Rede von
Dr.
Hermann
Ehlers
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Meine Damen und Herren, ich darf unterstellen, daß Sie die Urlaubsgesuche, soweit sie über eine Woche hinausgehen, genehmigt haben. — Das ist der Fall.
Zwischen den Fraktionen ist eine Verständigung dahingehend erzielt worden, den Punkt 2 der heutigen Tagesordnung:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über öffentliche Versammlungen und Aufzüge (Nr. 1102 der Drucksachen);
Mündlicher Bericht des Ausschusses zum Schutze der Verfassung (Nr. 2759 der Drucksachen),
von der Tagesordnung abzusetzen. — Das Haus ist damit einverstanden.
Da der gedruckte Bericht zu Punkt 1 der Tagesordnung — Soforthilfeanpassungsgesetz — erst um 15 Uhr 15 vorliegen wird und der Herr Abgeordnete Kunze, der an Stelle des Abgeordneten Ewers die Berichterstattung übernimmt, auch erst dann zur Verfügung steht, schlage ich Ihnen vor, daß wir mit dem Punkt 6 der Tagesordnung beginnen:
Erste Beratung des Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung und Überleitung von Vorschriften auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes .
Die Regierung verzichtet angesichts des Vorliegens einer schriftlichen Begründung auf eine mündliche Begründung. Ich darf Ihnen vorschlagen, daß diese erste Beratung ohne Aussprache stattfindet und die Vorlage an den Ausschuß überwiesen wird. — Das Haus ist damit einverstanden. Der Ausschuß beabsichtigt, möglichst umgehend zusammenzutreten und sich mit der Frage zu befassen.
Ich schlage Ihnen die Überweisung an den Ausschuß für Patentrecht und gewerblichen Rechtsschutz vor. — Das Haus ist damit einverstanden; die Überweisung ist erfolgt.
Dann schlage ich Ihnen vor, daß wir zunächst den Punkt 3 der Tagesordnung nehmen:
Beratung des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU, FDP, DP betreffend Ermächtigung der Delegierten zum Europarat zur Vereinbarung der Verfassung einer europäischen Föderation .
Darf ich fragen: Herr Abgeordneter Dr. Becker wünscht, den Antrag zu begründen? — Bitte schön, Herr Abgeordneter!
Dr. Becker (FDP), Antragsteller: Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag, der Ihnen vorliegt und um dessen Annahme ohne Ausschußberatung zu bitten ich die Ehre habe, lautet:
Der Bundestag wolle beschließen:
Der Bundestag ermächtigt die von ihm zu Mitgliedern der Beratenden Versammlung des Europarats gewählten Abgeordneten, zusammen mit ebenso bevollmächtigten Delegierten der im Europarat vertretenen Nationen die Verfassung einer europäischen Föderation zu vereinbaren — vorbehaltlich der Zustimmung der verfassungsmäßigen Organe der Bundesrepublik.
Meine Damen und Herren, der Antrag bezweckt, die Befugnisse der Delegierten im Europarat zu erweitern, und zwar auf einer Basis, als hätte in Deutschland schon eine Wahl für eine konstituierende Versammlung zur Abfassung einer Verfassung für ein vereinigtes Europa stattgefunden.
Wir haben, als wir beschlossen, in den Europarat einzutreten, die Gründe, die dafür sprechen. erörtert. Diese Gründe sind — kurz zusammengefaßt — folgende. In der ganzen Welt, insbesondere auf dem asiatischen Festland, haben sich in den letzten Jahrzehnten derartige Umwälzungen zugetragen, daß demgegenüber die europäischen Staaten als außerordentlich mindermächtig erscheinen. Stellen Sie sich vor: China mit seinen 450 Millionen, Hindustan mit 350 Millionen, Pakistan mit 80 Millionen, die Indonesische Republik mit 80 Millionen Einwohnern, schließlich das jetzt durch den Friedensvertrag wieder selbständig gewordene Japan mit 83 Millionen Einwohnern; — alles Staaten mit ungeheuren Einwohnerzahlen! Demgegenüber in Europa Dänemark mit 4 Millionen, Holland mit 8 Millionen, Belgien mit 8 Millionen, Luxemburg mit 250 000 Einwohnern usw., — eine hoffnungslose Schwäche, wenn alle nur vereinzelt sind, wenn sie sich nicht vereinigen!
Stellen Sie sich ferner vor, daß Osteuropa unter die Botmäßigkeit einer bestimmten Macht, der Macht der Sowjets, gebracht ist, daß Staaten wie Polen, Ungarn, Rumänien, Tschechoslowakei und unsere Ostzone von dieser abhängig sind und daß wir, selbst wenn wir heute ein Europa gründen wollen, sie im Augenblick nicht mit hineinnehmen können. Wir werden aber — und es liegt uns daran, das hier zum Ausdruck zu bringen — nie vergessen, daß auch diese Staaten ein Teil eines geeinten Europa sein und werden müssen.
Stellen Sie sich die Lage vor, wenn nach Korea diese Bedrohung weiter andauert! Stellen Sie sich vor, wie es im Falle eines Angriffs vom Osten, den Gott verhüten möge, etwa aussehen wird: Ganz Europa würde unter der Wucht des Angriffs liegen; denn die Luftlandedivisionen des Ostens würden früher in Kopenhagen, Antwerpen, Calais und Bordeaux sein, ehe etwa die Panzerspitzen vor Hamburg, Kassel und Regensburg stünden. Wir verstehen, meine Damen und Herren, wenn angesichts einer solchen Entwicklung unser Kollege Carlo Schmid einmal drüben im Saal die Worte
wiederholte, die man ihm auf einer Versammlung von Europafreunden zugerufen hatte, nämlich die Worte „faire l'Europe ou mourir", das heißt: wir müssen Europa schaffen, oder wir laufen Gefahr, zugrunde zu gehen.
Nun zu der Frage: Genügt denn der Europarat nicht für die Zwecke, die der Antrag verfolgt, die Zwecke nämlich, den Weg für eine Verfassung eines geeinigten Europa zu schaffen? Sie kennen die Prozedur des Europarates. Die Beratende Versammlung hat lediglich die Aufgabe und das Recht, Empfehlungen auszusprechen; allerdings muß sie diese mit Zweidrittelmehrheit beschließen. Sind diese Empfehlungen angenommen, dann muß der Ministerrat, d. h. die Versammlung der Außenminister der beteiligten Länder, diese Empfehlungen einstimmig genehmigen. Dann erst gehen sie an die einzelnen Länder und müssen in diesen auf verfassungsmäßigem Wege angenommen werden.
Sie werden einwenden, daß wir das alles ja wußten, als wir in den Europarat hineingingen. Das ist richtig. Aber wir sind hineingegangen in der Erwartung, daß diese Prozedur sich ändern lassen werde, und einer Änderung dieser Prozedur, sei es im Rahmen des Europarates, sei es separat, soll ja unser Antrag dienen.
Es ist das Merkwürdige an diesem Europarat, daß machtvolle Politiker, Vertreter vieler europäischer Länder, die daheim in ihren Parlamenten über eine Fülle von Macht verfügen, dort zusammensitzen und in ihrer Gesamtheit, eingeschnürt in das Korsett des Straßburger Statuts, nahezu keine Macht haben. Gleichwohl sind Fortschritte dort gezeitigt worden. Entscheidend ist zunächst, daß man sich bei solchen Fragen niemals aus der Gesamtheit ausschließen soll, wenn man an ihr teilnehmen kann. Wir haben in Straßburg auch die Erfahrung gemacht, daß Deutschland, die deutsche Bundesrepublik, dort auf dem Boden des Europarates völlig gleichberechtigt gegenüber allen anderen Ländern behandelt wird. Wir haben aber auch sachliche Erfolge gehabt. Ich erinnere an die Vereinbarung über die Menschenrechte und über den Gerichtshof, der zur Sicherung dieser Menschenrechte geschaffen worden ist. Ich erinnere daran, daß eine Konvention über die Niederlassungsfreiheit in allen europäischen Ländern zustande gekommen ist, auch wenn sie noch nicht zum Inhalt der Gesetzgebung der einzelnen Länder gemacht worden ist.
Das Wichtigste aber ist, daß wir in Straßburg die Möglichkeit der offenen Aussprache haben,
einer Aussprache, die dahin geführt hat, daß, auch wenn dort jeder nur für sich, à titre personnel, gesprochen hat, auf diese Weise doch die Meinungen der einzelnen Länder in einer Form geklärt werden konnten, die auch für die Zukunft von Nutzen ist. So hat z. B. ein englischer Vertreter am 24. November 1950 — es ist nahezu ein Jahr her — in Straßburg gesagt:
Wiederholen wir doch nicht den Fehler, den wir nach dem Kriege 1914/18 begangen haben, als wir der Republik von Weimar die Konzessionen verweigert haben, die wir später der Regierung Hitler zu geben genötigt waren!
Der das sprach, war Herr McMillan, jetzt, im Churchill-Kabinett, Minister der britischen Krone. Frankreichs Außenminister, Herr Schuman, erklärte —auch im November des vergangenen Jahres — anläßlich seines Vorschlages zur Schaffung eines einigen Europa und einer europäischen Armee zur Frage der Verteidigung Europas ausdrücklich: „Pas de discrimination sera faite". Das heißt also: es gibt in dem Europa der Zukunft, und es gibt auch in der europäischen Armee, die geschaffen werden soll, keine Unterschiede, keine Europäer erster oder zweiter Klasse! Nun, das ist ein Ausspruch, mit dem das Wort Frankreichs praktisch für die ganzen Verhandlungen verpfändet worden ist.
Auch unsere deutschen Vertreter haben — vielleicht kann das in der Debatte erörtert werden — dort Meinungen zum Ausdruck gebracht, die eine fortschreitende politische Entwicklung auch auf dem Gebiete der Außenpolitik in die Wege geleitet und gefördert haben. Aber es muß zugegeben werden, daß wir einen europäischen Bundesstaat noch nicht haben schaffen können, noch nicht einmal einen europäischen Paß, obwohl sich unser verehrter Kollege Mommer sehr eifrig darum bemüht hat, und noch nicht einmal eine europäische Briefmarke, obwohl sich unser Postminister nach dieser Richtung bestimmt große Mühe gegeben hat. Immerhin aber: auf Teilgebieten sind doch Fortschritte gemacht worden, wenn sie vielleicht auch nicht sämtlichen im Europarat vertretenen Mächten zugute kommen. Diese Fortschritte auf Teilgebieten sind hervorgerufen durch die Initiative Frankreichs, das wir zu dieser Initiative an sich beglückwünschen möchten. Es handelt sich, wie Sie schon wissen, um den Schumanplan, und es handelt sich um die Frage einer europäischen Verteidigung, und zwar auf dem Wege, daß die europäischen Völker ihren Verteidigungsbeitrag im Rahmen einer europäischen Armee leisten und daß diese europäische Armee integriert wird in das Verteidigungssystem des Atlantikpakts. Sowohl der Schumanplan wie der Plevenplan haben Grundzüge einer bundesstaatlichen Verfassung in sich, die Exekutive, das Parlament, den Gerichtshof; bei der Europaarmee sind vorgesehen — wenigstens in dem Vorschlag, den Frankreich gemacht hat — eine demokratische Leitung, gemeinsame Finanzierung, die parlamentarische Kontrolle.
Es war am 12. Juli 1951, als wir den Schumanplan berieten und dabei auch die Frage der bundesstaatlichen Verfassung zur Sprache kam. Herr Carlo Schmid, unser Kollege, sprach zu diesem Punkt. Ich erlaubte mir, als er den Einwand brachte, daß die Hohe Behörde des Schumanplans eine zu starke unmittelbar eindringende Kompetenz habe, den Zwischenruf, daß das doch im Bundesstaat ohnehin dazugehöre. Er ging sehr freundlicherweise auf den Einwand ein und erklärte dazu folgendes — ich darf es mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren —:
Teilverantwortungen und Teilkompetenzen sind in Staat und Überstaat nur möglich., wo ein Teilgebiet in sich ganz geschlossen ist und nicht auf andere wesentliche Gebiete entscheidend Einfluß zu nehmen vermag. Das ist in der Tat das Problem des Bundesstaates, und deswegen wird in jedem Bundesstaat die Lastenverteilung und Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern so vorgenommen, daß, was der Bund anrichtet, auch der Bund bezahlen muß und nicht etwa die Länder zu bezahlen haben.
So damals Herr Carlo Schmid. Ich glaube deshalb, annehmen zu können, daß Herr Carlo Schmid, der leider heute nicht anwesend ist, mir zustimmen
würde, wenn wir jetzt den Antrag stellen, durch eine Ermächtigung an unsere Delegierten eine bundesstaatliche Verfassung in dem Sinne, wie sie ihm vorgeschwebt hat, zu schaffen. Denn es handelt sich doch praktisch jetzt um nicht mehr und nicht weniger als folgendes: Wenn die Europaarmee geschaffen werden soll, wenn, mit anderen Worten, Europa sich eine Armee zur Verteidigung gibt, dann muß diese Armee auch von einem Kopf dirigiert werden;
und dieser Kopf kann nur ein europäisches Außenamt sein. Es wäre durchaus möglich, im selben Zuge gleichzeitig die Hohe Behörde des Schumanplans zu inkarnieren in ein europäisches Wirtschafts- und Sozialministerium; und es wäre aus beiden Gründen, namentlich aus dem Grunde der Finanzierung der Verteidigung Europas, notwendig, auch eine gemeinsame Finanzierungsbehörde zu schaffen und schließlich zur demokratischen Kontrolle des Ganzen das europäische Parlament und den europäischen Gerichtshof, in den der Gerichtshof aus der Konvention der Menschenrechte und der Gerichtshof aus dem Schumanplan ebenfalls eingebracht und in dem diese zu einem gemeinsamen, einheitlichen Gerichtshof verbunden werden könnten. Das sind Pläne, die nicht nur Illusionen sind, sondern Pläne, die der Außenminister Frankreichs, Herr Schuman, bereits in Ottawa angeregt und angekündigt hat.
Wenn derartige Anträge zur Debatte stehen und gestellt würden, dann müßten nach unserer Auffassung Vertreter Deutschlands bereit und in der Lage sein, nicht nur in der vagen Form wie bisher in Straßburg, in Form von Empfehlungen, zu arbeiten, sondern schon eine Konstitution auszuarbeiten, selbstverständlich in Verbindung nur mit Vertretern derjenigen anderen Länder, die von ihren Parlamenten in der gleichen Weise zu bevollmächtigen wären. Es wäre, mit anderen Worten, nicht anders, als wenn wir in Europa in den Staaten, die gewillt wären, endlich vom Reden zum Handeln zu kommen, eine Volksabstimmung, eine Wahl vornehmen würden, um Vertreter für eine verfassunggebende Versammlung für Europa zu schaffen. Der Weg einer solchen Abstimmung wird durch das hier vorgeschlagene Verfahren abgekürzt, indem die vom Parlament nach Straßburg geschickten Delegierten schon die entsprechende Ermächtigung erhalten.
Aber schon höre ich nun wieder einen Einwand: „Ja, mit wem zusammen? Ohne England? Soll es ein Klein-Europa werden?" Wir hätten natürlich den Wunsch, daß alle Länder, insbesondere England, mitmachen würden. Aber wenn von der englischen Seite zum Ausdruck gebracht wird, daß sie nicht in der Lage sei, einen Teil ihrer Souveränität an ein derartiges vereinigtes Europa abzutreten, dann müssen wir für eine derartige Auffassung Verständnis zeigen, Verständnis haben auch dafür, daß diese Auffassung sich aus den großen Interessen Englands herleitet, die es in seinem Commonwealth und in seinem Kolonialreich hat. Wir hatten am vergangenen Freitagabend in der Paulskirche in Frankfurt am Main im Zusammenhang mit dem Kongreß der Europaunion das Vergnügen, eine englische Politikerin zu hören; sie erklärte in ihrer frischen Art folgendes: „Wissen Sie, Sie werden weder von der Labourseite noch von der konservativen Seite je einen Antrag hören, daß die mit Ihnen ein vereinigtes Europa schaffen wollen; aber wir Engländer" — so sagte sie wiederholt — „sind praktische Leute, und als praktische Leute werden wir, sobald die Sache geht, sofort mitmachen."
— Also wir hoffen darauf, dåß sie dann mitmachen
werden, und freuen uns, wenn sie das tun werden.
Nun weiter: Man wendet ein: „Ein Klein-Europa, nur ein Teileuropa!" Oder es wird uns gesagt: „Nein, wir wollen sofort das ganze Europa; sonst machen wir es überhaupt nicht!" Ja, meine Damen und Herren, was haben wir denn drüben in dem Saal im Parlamentarischen Rat geschaffen? Haben wir da auch gesagt: „Nein, wir machen kein Grundgesetz, wir vereinigen die deutschen Länder nicht, wenn sie nicht alle — auch die hinter dem Eisernen Vorhang — zusammenkommen!"?
Nein, wir haben damals, als wir da drüben unsere Verfassung schufen, das, was wir wollten und als Endziel vor uns sahen, aus der Symbolik dieses Landes hier am Rhein genommen, nämlich aus der Symbolik im Hinblick auf Ernst Moritz Arndt, der vor hundert Jahren hier gelebt hat
und auf die Frage: „Was ist des Deutschen Vaterland?" sich selbst und uns allen die Antwort gegeben hat: Das ganze Deutschland soll es sein!
Wenn wir in unserem Antrag eine Konföderation für Europa weiterführen wollen, dann heißt das: in dieses freie Europa gehört das ganze Deutschland hinein — genau so wie in das Europa der Zukunft das ganze Europa —, auch das, was heute noch hinter dem Eisernen Vorhang liegt, in Einigkeit und Recht und Freiheit.
Wir dachten, als wir an Ernst Moritz Arndt dachten noch an einen andern, und das war ein Bauernsohn hier aus der Nähe, aus Liblar bei Bonn, Karl Schurz, jenen Freiheitskämpfer und Revolutionär von 1848/49, der dann schließlich aus der muffigen Enge des Obrigkeitsstaates nach Amerika ging und sich dort vom Freiheitskämpfer unter Lincoln zum Staatsmann emporarbeitete. Das war Einigkeit, wie sie Ernst Moritz Arndt uns gezeigt hat, im Sinne der Freiheit von Karl Schurz. Diese Freiheit wollen wir für dieses Europa haben.
— Ich darf bitten, mir vielleicht noch einige Minuten zu gestatten, urn den Gedanken zu Ende zu führen.
Nun wird weiter eingewendet: Ja, wenn wir nun dieses Kleineuropa schaffen, in dem Italien, Frankreich, Deutschland, die Benelux-Staaten, vielleicht Dänemark, vereinigt sind, dann wird — so sagen die Deutschen — Frankreich das Übergewicht haben. Die Franzosen sagen: dann wird Deutschland das Übergewicht haben. Ich bitte Sie, würden wir, als wir drüben in diesem Saal die Bundesrepublik Deutschland schufen, die Schaffung dieser Bundesrepublik unterlassen haben, weil wir befürchtet hätten, daß vielleicht der Süden über den Norden oder der Norden über den Süden das Übergewicht hätte? Nein, man muß schon die Dinge so sehen, wie sie werden sollen, d. h. wie in einem einheitlichen Staat das Mißtrauen hinüber und herüber verschwindet.
Zu einem Punkt nur noch ein Wort. Es ist selbstverständlich, daß für die Lösung des europäischen Problems überhaupt und erst recht für die Lösung eines Kleineuropas das Verhältnis Deutschland und Frankreich das Entscheidende ist. Aber ich glaube, wir sind alle überzeugt, daß die Zeit, in der die Söhne beider Völker sich bekriegten und am Ende des Krieges jeweils die Grenze um 80 km weiter östlich oder westlich verschoben wurde, vorbeisein müßte, daß wir endlich lernen müßten, uns zu verständigen. Was heute zwischen uns noch steht, das ist das Mißtrauen Frankreichs, die Furcht vor einer künftigen Entwicklung oder die Sorge, daß sein Sicherheitsbedürfnis nicht befriedigt wäre. Wir wollen nicht darüber diskutieren, weder im Hinblick auf das 20. Jahrhundert noch im Hinblick auf das 18. Jahrhundert, ob dieses Bedürfnis berechtigt ist oder nicht. Wir nehmen einfach die Tatsache dieses Wunsches nach Sicherheit als eine politische Tatsache hin. Dieser politischen Tatsache wird durch den Schumanplan Rechnung getragen, weil durch die Gemeinsamkeit der Behandlung von Kohle und Eisen jede Gefahr einer heimlichen Rüstung unsererseits gegen Frankreich ausgeschlossen ist, ferner durch die europäische Armee, weil eine europäische Armee unter gemeinsamem Oberbefehl selbstverständlich jeden Streit untereinander ausschließt.
Schließlich noch die Frage: Ist die Zeit für diese Dinge denn auch wirklich reif, sind nicht die kürzlichen Entscheidungen des Sicherheitsamtes, sind nicht die Reden, die von jenseits des Rheins herüberdringen, ein Hindernis? Die Franzosen werden dann dagegen fragen: Ja, wie steht es denn mit euren Soldatenbünden und mit den Reden eurer Generale?
So könnten wir hinüber und herüber miteinander verhandeln und uns Vorwürfe machen. Die einzige Antwort kann doch nur die sein, daß es in einem gemeinsamen Staat, in einem Bundesstaat, der alle umschließt, gelingen muß, dieser Ressentiments und dieser Dinge, die wir beklagen und die die anderen beklagen, Herr zu werden. Ich glaube, man kann einmal ganz deutlich, was uns in Deutschland angeht, sagen: von jenen Soldatenbünden, soweit sie sich auf die Pflege der Tradition, auf die Pflege der Kameradschaft und auf die Pflege sozialer Angelegenheiten beschränken, hat kein Mensch Sorge, ebensowenig vor entsprechenden Bünden anderwärts. Im übrigen mögen manche sich zur Richtschnur dienen lassen, daß ein Moltke und ein Seeckt zu schweigen wußten und gerade erst recht, weil sie zu schweigen wußten, Moltke und Seeckt waren.
Das Entscheidende ist doch, daß es sich bei den
Trägern solchen Mißtrauens um die handelt, die
Stresemann die ewig-Gestrigen genannt hat, die
Leute, die hinter unserer Entwicklung herlaufen.
Unser verehrter Alterspräsident, Herr Löbe, wird
sich wohl noch der Szenen aus den 20er Jahren
erinnern, als Stresemann — ich glaube, Hugenberg
gegenüber — von den ewig-Gestrigen sprach, diesen ewig-Gestrigen, die sich als große Realpolitiker
vorkommen und in Wirklichkeit nur hinter den
Ereignissen herlaufen. Das sind diejenigen, die
durch eine Tätigkeit in einem gemeinsamen Staat
doch vielleicht bekehrt oder zum Schweigen verurteilt würden. Es wird an der Öffentlichkeit liegen, es wird eine Aufgabe der Presse sein, doch einmal nicht nur die Dinge vorzutragen, die das Volk auseinanderführen, die als Ressentiments von der einen oder der andern Seite gewürdigt werden. Es wird vielleicht einmal eine Aufgabe sein, die Millionen und aber Millionen insbesondere aus der deutschen Jugend dem Ausland gegenüber zum Sprechen zu bringen, die ihren Wunsch nach einer Verständigung und einer Aussöhnung, nach einem vereinigten Europa zum Ausdruck bringen wollnen. Unsere Aufgabe als eine Aufgabe der Verständigung müßte es sein, diese Stimmen in jeder Richtung zum Klingen zu bringen.
Als wir im vergangenen Jahre nach Straßburg kamen, habe ich von Franzosen, die mich nicht kannten und die ich nicht kannte, Briefe zum Teil erschütternden Inhalts bekommen, Briefe, aus denen diese große Sehnsucht nach Aussöhnung, nach Frieden und einem vereinten Europa herausklang. Ich möchte mit dem, was ich eben als wünschenswert bezeichnet habe, daß man nämlich diejenigen, die schneller als die Politiker einem vereinten Europa zustreben, zu Wort kommen lassen sollte, beginnen und darf Ihnen mit Genehmigung des Herrn Präsidenten nur zwei kurze Schreiben vortragen, womit ich dann schließen will. Das eine kommt aus Nancy und lautet:
Ich bin ein ehemaliger französischer Kriegsgefangener in Deutschland, und ich schreibe Ihnen, um Sie zu bitten, doch Straßburg nicht zu verlassen, bevor nicht eine Organisation für Europa in Gang gebracht ist. Während fünf Jahren habe ich Ihr Volk kennengelernt, und ich habe bei Ihnen zahlreiche Freunde zurückgelassen. Es wäre Ihnen zu danken, wenn der Traum eines vereinigten Europas endlich eine Wirklichkeit werden und wenn der ewige Antagonismus zwischen Frankreich und Deutschland einmal dahin geworfen werden könnte, wohin er gehört, nämlich auf den Kehrichthaufen. Es lebe Europa!
Und der andere Brief von einem Familienvater aus der Champagne, der im Kriege viele Verluste erlitten hat! Der Brief lautet:
Es ist ein Franzose, der es wagt, Ihnen seine
Hoffnungen zu schreiben. Die deutschen Bomben haben zwei meiner Kinder am 10. Mai
1940 getötet. Anschließend haben deutsche Offiziere mein Haus besetzt gehabt. Zweimal in
diesen 20 Jahren haben deutsche Granaten
unsere alte Kirche zerstört und beschädigt.
Und trotzdem: Niemals hat der Anblick einer
deutschen Uniform mir oder meiner Frau Haß
eingeflößt. Das sind ja alles unsinnige Streitigkeiten. Genug damit! Die Barbarei, die einen
Teil unserer christlichen Brüder unterdrückt:
soll sie uns noch alle verschlingen? Schaffen
Sie dieses Europa und genug dann mit diesen
brudermörderischen Kriegen. Es lebe Europa!