Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist noch nicht sehr lange her, da stand ich drüben im Bundesratssaal fast allein vor dem gesamtdeutschen Ausschuß und dem außenpolitischen Ausschuß und kämpfte vergeblich um eine Antwort auf den ersten Grotewohlbrief, eine Antwort, die ganz gewiß nicht zu den Bedingungen des Herrn Grotewohl ja sagen sollte, die aber den Zweck und das Ziel hatte, Herrn Grotewohl die Möglichkeit und Gelegenheit zu geben, sich selbst zu entlarven. Diese meine Absicht scheiterte vor allen Dingen an dem Widerstand der SPD,
die dahin argumentierte: mit solchen Verbrechern darf man überhaupt nicht reden; dadurch würden wir sie anerkennen, und überdies würden sie es ja auch gar nicht ehrlich meinen.
Nur kurze Zeit ist das her, und eine ganz erhebliche Wendung scheint mir eingetreten zu sein. Ist man jetzt vielleicht im Lager der Herren von der SPD der Meinung, das Angebot Grotewohls gebe tatsächlich die Möglichkeit, zu gesamtdeutschen Wahlen zu kommen, wäre tatsächlich irgendwo ehrlich gemeint? Was Grotewohl mit seinem Vorschlag will, hat er ja selber sehr deutlich ausgesprochen. Es kommt ihm darauf an, die jetzt entrierten Verhandlungen zwischen den Westalliierten und der Regierung der deutschen Bundesrepublik zum Scheitern zu bringen. Dabei zielt er eigentlich gar nicht so sehr auf uns ab; er zielt in Richtung auf die Hohen Kommissare. Die Reaktion, die diese Versuche von drüben bei uns finden, könnte doch nur zu leicht das noch lange nicht eingeschlafene, im Gegenteil sehr starke Mißtrauen über die zukünftigen Absichten, die zukünftige Haltung des 1 deutschen Volkes in dieser Frage beeinflussen, so daß man uns Bedingungen stellt, die die Verhandlungen zum Scheitern bringen müßten.
Aber, meine Damen und Herren, sehr viel interessanter — und ich wundere mich eigentlich, daß noch niemand von Ihnen darauf gekommen ist! — ist doch folgende Überlegung: Wenn Grotewohl diese Verhandlungen stören will, sieht er doch wenigstens die Möglichkeit, daß sie zu einem Erfolge führen könnten. Denn wer macht sich die Mühe, Verhandlungen zu stören, von denen er schon von vornherein glaubt, daß sie ja doch in einer Sackgasse enden werden? Interessant diese Meinung; denn wir alle wissen ja doch, welche Schwierigkeiten bei diesen Verhandlungen bestehen. Wir wissen alle, daß noch lange nicht ein gutes Ende da ist; wir fürchten alle — und darum ist unsere Skepsis so groß —, daß man sich bei dem Durcheinander auf der alliierten Seite immer noch nicht klar darüber geworden ist, daß man Unvereinbares nicht vereinen kann. Das ist die Skepsis, die uns eventuell ein Scheitern dieser Verhandlungen möglich erscheinen läßt. Um so besser, wenn ich jetzt höre, daß Grotewohl — sprich: der Russe! — doch immerhin auf die Idee kommen konnte, daß die Verhandlungen sich so gestalten, daß in diesem Hause eine große Mehrheit den Ergebnissen zustimmen kann. Ein Erfolg ist das selbstverständlich.
Aber nun kommt doch eine geradezu groteske Situation. Herr Wehner hat sich vorhin darüber beschwert, daß er verdächtigt würde, er — oder die SPD — treibe das Spiel des Herrn Grotewohl. Ja, meine Damen und Herren, sehen Sie denn nicht die Groteske? Hier wird ein Manöver unterstützt, das von den Russen dazu bestimmt ist, die wenigstens teilweise Freiheit der westdeutschen Menschen zu hintertreiben. Sicher: wenn man versucht — und das muß man ja —, eine vernünftige Politik in diesem Hause zu treiben, muß man seine Grenzen kennen und wissen, worauf es ankommt. Man könnte also vielleicht der Meinung sein, daß das Ganze von der SPD etwa im Sinne meines Auftretens vor einem halben Jahr gemeint wäre: daß nämlich gemeint wäre, hier Herrn Grotewohl zu entlarven, daß es ihm mit seinen Vorschlägen gar nicht ehrlich sei. Ich kann daran nicht glauben, vor allem deshalb nicht, weil wir ja gleich den dokumentarischen Beweis dafür haben, mit welcher Inbrunst gerade die SPD glaubt, gesamtdeutsche Wahlen herbeiführen zu können, nachdem Herr Dr. Schumacher es dem Herrn Bundeskanzler vorgeworfen hat, daß er in diesem Zusammenhang von der Oder-Neiße-Grenze sprach, die doch ein „Fernziel" sei. Meine Damen und Herren von der SPD, täuschen Sie sich nicht. Sie werden nirgends im deutschen Volke Gefolgschaft finden, wenn Sie einen Friedensvertrag abschließen wollen, in dem die Oder-Neiße-Grenze Fernziel ist.
— Ich verdrehe nicht. Es ist gesagt worden, die Oder-Neiße-Grenze sei ein Fernziel.
— „Demagoge" soll ja hier nicht gesagt werden. Ich nehme es ihm nicht übel!
Versuchen wir die Haltung der SPD anders zu erklären. Es kann also kein Entlarvungsversuch sein! Was aber sonst?
Und da komme ich zu folgender Überlegung. Wir wissen doch, daß die SPD sich zu Europa bekennt. Aber bei jeder Gelegenheit in Straßburg und bei jeder Gelegenheit auch hier stoßen wir, wenn auch nur die kärglichsten, kümmerlichsten Versuche gemacht werden, den europäischen Gedanken weiterzutreiben, auf das Nein der SPD. Noch vor einigen Tagen in Paris hat der Vertreter der SPD in der politischen Kommission des Europarates auf den Vorschlag Schuman-Mollet, eventuell ein Kommissariat zur Abstimmung der gemeinsamen europäischen Außenpolitik zu bilden,
erklärt, das wäre ja doch nur ein Versuch, das Besatzungsstatut mit anderen Mitteln fortzusetzen. Das ist ja immer die Argumentation, die wir bei allen diesen Versuchen hören.
Ich habe bisher — um sehr deutlich zu sprechen — geglaubt, daß diese ganze Haltung der SPD in bezug auf Europa in Wirklichkeit gar nichts mit ihrem ehrlichen Bekenntnis zu diesem Ziel zu tun hätte; ich habe geglaubt, ihre Ablehnungen seien innerpolitisch bedingte Kampfmittel. Ich bin sehr skeptisch geworden, nachdem ich gestern hören mußte, wie Herr Dr. Luetkens erklärte, daß eine teilweise Souveränität Westdeutschlands nicht wünschbar wäre. Wir kennen doch alle Herrn Dr. Luetkens als einen sehr ruhigen, sehr überlegten Mann, der sehr genau in die außenpolitischen Absichten der Führung der SPD eingeweiht ist. Gewiß, die SPD ist hörbar davon abgerückt; sie konnte ja gar nicht anders. Denn welch ein Sturm der Entrüstung würde sich in Westdeutschland erheben, wenn man sich etwa zu diesem Bekenntnis von Herrn Dr. Luetkens nachträglich noch bekannt hätte.
Aber für mich bleibt es doch bei der Tatsache. Ich komme gar nicht darum herum. Ist es denn tatsächlich so, daß in Wahrheit die europäische Zukunft seitens der SPD nicht so gesehen wird, wie wir bisher geglaubt hatten, daß sie tatsächlich der Meinung ist: „Wenn nur Westdeutschland in Europa integriert werden soll, dann nicht!"? Meine Damen und Herren, diese Haltung kann ich nicht
verstehen.
Aber diese Haltung bedeutet den Weg in die Neutralität, in die Neutralisierung Deutschlands. Es gibt dann keinen andern Weg für das deutsche Volk, wenn wir die Einigung haben wollen. Unter der heutigen Weltlage ist tatsächlich nur diese eine Möglichkeit offen.
Es ist geradezu grotesk und bezeichnend für die politisch harmlose Ahnungslosigkeit des deutschen Volkes, wenn dieser Gedanke,
der ja gar nicht neu ist und der eines der Kriegsziele der vereinten Westalliierten war, jetzt wieder von uns Deutschen ventiliert wird. Meine Damen und Herren, die Sie mit dem Gedanken der Neutralität spielen, ist Ihnen eigentlich gar nicht klar, daß das ja die Grundkonzeption des Morgenthau-Plans war?
Gewiß, dieser Plan ist gescheitert. Unser Glück, unsere Zukunftschance bedeutet es, daß dieser Plan gescheitert ist, scheitern mußte. Warum? Die Idee gemeinsamer Niederhaltung Deutschlands setzte auch Gemeinsamkeit der Interessen voraus. Diese Gemeinsamkeit der Interessen war Gott sei Dank nicht vorhanden. Im Gegenteil, die gegenseitigen Interessen stehen so, daß keiner von den großen Weltblöcken dem anderen die Ausnutzung des deutschen Potentials gönnen kann.
Um so unverständlicher ist es. wenn jetzt auf unserer Seite wieder mit diesem Gedanken gespielt wird. Wir müssen uns doch darüber klar sein:
Seien wir uns ganz klar: wir spielen hier mit der deutschen Zukunft; wir spielen hier ein sehr gefährliches Spiel!
Wir wollen uns nicht verfangen, wir wollen uns nicht an unseren eigenen Gefühlen berauschen.
Wir haben die Pflicht, sehr kühl und sehr ruhig im Interesse unseres deutschen Volkes, für das wir die Verantwortung tragen, aufzutreten. Wir sprechen immer davon: wir wollen die Ostdeutschen nicht abschreiben. Ich komme selber aus Ostdeutschland, und nie werde ich darauf verzichten. Aber ich will auch die Westdeutschen nicht abschreiben.
Ich will auch die Westdeutschen nicht versacken lassen. Ich will die Wiedervereinigung, — das ist ein schlechter Ausdruck, es muß heißen: die Befreiung.
Ich bin' überzeugt, Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, das deutsche Volk folgt Ihnen, wenn Sie dem deutschen Volk eine Wiedervereinigung zumuten, bei der es in den Zustand von Potsdam, in den Zustand der Sklaverei zurückkommt.
— Darauf kommt Ihre Politik, das weiß ich seit gestern, heraus.
— Wer hier irre redet, das überlasse ich sehr gern dem Urteil der deutschen Öffentlichkeit, die genau weiß, wer hier richtig spricht und wer Gefühlsduselei macht.
Deshalb sage ich: wir müssen die Frage der gesamtdeutschen Wahlen mit der genügenden Vorsicht behandeln.
Wenn wir zu einer Einigung mit dem Osten kommen wollen, gibt es dazu nur einen Weg: das ist der Weg über Europa. Nur dann sehe ich die friedliche Möglichkeit. An einer kriegerischen Möglichkeit ist niemand interessiert: das wäre unser Ende.
Wenn nämlich der Russe vor einem stark gewordenen Europa nicht mehr die Sorge zu haben braucht, daß es eventuell als Brückenkopf für einen Angriff gebraucht werden könnte, dann ist der Moment gekommen, in dem Stalin überhaupt kein Interesse mehr hat — ich nehme an, auch Herr Reimann wird ihn nicht so weit interessieren —, diesen Pfahl im Fleisch, den letzten Endes das deutsche Gebiet innerhalb seines Gebietes bedeutet, bei sich zu behalten.
Das ist die Lösung. Darum bejahe ich Europa, darum will ich kein Deutsches Reich schaffen. Nein, ich will ein Europa schaffen, in dem Deutschland ein gleichberechtigter Teil ist. Das ist der Weg, um unsere Ostdeutschen zu befreien. Ich empfehle dem Bundestag, diesem Weg mit der geruhsamen Vorsicht zu folgen. Wir sollen nicht so töricht sein, das Spiel derjenigen zu treiben, die in Wirklichkeit unsere deutsche Freiheit nur im Munde führen und in Wahrheit ganz etwas anderes beabsichtigen.
Infolgedessen lehnt meine Fraktion den Antrag der KPD ab und billigt es durchaus, wenn die Bundesregierung nicht überstürzt ein Wahlgesetz vorlegt, solange man noch gar nicht weiß, ob und unter welchen Bedingungen drüben gewählt werden kann. Wir sind mit diesem Vorgehen durchaus einverstanden und danken dem Herrn Bundeskanzler für diese Haltung.