert wird. Eine europäische Föderation, zu der nur Westdeutschland gehört, gibt es nicht. Europa ohne das ganze Deutschland bleibt ein zweigeteiltes Europa, dessen Trennungslinie dann bei West-Berlin bleiben würde. Gerade weil Deutschland, ganz Deutschland zu Europa gehört, geographisch wie historisch, geistesgeschichtlich wie wirtschafts- und sozialgeschichtlich, weil es keine Epoche der deutschen Geschichte gibt, die nicht in europäische Geschichte eingebettet wäre, darum gibt es — das auszusprechen scheint mir notwendig zu sein — kein Europa ohne ein ganzes Deutschland. Deshalb müssen wir uns auch fragen, ob das Bemühen um die Wiederherstellung der deutschen Einheit wirklich mit dem gegenwärtigen Antrag in Einklang zu bringen ist, der, wenn die darin erhobenen Forderungen jetzt durchgeführt würden, ohne daß wir auch der Frage der Wiederherstellung Gesamtdeutschlands nähergekommen wären, die Trennung Europas und die Trennung Deutsch-
lands nicht aufheben würde. Das scheint mir mit eine der Zentralfragen zu sein, die uns hier in Deutschland angehen.
In der Politik gibt es den Satz, daß der direkte Weg zwischen zwei Punkten der kürzeste ist. Mir scheint das der Weg der Verständigung zunächst hier in Deutschland zu sein: dem Willen des deutschen Volkes, ob in der Bundesrepublik oder in der Ostzone, Rechnung zu tragen, zur Einheit zu kommen und alles zu vermeiden, was sie verhindern kann. Das müssen wir sehen, und von hier aus ergibt sich auch die Rangordnung dessen, was in unserer Politik möglich ist. Jede Integration in ein europäisches System empfängt ihren Sinn erst aus den Möglichkeiten, die sie für die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands bietet. Das ist die Realität, die wir bei dem vorliegenden Antrag Drucksache Nr. 2790 nicht vergessen dürfen.