Meine Damen und Herren! Die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik hat sich erneut an den Bundestag gewandt und erwartet eine klare Antwort auf die Ihnen bekannten zwei Fragen. Das deutsche Volk hat nicht verstehen können, daß der Bundestag in seiner Sitzung vom 27. September den Vorschlag der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik nicht zustimmend beantwortet hat und statt dessen einer Regierungserklärung Dr. Adenauers zugestimmt hat, in der Vorbedingungen für gesamtdeutsche Wahlen genannt wurden und die Frage der Beschleunigung des Abschlusses eines Friedensvertrages mit Deutschland umgangen wurde. Um so mehr erwartet das deutsche Volk von der heutigen Sitzung des Bundestages eine klare, eindeutige und zustimmende Antwort auf die beiden Fragen der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik.
Unser Volk empfindet in wachsendem Maße die gefahrvolle Situation und die Verschärfung der internationalen Spannungen. Leben und Existenz besonders unseres Volkes sind bedroht durch eine Politik, die an Stelle der Lösung der internationalen Probleme durch Verhandlungen die Drohung
mit der Atombombe setzt, wie das vor allem auf den Konferenzen von San Franzisko und Washington zum Ausdruck kam.
Für die Erhaltung des Friedens in Europa und damit des Lebens und der Existenz unserer Nation ist vor allem die friedliche Lösung des Deutschlandproblems erforderlich. Darum hat der Appell der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik an den Bundestag Zustimmung in allen Schichten unseres Volkes gefunden. Darum erwartet das Volk in seiner Gesamtheit, daß die Tür zur deutschen Verständigung, die von der Volkskammer geöffnet wurde, nicht durch eine kurzsichtige, die Interessen unseres Volkes unberücksichtigt lassende Politik wieder zugestoßen wird. Die Abgeordneten des Bundestages würden nie vor den Fragen ihrer Wähler bestehen können,
wenn sie eine den Interessen unserer Nation und den Erwartungen unseres Volkes widersprechende Entscheidung
zu dem Vorschlag der Volkskammer auf gesamtdeutsche Beratungen fällen würden.
Die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik hat an ihren Vorschlag keinerlei Bedingungen geknüpft. Sie hat in ihrer zweiten Sitzung ausdrücklich erklärt, daß sie ihren Vorschlag auf gesamtdeutsche Beratungen über freie Wahlen in ganz Deutschland zu einer Nationalversammlung und über den Abschluß des Friedensvertrages ohne jede Bedingung mache. Um so bedauerlicher ist es, daß der Bundestag in seiner Sitzung vom 27. September den Vorschlag der Volkskammer unbeantwortet gelassen und den Bedingungen Dr. Adenauers zu gesamtdeutschen Wahlen zugestimmt hat. Herr Dr. Adenauer hat in wiederholten Erklärungen zu diesen 14 Punkten weitere Bedingungen für gesamtdeutsche Wahlen genannt.
Die offene Sprache des „Rheinischen Merkur", der die Meinung des Herrn Adenauer wiedergibt, und die Äußerungen des Regierungssprechers, die deutsche Einheit sei nur ein Trugbild, beweisen die ablehnende Haltung Dr. Adenauers zur Wiederherstellung der deutschen Einheit überhaupt.
Der Versuch, durch die 14 Punkte die Bestrebungen zur Wiederherstellung der deutschen Einheit auf Grund des Vorschlages der Volkskammer zum Scheitern zu bringen, wurde durch die verantwortungsbewußte Haltung der Volkskammer vereitelt. Die Volkskammer hat in ihrer letzten Sitzung ausdrücklich erklärt, daß sie die Mehrzahl der 14 Punkte für gesamtdeutsche Wahlen annimmt und über andere Fragen mit den Vertretern des Bundestages zu verhandeln bereit ist.
Damit gibt es keine Gründe mehr, die eindeutigen Fragen der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik verneinend oder ausweichend zu beantworten. Es ist geradezu erschütternd, daß der Bundeskanzler Dr. Adenauer, anstatt in seiner Regierungserklärung auf die Fragen der Volkskammer einzugehen, eine Mitteilung über die Note der Hohen Kommissare macht, die den Abgeordneten bereits durch die amerikanische „Neue Zeitung" bekannt war. Herr Dr. Adenauer hat sich mit seiner Regierungserklärung auf das Niveau eines verspäteten Boten begeben. Wenn Herr Dr. Adenauer in seiner Regierungserklärung sagt, Ministerpräsident Otto Grotewohl habe auf die 14 Punkte nichts geantwortet, so möchte ich noch einmal feststellen, daß die Mehrzahl der 14 Punkte vom Ministerpräsidenten Otto Grotewohl als annehmbar bezeichnet wurde
und daß andere Punkte in gesamtdeutschen Beratungen zwischen Vertretern des Bundestages und der Deutschen Demokratischen Republik behandelt werden können. Ministerpräsident Grotewohl sagte ausdrücklich: Das trifft besonders auf die Fragen der internationalen Kontrolle über die Wahlen zu.
Herr Dr. Adenauer hat in seiner gestrigen Regierungserklärung weiterhin die Behauptung aufgestellt, Ministerpräsident Otto Grotewohl habe die Einstellung der Geheimverhandlungen Dr. Adenauers mit den Hohen Kommissaren zu einer Bedingung gesamtdeutscher Beratungen gemacht. Ich möchte demgegenüber noch einmal ausdrücklich feststellen, daß sowohl in den Ausführungen des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl als auch im Antrage der CDU-Fraktion an die Volkskammer und in der Rede des Präsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, Wilhelm Pieck, vom 13. Oktober ausdrücklich betont wird, daß die Einstellung der Verhandlungen zwischen Dr. Adenauer und den Hohen Kommissaren keine Vorbedingung für die Aufnahme gesamtdeutscher Beratungen ist. Unser Antrag in dieser Richtung hat nichts mit der Verständigung zwischen beiden Parlamenten zu tun.
Herr Dr. Adenauer hat also seine Regierungserklärung auf einer falschen Darlegung des Vorschlages der Volkskammer aufgebaut. Das gestrige Auftreten Dr. Adenauers, die Art, wie die Rechte des Bundestags durch den Bundeskanzler mißachtet werden, wie auch der gesamte Inhalt der Regierungserklärung zeigen, daß Dr. Adenauer unter allen Umständen gegen den Willen des deutschen Volkes und unter Mißachtung des Bundestags gesamtdeutsche Beratungen über freie Wahlen in ganz Deutschland und über den Abschluß eines Friedensvertrags verhindern will.
Auch der Inhalt der Note der Hohen Kommissare beweist, daß diese gesamtdeutsche Beratungen verhindern wollen, weil ihnen ein gespaltenes Deutschland für ihre Aggressionspläne zweckdienlicher ist. Gemäß der Regierungserklärung vom 27. September, die auch die Unterstützung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion fand, wurde die Abhaltung gesamtdeutscher Wahlen zu einer Angelegenheit der Besatzungsmächte gemacht,
obwohl sie eindeutig ausschließlich eine Angelegenheit des deutschen Volkes ist. In der Note der Hohen Kommissare wurde mitgeteilt, daß sie bei der ersten passenden Gelegenheit ihre Ansichten den Vereinten Nationen unterbreiten werden. Die Hohen Kommissare bestimmen also, wann die passende Gelegenheit für die Weiterleitung der Wahlvorschläge an die Vereinten Nationen gegeben ist. In der Note der Hohen Kommission heißt es weiter, daß nur durch solche Maßnahmen zweckmäßig und zufriedenstellend festgelegt werden kann, ob in dem Gesamtgebiet Deutschlands Bedingungen gegeben sind, die das Abhalten einer allgemeinen Wahl als praktisch durchführbar erscheinen lassen. Mit dem Vorschlag Dr. Adenauers wird also den Hohen Kommissaren, d. h. ausländischen Instanzen, die Gelegenheit gegeben, die Abhaltung gesamtdeut-
scher Wahlen mit der Begründung zu verhindern, daß die Bedingungen für gesamtdeutsche Wahlen nicht gegeben seien.
Ich möchte demgegenüber feststellen, weder die Hohen Kommissare noch die Vereinten Nationen sind die Instanz, die über gesamtdeutsche Wahlen und über das Wahlgesetz für gesamtdeutsche Wahlen zu entscheiden hat. Diese Fragen sind ausschließlich Angelegenheiten des deutschen Volkes! Gesamtdeutsche Wahlen können nur stattfinden, wenn sich die Vertreter Ost- und Westdeutschlands in einer gesamtdeutschen Beratung über das Wahlgesetz und über alle anderen Fragen, die mit gesamtdeutschen Wahlen zusammenhängen, verständigen. Wer gesamtdeutsche Beratungen nicht will, will somit auch keine gesamtdeutschen Wahlen,
ist ein Feind der Einheit Deutschlands
und handelt gegen die Interessen des deutschen Volkes!
Es ist charakteristisch für die Politik Dr. Schumachers und der Führung der SPD, daß sie auch in ihren Zusatzanträgen und in ihrer gesamten Stellungnahme den Vorschlag gesamtdeutscher Beratungen über freie Wahlen in ganz Deutschland und über den Abschluß des Friedensvertrags einfach verschweigt. Die unter Fraktionszwang erfolgte Zustimmung der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion zur Regierungserklärung Dr. Adenauers am 27. September beweist, daß sich die Politik Dr. Schumachers prinzipiell nicht von der Politik Dr. Adenauers unterscheidet und daß Dr. Schumacher ebenso wie Dr. Adenauer keine gesamtdeutschen Beratungen über Wahlen für Einheit und Frieden wünscht. Dr. Schumacher möchte dem Volke gegenüber eine Zustimmung zur Einheit Deutschlands und zu gesamtdeutschen Wahlen vortäuschen, behindert aber gleichzeitig durch die Ablehnung gesamtdeutscher Beratungen die Einleitung der Einheit auf demokratischer Grundlage.
In der Bundestagsdebatte vom 27. September wurde durch Dr. Adenauer und ebenso durch den Sprecher der SPD-Fraktion kein Wort zum Vorschlag der Volkskammer gesagt, bei gesamtdeutschen Beratungen die Beschleunigung des Abschlusses eines Friedensvertrages mit Deutschland zu besprechen. Auch in der gestrigen Regierungserklärung Dr. Adenauers wurde dieser Vorschlag der Volkskammer mit keinem Worte erwähnt. Dr. Adenauer fürchtet. seine wahre Einstellung zum Abschluß eines Friedensvertrages gegenüber dem deutschen Volke kundzutun. Er fürchtet das, weil er weiß, daß seine Haltung im Gegensatz zu den Interessen und Wünschen unseres Volkes steht, das nichts sehnlicher wünscht, als sechs Jahre nach Kriegsende endlich einen Friedensvertrag zu bekommen und damit diesen unwürdigen Zustand zu beenden.
Das deutsche Volk will durch den Abschluß des Friedensvertrages und den Abzug der Besatzungstruppen sein Selbstbestimmungsrecht zurückerhalten und nicht mehr fremde Herren über seine nationalen Interessen bestimmen lassen. Das deutsche Volk will über sein Schicksal selbst entscheiden, es will Herr im eigenen Hause sein. Das deutsche Volk will in einem einigen, demokratischen, unabhängigen, friedliebenden Deutschland
leben. Das ist die einzig mögliche Grundlage für ein friedliches Zusammenleben aller Völker Europas, zu denen auch die Sowjetunion gehört.
Dr. Adenauer aber will keinen Abschluß eines Friedensvertrages, weil er dadurch seine politische Konzeption, die mit der amerikanischen übereinstimmt, gefährdet sieht. Ich möchte eine Erklärung des Sprechers der amerikanischen Regierung wiedergeben, die heute in der „Welt" veröffentlicht worden ist. Darin heißt es, die amerikanische Regierung werde niemals die Eingliederung Westdeutschlands in das westeuropäische Verteidigungssystem als Preis für freie Wahlen hergeben.
Indem Dr. Schumacher ebenfalls die Frage des Abschlusses eines Friedensvertrags übergeht, leistet er der Politik Dr. Adenauers Hilfsdienste.
Die Lösung aller Fragen von nationaler Bedeutung des deutschen Volkes, insbesondere aber die Rettung des Friedens erfordern die Wiederherstellung der deutschen Einheit auf demokratischer und friedlicher Grundlage. Der Weg dazu wurde durch den Appell der Volkskammer, gesamtdeutsche Beratungen über freie Wahlen in Deutschland und über die Beschleunigung des Abschlusses eines Friedensvertrages abzuhalten, eröffnet.
Mir ist bekannt, daß Abgeordnete aller Fraktionen mit den Beschlüssen des Bundestages vom 27. September innerlich nicht einverstanden waren
und sich nur dem Fraktionszwang unterwarfen.
Meine Herren, die Vorgänge bei der außenpolitischen Debatte in der gestrigen Sitzung des Bundestages zeigen, daß in der sozialdemokratischen Fraktion starke Differenzen über die Politik der SPD-Führung in den Grundfragen unseres nationalen Lebens bestehen.
In den nächsten Tagen, meine Herren, wird ja noch mehr in dieser Richtung kommen.
Ich möchte an jeden Bundestagsabgeordneten noch einmal appellieren,
seine Entscheidung einzig und allein von seiner Verantwortung gegenüber seinen Wählern, gegenüber dem ganzen deutschen Volk bestimmen zu lassen.
Ich stelle im Namen der kommunistischen Fraktion folgenden Antrag:
Der Bundestag wolle beschließen:
Der Bundestag nimmt die von der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik an ihn ergangene Einladung
auf Durchführung einer gesamtdeutschen Be-
ratung an und wählt als Vertretung des Bundestages einen aus Mitgliedern aller Fraktionen zusammengesetzten Ausschuß.
Dieser Ausschuß hat die Aufgabe, gemeinschaftlich mit den Vertretern der Volkskammer die nachstehenden beiden Fragen zu erörtern und zu klären:
1. Abhaltung von freien, gleichen und geheimen demokratischen Wahlen
für eine Nationalversammlung für ganz Deutschland zur Schaffung eines einheitlichen, demokratischen, friedliebenden Deutschlands.
2. Beschleunigter Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland.
— Nun, wenn Sie der Meinung sind, wir kämen schlecht weg in ganz Deutschland, warum stimmen Sie dann nicht zu!
Ich bitte alle Abgeordneten, diesem Antrag, der dem Verlangen des deutschen Volkes nach Verständigung, Einheit und Frieden entspricht, die Zustimmung nicht zu versagen.