Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ein Berliner Abgeordneter zwar nicht zu dem Punkt, der hier soeben erörtert worden ist, wohl aber zur Aussprache über den Fall Kemritz und zum vorgelegten Entwurf eines Gesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit einige Bemerkungen macht. Ich möchte das Hohe Haus und die Bundesregierung von dieser Stelle aus wissen lassen, wie stark gerade in Berlin die Empörung innerhalb der Bevölkerung über den Fall Kemritz ist, an dem Ort, an dem die hier erörterten Verbrechen begangen worden sind. Niemand in Berlin vermag einzusehen, daß das verbrecherische Delikt des Menschenraubes in den Jahren 1945 und 1946 strafrechtlich anders eingestuft werden sollte als in den Jahren 1950 und 1951.
Niemand will noch recht daran glauben, daß die eigentlich verantwortlichen Stellen der Vereinigten Staaten von Nordamerika sich mit dem Zynismus gewisser Dienststellen aus den Jahren unmittelbar nach dem Kriege identifizieren wollen. Niemand will auch noch recht daran glauben, daß das Andenken nicht zuletzt auch an amerikanische Männer, die sich in der Zeit der Luftbrücke für eine gemeinsame Sache, für Berlin und für die Freiheit eingesetzt haben, geschändet werden soll durch einen Fall, wie wir ihn heute im Zusammenhang mit der Person des Dr. Kemritz erörtern.
Wir hoffen darum, daß das letzte Wort der verantwortlichen Männer der Vereinigten Staaten von Nordamerika noch nicht gesprochen ist. Wir hoffen es deshalb, weil wir nicht wünschen, nicht wünschen können, daß die in schweren Zeiten gerade in Berlin gewachsene Front der Solidarität zwischen den Deutschen und den demokratischen Besatzungsmächten Schaden leidet.
Ich möchte statt des Ausdrucks „Emporung" ein weniger starkes, aber inhaltlich vielleicht noch ernsteres Wort zur Kennzeichnung dessen gebrauchen, womit wir es in Berlin und — auf Grund der uns zugegangenen Berichte — in der Sowjetzone zu tun haben. Ich möchte von einer tiefen Enttäuschung sprechen, einer Enttäuschung, die geeignet ist, eine ernste Lücke in die Front der Freiheit zu reißen. Ich möchte mit allem Ernst auch wieder den eigentlich verantwortlichen Stellen der westlichen Welt sagen, daß noch soviel Kanonen und Tanks nicht ein verletztes Rechtsbewußtsein auszugleichen vermögen.
Der Glaube an die Demokratie hat schon durch eine unglückliche Nachkriegsentwicklung Schaden gelitten.
Es wäre verhängnisvoll, wenn jetzt auch noch das Vertrauen zur Rechtsstaatlichkeit ernsthaft erschüttert werden sollte. Der Herr Bundesjustizminister hat dem Hohen Hause im Verlauf seiner Darlegungen eine unserer Meinung nach alarmierende Mitteilung gemacht, die Mitteilung nämlich, daß zu einem Zeitpunkt, in dem die gewählte deutsche Volksvertretung den Fall Kemritz erörtert, ausländische Dienststellen offenbar — denn nur so konnte die Mitteilung verstanden werden — Kemritz dabei behilflich sind, das deutsche Territorium zu verlassen. Wie schon durch Zurufe während der Rede des Bundesjustizministers zum Ausdruck gekommen ist, hätten wir gewünscht, daß der Bundesjustizminister zu dieser ihm heute mittag gemachten Mitteilung vor dem Hause noch schärfer Stellung genommen und es als eine Selbstverständlichkeit betrachtet hätte, daß die deutsche Bundesregierung der ausländischen Macht, die Kemritz aus Deutschland herauszuführen im Begriffe steht, zum Ausdruck bringt, daß er seinen deutschen Richtern wieder zuzuführen ist.
Daraus ergibt sich aber eine andere Frage. Unabhängig davon, wohin Kemritz geht, bleibt der Rechtsanspruch der Witwen der armen Opfer bestehen. Diejenigen, die im Begriffe stehen, Kemritz bei etwas behilflich zu sein, was nach deutscher Rechtsauffassung nur als Flucht — und zwar in dem Sinne, daß ein Angeklagter seinem rechtmäßigen Richter entzogen werden soll — bezeichnet werden kann, müssen sich darüber im klaren sein: wenn der Schuldige heute nicht unmittelbar belangt werden kann, so muß der Rechtsanspruch denjenigen gegenüber angemeldet werden, die in diesem Falle einem Manne helfen, der sich seinen Richtern entziehen will.
Meine Damen und Herren, ich darf auch zwei Sätze zu dem hier von Herrn Kollegen Dr. Weber unterbreiteten Gesetzentwurf zum Schutz der persönlichen Freiheit sagen. Wie Herr Kollege Dr. Weber ausführte, handelt es sich hierbei um die Übernahme gesetzlicher Bestimmungen, die kürzlich vom Abgeordnetenhaus in Berlin einstimmig angenommen worden sind. Wenn Sie im Verlaufe dieser außerordentlich ernsten Debatte eine etwas leichtere Bemerkung erlauben wollen,
so möchte ich agen: ich halte es gar nicht für abwegig, daß bei der häufigen Übernahme von Bundesgesetzen nach Berlin nun in dieser Materie, für die die Berliner in gewissem Sinne sachverständig sind, auch einmal ein Berliner Gesetz vom Bund übernommen wird, wie es hier von den Kollegen der drei Regierungsparteien vorgeschlagen wird. Die sozialdemokratische Fraktion hatte von sich aus erwogen, dem Hohen Hause einen
ähnlichen Vorschlag zu machen. Ich darf hier sagen, daß, falls die Antragsteller von sich aus nichts dagegen hätten, dieses in Berlin wirklich lange und reiflich überlegte Gesetz heute schon in allen drei Lesungen zu verabschieden, die sozialdemokratische Fraktion einer solchen Regelung ohne Bedenken zustimmen würde.
Zum Schluß darf ich noch eine Bemerkung machen. Ich bewundere den Mut, mit dem sich der Sprecher der kommunistischen Fraktion hier zu dem Thema des Agententums geäußert hat. Ich wundere mich auch über die Kühnheit, mit der Herr Renner von Westberlin, also vom Land Berlin - den Teilen Berlins, die nicht durch äußere Macht der Gestaltung der politischen Dinge nach dem Willen der deutschen Bevölkerung entzogen sind — spricht als einer Operationsbasis von Spionen, Agenten und Saboteuren. Er hat nur die Kartoffelkäfer vergessen, die Eisler im vergangenen Jahr beinahe den Kopf gekostet hätten.
Herr Renner, Sie sollten sich, statt diese obligatorischen Geschichten zu kolportieren, einmal sachlich berichten lassen, wie Tag für Tag der Terror und das verruchte System des Menschenraubs,
das Ihre Auftraggeber und Ihre Parteiführer in der sogenannten SED organisieren, von der Sowjetzone auf das Gebiet von Berlin übergreift, wie rechtschaffene Menschen im Osten, manchmal auch im Westen Berlins von der Straße weg in Wagen geschleppt werden und verschwinden. Darum ist dieses Gesetz in Berlin doch geschaffen worden, das nun heute auch als ein Gesetz für die Bundesrepublik vorgeschlagen wird.
— Herr Renner, ich darf Ihnen eines sagen. Mir fiel, als Sie sprachen — und ich darf das mit gütiger Erlaubnis des Herrn Präsidenten anführen —, ein, daß ich heute morgen eine Berliner Zeitung zur Hand hatte, die von zwei Urteilen Kenntnis gab. Das eine Urteil, das dieser Tage von der Großen Sonderstrafkammer in Potsdam gefällt worden ist, betraf drei junge deutsche Männer, die Angeklagten Michaelis, Lewner und Blanke, die zu Zuchthausstrafen von zwei bis zehn Jahren verurteilt wurden. Warum? Weil sie an die Gemeindetafel in Haage im Westhavelland das Wort „Freiheit" gemalt und Flugblätter verteilt hatten.
In der Urteilsbegründung heißt es — hören Sie zu, Herr Renner! —, „gerade zum 1. Mai, dem höchsten Feiertag", habe Michaelis den Angeklagten Lewner veranlaßt, das Wort „Freiheit" zu malen. „Er wollte damit bei der Bevölkerung der" — ich darf wohl hinzufügen: sogenannten — „DDR den Eindruck der Unfreiheit erwecken. Dies ist ein Gerücht, das im höchsten Maße den Frieden des deutschen Volkes gefährdet."
Das zweite Urteil ist dieser Tage vom Landgericht Potsdam gegen den Verwaltungsangestellten beim Bauamt Ludwigsfeld, Hans Zickerow, gefällt worden, weil er ein Plakat „Raus mit den Amerikanern" verändert hatte in „Raus mit den Russen". Dieser Mann ist zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden.
Herr Renner, ich habe vorhin im Zusammenhang mit dem Fall Kemritz von Begriffen wie Empörung und Enttäuschung gesprochen; aber für das, was Sie gesagt haben, bleibt nur noch die Kategorie „Verachtung" übrig.