Meine Damen und Herren! Der Bundestag hat heute eine für unser Volk lebenswichtige Entscheidung zu treffen. Die Annahme oder Ablehnung des Vorschlages der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik ist zweifellos die wichtigste Entscheidung, die der Bundestag seit seinem Bestehen zu fällen hat. Die ganze Schwere der heutigen Entscheidung wird klar, wenn man bedenkt, daß Deutschland sich an einem Schnittpunkt der Entwicklung befindet. Es gibt nur zwei Wege für Westdeutschland. Der eine Weg führt mit dem Washingtoner Abkommen, der Wiederaufrüstung Westdeutschlands und seiner Einbeziehung in den Atlantikpakt zum Angriffskrieg, der damit zugleich ein Bruderkrieg gegen die Deutschen in der Deutschen Demokratischen Republik wird. Der andere Weg ist der Weg der gesamtdeutschen Verständigung, der Weg der freien, gleichen, direkten und geheimen Wahlen in ganz Deutschland zur Nationalversammlung, der Abschluß eines Friedensvertrages mit dem Abzug aller Besatzungstruppen aus ganz Deutschland.
Das ist auch der Weg zur Überwindung der internationalen Spannungen in Europa und damit zur Erhaltung des Friedens für unser Volk und die übrigen europäischen Völker. Die hohe Verantwortung, die die Abgeordneten dieses Hauses gegenüber der westdeutschen Bevölkerung haben, müßte es daher verbieten, eine leichtfertige Entscheidung zu treffen.
Ich wundere mich, daß der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung sich ausführlich mit technischen Fragen beschäftigt. Es ist eine Selbstverständlichkeit, Herr Bundeskanzler, daß alle Fragen, die sich auf die Wahlen beziehen, auch so gelöst werden können, ohne UN-Kontrolle. Aber heute geht es nicht um die Frage, technische Dinge zu lösen, sondern entscheidend ist, ob wir uns durchringen, als Deutsche gemeinsam alle Fragen zu besprechen, alle Fragen zu besprechen,
auf die es in diesen Dingen ankommt.
Der Bundestag darf sich nicht von Kräften, die an der Aufrechterhaltung der Spaltung Deutschlands interessiert sind, zu einer Ablehnung des Angebots der Volkskammer drängen lassen. Es ist allgemein bekannt, daß die amerikanische Hohe Kommission gesamtdeutschen Gesprächen und Verhandlungen zwischen den Deutschen aus Ost und West ablehnend gegenübersteht, da die amerikanische Deutschlandpolitik die Aufrechterhaltung der Spaltung Deutschlands zur Voraussetzung hat.
Für die Entscheidung der Abgeordneten des Bundestages dürfen jedoch nur Erfordernisse der deutschen Politik, die Belange des deutschen Vol-
kes ausschlaggebend sein und nicht die Forderung der amerikanischen Hochfinanz.
Das deutsche Volk fordert in seiner Gesamtheit von den Abgeordneten des Deutschen Bundestages eine zustimmende Antwort auf den Vorschlag der Volkskammer, damit gesamtdeutsche Beratungen über die Durchführung der Wahlen zur Nationalversammlung in ganz Deutschland zustande kommen können. Diese Beratende Versammlung darf man nicht gleichsetzen mit dem Konstituierenden Rat; sie hat mit ihm und seinen Funktionen gar nichts zu tun.
Mir ist bekannt, daß viele Abgeordnete aller Fraktionen des Bundestages von der Notwendigkeit der Abgabe einer zustimmenden Erklärung zu dem Angebot der Volkskammer überzeugt sind.
Der Ernst der Lage und die Größe der Entscheidung erfordern, daß Sie, meine Damen und Herren, sich nicht durch Fraktionszwang
zu einer Entscheidung bewegen lassen, die in Widerspruch zu den Interessen des Volkes und zu Ihren eigenen Erkenntnissen steht.
Herr Dr. Adenauer hat in seiner Rundfunkansprache am 18. September den Vorschlag der Volkskammer abgelehnt, obwohl das Angebot weder an Herrn Adenauer gerichtet, noch Herr Adenauer von irgendeiner deutschen Stelle zu der Ablehnung beauftragt war.
Die Ablehnung des Angebots geschah mit der Begründung, eine gesamtdeutsche Beratung würde die Verwirklichung des Washingtoner Abkommens unmöglich machen.
Herr Dr. Adenauer hat damit den Inhalt des Washingtoner Abkommens enthüllt;
denn welchen Charakter kann ein Abkommen haben, das die Aufrechterhaltung der Spaltung Deutschlands und die Verweigerung des Friedensvertrages mit Deutschland zur Grundlage hat?
Das kann nur ein volksfeindlicher und antideutscher Charakter sein. Ein solches Abkommen kann nur in Widerspruch zu den nationalen Interessen des deutschen Volkes, zu den Lebensinteressen unserer Nation stehen.
Und in der Tat: dieses Washingtoner Abkommen, das von Herrn Dr. Adenauer begrüßt wurde, bedeutet eine ernste Gefährdung des Friedens und damit des Lebens unseres Volkes.
Es verweigert unserem Volke das Selbstbestimmungsrecht; es verewigt die Spaltung Deutschlands und damit die nationale Erniedrigung des deutschen Volkes; es soll den Abschluß eines Friedensvertrages mit einem geeinten Deutschland unmöglich machen und damit das Besatzungsregime aufrechterhalten.
Nach dem Washingtoner Abkommen sollen junge Deutsche wieder in eine Uniform gezwungen werden, und zwar unter Bedingungen, die es einem fremden Generalstab ermöglichen, diese Deutschen für fremde Interessen auf allen möglichen Kriegsschauplätzen der Welt in den Tod zu schicken und sie selbst in den Krieg gegen ihre eigenen Brüder in der Deutschen Demokratischen Republik zu führen.
Ihrem Wesen nach ist eine solche Armee eine Kolonialtruppe etwa in der Art der Fremdenlegion in der französischen oder in der spanischen Armee. Und wer glaubt, daß ein deutscher Junge sich einer solchen Armee zur Verfügung stellen will? Glaubt jemand, daß die deutsche Jugend diese Demütigung hinnehmen wird? Niemals!
Die Aufstellung deutscher Truppenverbände im Rahmen des Atlantikpaktes und jede Wiederaufrüstung Deutschlands ist eine Gefährdung unseres nationalen Lebens. Die bisherige Entwicklung in Westdeutschland, das Entstehen militärischer Verbände unter Führung bankrotter Generale der Hitler-Armee, beweist, daß die Remilitarisierung aufs engste mit dem Wiedererstarken des Militarismus verbunden ist und damit eine hohe Gefährdung der demokratischen Rechte des Volkes und des friedlichen Zusammenlebens mit den anderen Völkern darstellt. Zahlreiche Erklärungen der führenden Generale der militärischen Verbände, die offene Propaganda in der „Deutschen Soldatenzeitung" für die Teilnahme an faschistischen Kundgebungen in Franco-Spanien beweisen,
daß die wachsende Macht der Generale im Zuge der Remilitarisierung Westdeutschlands die Gefahr einer erneuten faschistischen Entwicklung beinhaltet.
Damit werden die Befürchtungen bekräftigt, die das Wiedererstehen des deutschen Militarismus nicht nur im deutschen Volke, sondern auch unter den Nachbarvölkern Deutschlands, insbesondere in Frankreich, hervorruft. Die Erhaltung des Friedens, die Verständigung Deutschlands mit seinen Nachbarvölkern erfordern die Einigung Deutschlands auf friedlicher und demokratischer Grundlage, wozu der Appell der Volkskammer den Weg eröffnet.
Die Bundesregierung hat mit der Erklärung ihres Sprechers, die Einheit Deutschlands sei eine Fata Morgana — also, meine Herren, ein Trugbild, nicht wahr? —, bewiesen, daß sie ein Feind der deutschen Einheit ist.
Darum ist die weitere Erklärung des Sprechers der Bundesregierung, gesamtdeutsche Wahlen seien eine Angelegenheit der Besatzungsmächte, nur der Versuch, die Verantwortung für die einheitsfeindliche Haltung der Bundesregierung, für die Ablehnung gesamtdeutscher Wahlen auf die Besatzungsmächte abzuschieben. Gesamtdeutsche Wahlen sind dagegen eine Angelegenheit des deutschen Volkes und können nur durchgeführt werden, wenn sich die Deutschen in Ost und West über alle Fragen, die diese Wahlen betreffen, verständigen und hierbei alle Fragen, aber auch restlos alle Fragen klären.
Dr. Adenauer hat in seiner Rundfunkrede angedeutet, der Weg der Wiederaufrüstung Westdeutschlands sei der Weg, um mit der Sowjetunion zu Verhandlungen zu kommen. Offen wird in Westdeutschland davon gesprochen, man könne die
Sowjetunion mit militärischer Stärke zu Konzessionen zwingen. Das ist der Versuch einer Wiederholung der Politik Hitlers, der die Welt in den zweiten Weltkrieg gestürzt hat. Wie der Versuch Hitlers, die Sowjetunion durch Waffengewalt zu bezwingen, geendet hat, ist Ihnen allen bekannt. Die Wiederholung des Versuchs Hitlers unter amerikanischem Protektorat ist zum Scheitern verurteilt, wobei die Schlachten nicht östlich der Weichsel und des Njemen, sondern in Deutschland geschlagen werden.
Eine solche Politik kann nur mit der völligen Vernichtung unserer Heimat und unseres Volkes enden. Das deutsche Volk aber denkt nicht daran, bankrotten Politikern und Generalen auf diesem Wege zu folgen. Das beweist die einmütige Ablehnung der Remilitarisierung und der Aufstellung westdeutscher Söldnerarmeen in allen Schichten der Bevölkerung.
Die Fraktion der SPD hat dem Bundestag einen Antrag vorgelegt, der die Irreführung und die Verhinderung einer gesamtdeutschen Beratung bezweckt.
Dr. Schumacher und Ollenhauer wissen ganz genau, daß ein nur vom Bundestag beschlossenes Wahlgesetz, ohne Verständigung mit den Deutschen in der Deutschen Demokratischen Republik,
niemals die Grundlage für gesamtdeutsche Wahlen sein kann.
Sie wollen mit Ihrem Antrag 48 Millionen Menschen, ohne sie zu fragen, ausschalten.
— Setzen wir uns zusammen und klären wir die Fragen!
Das Reichstagswahlgesetz der Weimarer Republik war unter entscheidender Mitwirkung der SPD zustande gekommen. Warum, Herr Schumacher, wollen Sie keine Beratungen der Deutschen aus Ost und West über die Schaffung eines Wahlgesetzes auf dieser Grundlage? Doch nur, weil Sie gesamtdeutsche Beratungen und damit gesamtdeutsche Wahlen verhindern wollen,
weil Sie sich auch in dieser Frage wie in allen Grundfragen der deutschen Politik prinzipiell in keiner Weise von Dr. Adenauer unterscheiden.
Das wird auch durch den nächsten Punkt Ihres Antrages bestätigt, womit Sie durch einen Schritt bei den. Besatzungsmächten die Voraussetzung für die Durchführung gesamtdeutscher Wahlen schaffen wollen. Sie wollen also aus einer Angelegenheit der Deutschen, über die sich die Deutschen verständigen müssen, eine Angelegenheit der Besatzungsmächte machen.
Sie fordern scheinbar die Gleichberechtigung des
deutschen Volkes; aber in der Frage der Durch-
führung gesamtdeutscher Wahlen, die zweifellos das elementarste Recht unseres Volkes sind, legen Sie die Entscheidung in fremde Hände. Damit wollen Sie zweifellos gesamtdeutsche Wahlen verhindern, die Spaltung Deutschlands aufrechterhalten und die Verantwortung für diese Politik von sich selbst abschieben.
Herr Dr. Schumacher will also selber unserem Volk die Entscheidung in dieser lebenswichtigen Frage vorenthalten. Herr Dr. Schumacher, Sie haben einmal die Rolle des Herrn Bundeskanzlers gegenüber den Amerikanern mit einer Bezeichnung charakterisiert, die Ihnen den Ausschluß für 30 Sitzungstage einbrachte.
Und nun wollen Sie selber die Entscheidung in dieser Lebensfrage des Volkes in die Hände der westlichen Alliierten legen!
Sie stehen also auf demselben Standpunkt wie Herr Dr. Adenauer, der erklären ließ, die Durchführung gesamtdeutscher Wahlen sei eine Angelegenheit der Besatzungsmächte.
Wodurch unterscheiden Sie sich nun von dem durch Sie damals geprägten Begriff?
Der Antrag der SPD dient nur einem Zweck: die gesamtdeutsche Verständigung zu hintertreiben, die Abhaltung gesamtdeutscher Wahlen zur Nationalversammlung unmöglich zu machen und den Abschluß eines Friedensvertrages mit dem Abzug aller Besatzungstruppen zu verhindern.
Meine Damen und Herren! Mit dem Appell der Volkskammer ist in unserem ganzen Volke eine breite Bewegung für die Wiedervereinigung der beiden Teile unseres Vaterlandes, für die Unabhängigkeit unserer Nation und für die Erringung des Selbstbestimmungsrechtes des deutschen Volkes entfacht worden. Das Volk wird ein Parlament nicht als seine Vertretung betrachten können, das an seinem elementarsten Recht und an seinem ungestümen Verlangen nach Frieden und Einheit achtlos vorübergeht. Wie auch die Entscheidung ausfallen mag, die heute hier getroffen wird, die Bewegung im deutschen Volke für Einheit, Frieden, Unabhängigkeit und Demokratie wird zu einem immer mächtiger werdenden Strom anschwellen und alle Dämme durchbrechen,
alle Hemmnisse beseitigen, bis unser Volk in einem einheitlichen, unabhängigen, friedlichen und demokratischen Deutschland sich ein neues Leben erbauen kann.
Treten wir Deutsche zusammen, ohne daß wir Bedingungen. im voraus stellen.
Alle Fragen können, werden und müssen im Interesse des Friedens und der Wiederherstellung der Einheit unseres Vaterlandes geklärt werden.
Ich stelle im Namen der kommunistischen Fraktion folgenden Antrag:
Der Bundestag wolle beschließen:
Der Bundestag stimmt dem Vorschlag der
Volkskammer der Deutschen Demokratischen
Republik zur Durchführung einer gesamtdeutschen Beratung zu, die folgende Aufgaben erfüllen soll:
1. Für ganz Deutschland freie, gleiche und geheime demokratische Wahlen für eine Nationalversammlung zur Schaffung eines einheitlichen, demokratischen und friedliebenden Deutschlands festzulegen.
2. Den beschleunigten Abschluß eines Friedensvertrags mit Deutschland und den darauf folgenden Abzug aller Besatzungstruppen aus Deutschland zu verlangen.
Der Bundestag bildet einen interfraktionellen Ausschuß, dem Vertreter aller Fraktionen. angehören. Dieser Ausschuß hat die Aufgabe, alle Anregungen, Vorschläge und Bedingungen, die nach Auffassung aller Fraktionen des Bundestages die Grundlage für die gesamtdeutsche Beratung bilden sollen, zusammenzutragen und zu prüfen. Der Herr Bundestagspräsident wird gebeten, das vom interfraktionellen Ausschuß zusammengetragene und ausgearbeitete Material dem Präsidenten der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik Herrn Dieckmann zuzuleiten und mit diesem den Termin für den Zusammentritt für die erste gemeinsame Beratung zu vereinbaren.
Ich bitte Sie, diesem Antrag zuzustimmen.