Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einer meiner Herren Vorredner hat hier von der „verantwortungsbewußten Regierung" gesprochen. Wir diskutieren heute das erstemal über die Verbilligungsscheine, eine Maßnahme, die von der Regierung als sozialpolitisch wichtig bezeichnet worden ist. Es ist aber dem Hohen Hause hoffentlich nicht entgangen, daß die gesamte Regierung den Saal in dem Augenblick verlassen hat
— Verzeihung, ich komme darauf! —, in dem diese so wichtige soziale Frage erörtert werden sollte.
Ich freue mich natürlich, daß ich meinen alten geschätzten Kollegen Niklas im Plenum finde, aber die Regierung sitzt oben, lieber Herr Niklas!
Für den Minister für Ernährung und Landwirtschaft genügt es aber nicht, unter seinen Kollegen im Plenum zu sitzen! Er tut es wahrscheinlich deshalb, weil er sich im Augenblick wieder einmal in einem großen Zwiespalt befindet. Er hat nämlich eine undankbare Aufgabe,
weil er der sowohl für die Landwirtschaft als auch für die Ernährung zuständige Minister ist, der nun von den beiden Wünschen zerrissen wird und trotzdem schmunzelnd und auch sonst recht zufrieden hier im Plenum unter uns sitzt. Von der Regierung selbst ist nichts übrig geblieben als ein dickes Aktenbündel, das der Herr Finanzminister zurückgelassen hat. Das gibt mir Veranlassung, meine Damen und Herren, den vielen Argumenten, die wir hier gerade gehört haben, einige konkrete Zahlen gegenüberzustellen.
Die Kollegin Niggemeyer möchte ich darauf aufmerksam machen, daß unser Antrag gar nicht unklar ist, denn als der Antrag gestellt wurde, wußte die Regierung selbst noch nicht, wie sie das Kind richtig nennen solle. Inzwischen haben wir erfahren, was die Regierung plant, und haben unseren ergänzten Antrag demzufolge richtig formuliert. In den hinterbliebenen Akten wird der Herr Bundesfinanzminister das Ergebnis der Beschlüsse der letzten 8 oder 10 Tage verzeichnet haben: die Verteuerung von Konsumbrot, Zucker, Margarine, Butter und Milch. Falls ihm die entsprechenden Berechnungen nicht vorliegen, kann der Deutsche Gewerkschaftsbund sie ihm geben. Ja, er hat es sogar noch bequemer: er kann sich nämlich vom Herrn Bundeskanzler den Brief geben lassen, den der Deutsche Gewerkschaftsbund ihm am 5. Juni geschrieben hat. Aus dieser Verteuerung erwächst für die gesamte Bevölkerung eine Mehrbelastung des Verbrauchs in der Größenordnung von einer Milliarde Mark. Aus den Akten und aus dem, was wir vorhin in der dritten Lesung hier verabschiedet haben, ergibt sich, daß durch das neue Zollgesetz eine zusätzliche Belastung von 300 oder 400 Millionen für die Verbraucher entstehen wird.
Wir haben dann das Gesetz über die Erhöhung der Umsatzsteuer endgültig verabschiedet. Die Erhöhung auf 4 % ergibt nach zuverlässigen Schätzungen abermals eine Belastung in der Größenordnung von 1 bis 11/2 Milliarden. Das ist in einer Woche eine zusätzliche Belastung für die Bevölkerung voraussichtlich in der Größenordnung von 21/2 Millarden DM, und demgegenüber hat die Regierung — soweit es sich um das Thema handelt, von dem wir hier sprechen — nichts anderes vorzuschlagen, als pro Tag den Ärmsten 10 Pfennige zu geben. Diese 10 Pfennige pro Tag oder 3 DM im Monat waren überhaupt nur vorgesehen, um die Verteuerung des Konsumbrots abzufangen. Alle anderen' Verteuerungen, die jetzt nach dem Regierungsprogramm verwirklicht werden, werden mit dem Verbilligungsschein in keiner Weise getroffen.
Ich will mir versagen, auf den Lebenshaltungsindex und viele andere Dinge einzugehen, weil wir alle, glaube ich, wissen, wie wenig ein Lebenshaltungsindex beweiskräftig ist. Er wird berechnet nach den Preisen vieler Dinge, die sich gerade die arbeitende Bevölkerung gar nicht leisten kann. Ich möchte statt dessen einige Ziffern aus dem Material, das der Herr Bundeskanzler durch den Deutschen Gewerkschaftsbund bekommen hat, nennen, damit Sie sehen, in welchem rapiden Verschlechterungsprozeß wir uns befinden. Seit dem 15. Juni 1950 ist das Roggenbrot um 42 % — gegenüber dem Stand vom Anfang Mai dieses Jahres — teurer geworden, das Mischbrot um fast 40 %. Weizenmehl ist zwischen 40 und 46% teurer geworden. Viele andere lebenswichtige Produkte wie Haferflocken, Grieß und all die Dinge, die man als Grundnahrungsmittel gerade auch in Arbeiterfamilien findet, haben Preiserhöhungen sogar zwischen 50 und 60 %erfahren.
Warum ist man hier so verfahren? Wir wissen selbstverständlich — und kein vernünftiger Mensch wird das bestreiten können —, daß durch die Weltmarktentwicklung eine Preiserhöhung für die deutsche Wirtschaft eingetreten ist, die sich nicht hat vermeiden lassen. Hätte aber die Regierung die Subventionspolitik in einem richtigen und vernünftigen Ausmaß weitergeführt, dann wäre sie wahrscheinlich heute in der glücklichen Lage, Milliardenbeträge nicht ausgeben zu müssen, die sie jetzt infolge der durchaus unzulänglichen Erhöhung der Renten ausgeben muß, ohne daß die Verteuerung der Lebenshaltung dadurch ausgeglichen wird.
Wir haben außerdem doch die Situation zu verzeichnen, die wir einmal klar erkennen sollten, daß die Preispolitik in der Bundesrepublik, wenn man überhaupt von einer solchen sprechen will, ausschließlich darin besteht, daß die Preise frei und ohne Lenkung oder Hemmung nach oben fortlaufen können. Die Regierung hat in keiner Weise versucht, etwa durch eine energische Einflußnahme auf die Handelsspannen dafür zu sorgen, daß erhebliche Teile der Preisverteuerung von der Weltmarktseite her abgefangen werden. Wir haben nichts über irgendwelche Regierungsmaßnahmen gehört, durch Rationalisierung oder sonstige Maßnahmen den Preisaufstieg zu bremsen oder zu hindern. Nach wie vor wird in dieser Bundesrepublik vom Handel und von der Industrie nach der Möglichkeit der größten Gewinnspanne kalkuliert. Vor allem fehlt es — und das ist einer der entscheidendsten Vorwürfe, die man der Regierung angesichts ihrer Politik machen muß — an jeglicher, auch nur der leisesten Preiskontrolle.
Diese Entwicklung, die wir festzustellen haben, hat schon im Wirtschaftsrat nach der Währungsreform begonnen. Sie ist in diesem Hause und durch diese Regierung in keiner Weise geändert worden. Die Entwicklung ist ja immer dahin ge-
gangen, daß man alle Vergünstigungen, die sich aus der vermeintlich freien oder sogar womöglich sozialen Marktwirtschaft ergeben haben, auf die eine Seite wies, und alle Lasten, die sich als Folge dieser falschen Politik ergeben haben, dann der Arbeiterschaft und den Ärmsten des Volkes auferlegt hat. Es ist also meines Erachtens ein typischer Beweisfall, daß die Regierung hier nicht vertreten ist. Die Tatsache, daß sich der Herr Staatssekretär für Finanzen jetzt nach vorne gesetzt hat, ist ja kein sehr starkes Entlastungsmoment für die Abwesenheit der Regierung.
Das völlige Versagen oder Nichtvorhandensein einer Preispolitik, wie wir es erleben, ist die Konsequenz einer Entwicklung, die anscheinend wenigstens auf der Rechten des Hauses noch niemals richtig beachtet worden zu sein scheint. Ich meine nämlich die Tatsache, daß wir in der Bundesrepublik einen Bundeswirtschaftsminister haben, der keine Wirtschaftspolitik treibt, weil ihm die Befugnisse zum Teil genommen sind.
Wir haben gesehen, daß die Wirtschaftspolitik vom Bundesfinanzminister betrieben wird, der wiederum — mit dem ihm gar nicht einmal übelzunehmenden Kassenbewußtsein — selbstverständlich die wirtschaftspolitischen Zusammenhänge nicht in dem Maße übersehen kann, wie sie der Bundeswirtschaftsminister eigentlich übersehen müßte.
Nachdem die Befugnisse des Bundeswirtschaftsministers — der somit keine Wirtschaftspolitik und auch keine Preispolitik machen kann — auf das Finanzressort übergegangen sind und beide Ressorts offenbar dennoch nicht die richtige, den Herrn Bundeskanzler zufriedenstellende Arbeit leisteten, hat dieser sich ein Wirtschaftsnebenministerium geschaffen, das nur ihm verantwortlich ist und über dessen Arbeit oder Entschlüsse vielleicht gelegentlich einmal der eine oder andere Ressortminister Ihrer Regierung erfährt.
So läßt sich die Politik nicht machen. Ähnlich ist es gegangen mit der so munteren Brotkarte, bei der Ihnen der Herr Bundeskanzler auch nicht gesagt hat, daß eigentlich Sie die Anfangenden sind;
und ebenso erfahren Sie nachher auch nicht vom Herrn Bundeskanzler, was ihm der Deutsche Gewerkschaftsbund schreibt. Also der Gewerkschaftsbund schreibt ihm, und zwar einmal ihm als Kanzler, der die Richtlinien der Politik zu bestimmen hat — obwohl man sie nicht immer sieht —, und zweitens aber vielleicht auch, weil der ADGB auch gemerkt hat, daß es wenig Zweck hat, an Ressorts zu schreiben, weil man nie weiß, ob der Brief gerade an das Ressort kommt, wo die betreffende Frage bearbeitet wird. Auf diese Art und Weise also ist Politik nicht zu machen.
So sind wir in die Situation gekommen, daß wir immer wieder die peinlichen und betrüblichen Dinge erfahren müssen, die wir uns längst hätten ersparen können, wenn wir eine Wirtschaftspolitik hätten, selbst wenn es auch Ihre ist. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise der Wirtschaftsausschuß der Vereinten Nationen in Genf zu nennen. Er schreibt in einem seiner regelmäßigen Berichte über die Situation aller Länder, also auch über die der Bundesrepublik, in dem letzten Gutachten, daß der Wirtschaftskurs, der in der Bundesrepublik gehalten worden ist, zu den größten Bedenken Anlaß
gibt. Sie entsinnen sich vielleicht, daß die Bundesrepublik in dem Bericht der ECA in bezug auf die Lebenshaltung an vorletzter, schlechtester Stelle stand vor Österreich, daß diese Kommission dann feststellte, die Bundesrepublik sei durch eine fehlerhafte Politik oder durch das Nichtvorhandensein einer Politik, vor allem weil keine Kontrolle der Preisbewegung stattgefunden habe und die Investitionen nicht richtig kontrolliert worden seien, in eine äußerst gefährliche gesamtwirtschaftliche Position geraten. — Es gibt dann sehr leicht viele brave Deutsche, die sagen: Was mischen sich diese komischen Ausländer immer in unsere eigenen Angelegenheiten? Und es hat auch einmal, hin und wieder, Kritiken oder Arbeiten solcher Kommissionen gegeben, denen man nicht gerade nachsagen* konnte, daß sie sehr fundiert und sachlich waren. Aber allein die Tatsache, daß die nicht vorhandene Politik oder das, was hier in der Bundesrepublik als Wirtschaftspolitik bezeichnet wird, nachher zum Anlaß einer Kritik in den höchsten Gremien der Organisationen genommen wird, denen wir ja angehören oder denen wir demnächst angehören wollen, führt zu einem sehr schlechten Urteil über die Art, in der die Wirtschaftspolitik in der Bundesregierung geführt wird.
Meine Damen und Herren! Zur völligen Charakterisierung dieser Politik möchte ich auf eines hinweisen. Ich bin da in der sehr glücklichen Lage, das, was ich zum Schluß noch sagen möchte, aus einer derjenigen Zeitungen zu entnehmen, die Sie auf der Rechten alle sehr gut kennen, nämlich aus dem „Industriekurier". Dieser hat vor wenigen Tagen, Ende Mai, einmal eine kleine Kritik oder einen kleinen Kommentar gebracht und darin über die chronische Krise gesprochen, die im Wirtschaftsministerium herrscht. Diese chronische Krise — ich will mich jetzt nicht nach der personellen Seite auf die Dinge einlassen — führt der „Industriekurier" darauf zurück, daß einer der Chefs eines Ministeriums — und gemeint ist der Chef des Wirtschaftsministeriums —, der eben innerhalb seines Ressorts gar kein Chef mehr ist, weil er weggelaufen ist,
als frei, allzu frei schaffender Künstler bezeichnet wurde
und daß wegen dieses allzu frei schaffenden Künstlers diese Dinge — entscheidende, wichtige wirtschaftspolitische Maßnahmen — nicht im Ressort für Wirtschaftspolitik behandelt werden, sondern zum Teil entweder ausgehandelt werden mit dem Ernährungsministerium im Zusammenhang mit der Frage der Stützung der Preise im Sektor der Landwirtschaft oder aber — und das ist immer das entscheidende und letzte Wort — mit dem Herrn Bundesfinanzminister, der mit dem Inhalt der Kasse, die er hat, oder mit den Zahlen, mit denen er operiert, das Veto gibt, wie weit diese Dinge gemacht werden.
Wenn das, was ich gesagt habe, Sie wenigstens so weit nachdenklich macht, daß Sie sich vielleicht doch einmal überlegen, ob man auf die Dauer fortfahren kann, Wirtschaftspolitik so zu treiben, dann ist schon eine ganze Menge erreicht. Aber gegenüber den ungeheuren Belastungen, die die Verbraucherschaft bekommen hat, wirkt es beinahe schon wie
ein schlechter Witz, wenn man dann den Allerärmsten 10 Pfennig am Tag geben will, damit sie über die Härten dieser Preiserhöhung hinwegkommen. Da kann ich nur sagen: Das betrachte ich — und nicht nur ich allein! — als das völlige Fiasko einer Wirtschaftspolitik.