Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beratung dieses Haushaltsplanes macht eine kritische Auseinandersetzung mit der Tätigkeit des Bundesministeriums für Arbeit auf dem Gebiete der Kriegsopferversorgung notwendig, um so mehr, als durch eine dauernde Fehlbewertung des Problems insbesondere in seiner politischen Bedeutung eine sehr unerfreuliche Situation entstanden ist, aus der sich zwangsläufig Gefahren für den Staat entwickeln werden, wenn es nicht rechtzeitig gelingt, Wandel zu schaffen.
Eineinhalb Jahre sind nun seit dem ersten Zusammentreten des Deutschen Bundestages verstrichen, und noch immer warten mehr als vier Millionen deutsche Kriegsbeschädigte und Hinterbliebene auf die Zahlung einer Rente, die ihren Opfern angemessen ist und ihnen ein auskömmliches Leben sichert. Was das angesichts der Tatsache bedeutet, daß die Kaufkraft der Renten infolge der Preiswelle der letzten Monate erneut empfindlich eingeschränkt worden ist, brauche ich wohl kaum besonders zu erläutern.
Ich kann in diesem Zusammenhang nicht über Maßnahmen sprechen, die getroffen werden müß-
ten, um dieser Entwicklung erfolgreich entgegenzutreten, da das über den Rahmen dieser Aussprache hinausgehen würde. Wohl aber muß man die Frage aufwerfen, wie es so weit kommen konnte, nachdem doch offensichtlich vom ersten Tage an feststand, daß dieses Hohe Haus einmütig entschlossen war, das Problem der Kriegsopferversorgung bestmöglich zu lösen. Gewiß war das Zustandekommen des Bundesversorgungsgesetzes von heftigen Geburtswehen begleitet; aber es ist doch von der Masse der deutschen Kriegsopfer als ein Gesetz des guten Willens durchaus anerkannt und gewürdigt worden. Die Tatsache, daß die Wirksamkeit des Gesetzes durch die von allen Seiten des Hauses beklagte Verzögerung im Bundesarbeitsministerium erst ab 1. Oktober 1950 verankert werden konnte und nicht, wie ursprünglich von der Bundesregierung zugesagt, ab 1. April 1950, hatte den Bundestag zu dem einstimmigen Beschluß veranlaßt, die Umanerkennung der Renten in der Weise vorzunehmen, daß diejenigen Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen, die ihren Lebensunterhalt ganz oder überwiegend aus der Rente bestreiten müssen, zuerst in den Genuß einer höheren Rente kommen.
Das liegt nun ein halbes Jahr zurück. In diesem Zeitraum hat die Entwicklung derart bedenkliche Formen angenommen, daß sich der VdK als größte deutsche Kriegsopferorganisation zu der Feststellung veranlaßt sah: Der Zug fährt in den Abgrund.
Ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten Ausschnitte aus einem Artikel zitieren, der im Bundesgebiet millionenfache Verbreitung gefunden hat. Es heißt dort u. a.:
Die Stimmung der deutschen Kriegsopfer, die mit soviel Hoffnung und Erwartungsfreude das Bundesversorgungsgesetz empfangen haben, ist inzwischen auf den Nullpunkt abgesunken. Leider besteht mehr als ausreichender Grund für eine so pessimistische Betrachtung der Lage; denn ungeschickter und instinktloser kann man sich kaum verhalten, als es bei den Versorgungsbehörden heute vielfach geschieht. Im Bundesministerium für Arbeit hat die beklagenswerte Entwicklung begonnen. Der Beirat für Versorgungsrecht, dem bekanntlich die besten Fachkenner, unter ihnen Vertreter der Kriegsopferorganisationen, angehören, hatte sich große Mühe gemacht, die Verwaltungsvorschriften zum Bundesversorgungsgesetz so zu gestalten, daß sie dem klaren Willen des Gesetzgebers entsprachen. Aber was nützen schließlich die besten Beschlüsse, wenn sie nachher von der Ministerialverwaltung einfach beiseite geschoben werden und nicht zur Durchführung kommen? Das Bundesministerium für Arbeit hat durch dieses mehr als peinlich berührende Verhalten die so hoffnungsvoll ins Leben getretene Institution des Beirats für das Versorgungsrecht in wenigen Monaten fast zur Bedeutungslosigkeit erniedrigt
und wird für das daraus erwachsende Unheil die Folgen tragen müssen. Die aus diesem Verhalten sprechende Angst vor der Beteiligung der Kriegsopferorganisationen an der großen Aufgabe der Umanerkennung kann nur in einer bestürzenden Unsicherheit ihren Grund haben.
Meine Damen und Herren, daß bei einer solchen Behandlung der Dinge schwerwiegende Folgen unausbleiblich sein müssen, hat die beginnende Umanerkennung sofort schlagend bewiesen. In verschiedenen Ländern wurden unter dem Druck der Finanzminister fiskalische Grundsätze zum Maßstab der Umanerkennung erhoben, und demzufolge sind mit einem Eifer und einem Elan, der wahrhaft einer besseren Sache würdig gewesen wäre, als erste Maßnahme solche Umanerkennungsbescheide erteilt worden, in denen man durch Rentenherabsetzungen o der -entziehungen Einsparungen vornehmen konnte.
Man würde in der an seltsamen Eskapaden wahrhaftig nicht armen Geschichte der deutschen Verwaltungsbürokratie lange suchen müssen, um einen ähnlichen Fall zu finden, in dem ein an sich gutes Gesetz, das wirklich Segen stiften könnte, allein durch derart unsinnige Maßnahmen ausführender Behörden geradezu ins Gegenteil verkehrt wurde. So wurden beispielsweise in einem Lande 10 200 Bescheide an Kriegsbeschädigte nach dem Bundesversorgungsgesetz fertiggestellt, wobei allein in 7600 Fällen Rentenentziehungen ausgesprochen wurden.
Von 1700 Bescheiden an Kriegshinterbliebene haben 900 Bescheide eine Rentenminderung zur Folge gehabt. Hiermit nicht genug; es hat den Anschein, als ob man die Dinge auf die Spitze treiben möchte. Denn von in Vorbereitung befindlichen 24 000 Umanerkennungsbescheiden sollen in nicht weniger als 22 000 Fällen Rentenentziehungen erfolgen, denen nur 2000 Rentenerhöhungen gegenüberstehen.
Meine Damen und Herren, Sie erkennen hieraus, daß es sich bei diesen katastrophalen Auswirkungen einer unverständlichen Verwaltungspraxis nicht um Probleme handelt, die versorgungsrechtlich zu lösen sind, sondern daß hier ein Politikum erster Ordnung vorliegt, das auch nicht vom Versorgungsfachbeamten zu vertreten ist, sondern von dem verantwortlichen Bundesminister und von den zuständigen parlamentarischen Instanzen der deutschen Demokratie. Denn schließlich steht bei dieser Praxis nicht mehr zur Erörterung, ob das Bundesversorgungsgesetz eine weitere Verbesserung hätte bringen können oder nicht, sondern es stehen auf dem Spiele das Vertrauen der Kriegsopfer und ihres großen Anhanges zur Demokratie und damit der politische moralische Kredit, den die Kriegsopfer ihren Institutionen zu geben bereit waren. Ich darf deshalb die Hoffnung aussprechen, daß Sie, meine Damen und Herren, auf allen Seiten des Hauses uns in den Maßnahmen zu unterstützen bereit sind, die zur beschleunigten Abstoppung dieser Fehlentwicklung dienlich sind.
Ich muß hier angesichts der deutschen Öffentlichkeit feststellen, daß sich in die Verantwortung für diese Entwicklung der verantwortliche Bundesminister und die Länder brüderlich teilen müssen. Naturgemäß kann es nicht meine Aufgabe sein, mich in diesem Augenblick mit dem Sektor der Verantwortlichkeit auseinanderzusetzen, der ohne Zweifel auf die Länder entfällt. Aber wenige Worte an die Adresse der Länder seien mir doch gestattet. Wir sind zutiefst besorgt darüber, daß durch die von ihnen zu verantwortende Verwaltungspraxis
der Bundestag in einer Weise brüskiert worden ist, die dem Ansehen der deutschen Demokratie schwersten Schaden zufügen muß,
und daß dieses Verhalten weiß Gott nicht für die Aufgabenteilung spricht, wie sie das Grundgesetz für dieses Gebiet festlegt.
Schließlich und endlich trägt der Deutsche Bundestag die politische Verantwortung auf dem Gebiet der Kriegsopferversorgung. Deshalb müßte es eine selbstverständliche Pflicht aller mit der Durchführung seines gesetzgeberischen Willens betrauten Instanzen der deutschen Bundesrepublik sein, so zu verfahren, daß die für diesen Bereich beschlossenen Gesetze mit den Absichten des Gesetzgebers in Einklang gebracht werden.
Das gilt selbstverständlich in allererster Linie für das ressortmäßig verantwortliche Bundesministerium und für die gesamte Bundesregierung. Ich muß hier leider feststellen, daß es der Herr Bundesminister für Arbeit nicht verstanden hat, das Problem der Kriegsopferversorgung entsprechend seiner großen politischen Bedeutung richtig in den Aufgabenbereich seines Ministeriums einzuordnen. Wir Sozialdemokraten stehen, weiß Gott, nicht im Verdacht, übertriebene Föderalisten zu sein. Aber im Interesse einer objektiven Beurteilung der Tatbestände muß festgestellt werden, daß die Länder, denen die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes obliegt, auf Grund mangelnder Voraussicht, Übersicht und Planung im Bundesministerium für Arbeit in die augenblickliche Situation zum Teil geradezu hineinmanövriert worden sind.
Ich habe schon einmal darauf hingewiesen, daß infolge der schleppenden Behandlung durch das Bundesministerium für Arbeit das Bundesversorgungsgesetz erst mit Wirkung vom 1. Oktober 1950 in Kraft gesetzt werden konnte. Die dadurch entstandene halbjährige Verzögerung hätte erfordert, daß man mit der praktischen Anwendung des Gesetzes möglichst unverzüglich begann. Indessen erhielten die ausführenden Behörden erst um die Wende Februar/März 1951 die erforderlichen Verwaltungsvorschriften. Zur gleichen Zeit lief ein Wust von Formularen bei den unteren Verwaltungsstellen ein, die zum Teil, weil nach früheren Erfahrungen verfaßt, so unzeitgemäß sind, daß sie eher zur Erschwerung als zur Erleichterung der Durchführung des Gesetzes beitragen. Das für die Beschädigten bestimmte Formularmaterial wie Fragebogen, Merkblätter und dergl. ist so unglücklich abgefaßt, daß das Gros der Empfänger daraus nicht klug werden kann und infolgedessen Fehler macht, die zur Benachteiligung bei der Rentenberechnung führen müssen.
Mit der Umanerkennung der Renten konnte erst Ende Februar begonnen werden. Aber nicht genug damit, man streitet sich im Bundeskabinett heute noch um die Zuständigkeit bei der Durchführung der sozialen Fürsorge im Bereich der Arbeits- und Berufsfürsorge, die allen Mitgliedern des Kriegsopferausschusses besonders am Herzen gelegen hat, und man war bisher nicht in der Lage, auf diesem Gebiet auch nur eine einzige Richtlinie herauszubringen. Eine solche Mißachtung des Willens des Gesetzgebers durch die Regierung dürfte fürwahr einmalig sein. Ich frage Sie, meine Damen und Herren, wie lange Sie noch gewillt sind, eine solche Entwicklung zu dulden, auf Grund deren die mehr
als vier Millionen Kriegsopfer in Deutschland jedes Vertrauen in die Institution der parlamentarischen Demokratie verlieren werden.
Auf den übrigen Gebieten der Kriegsopferversorgung sieht es leider nicht viel besser aus. So gibt es bis zum heutigen Tag noch keinen vorlagereifen Entwurf über die Neuregelung der Beschäftigung Schwerbeschädigter, obwohl mit den Vorarbeiten bereits in der Zeit des Frankfurter Wirtschaftsrats begonnen worden ist.
Diese Zustände im Bundesministerium für Arbeit machen es der sozialdemokratischen Fraktion für die Zukunft nahezu unmöglich, in der seither geübten Praxis fortzufahren und die eigenen Wünsche und Vorstellungen zur Erzielung einer breiten Mehrheit des Hauses zurückzustellen. Wir haben in der zurückliegenden Zeit wahrhaft bewiesen, daß wir uns bei der Schaffung großer sozialer Gesetzeswerke ausschließlich von der Verantwortung gegenüber dem deutschen Volk leiten lassen und bereit und willens sind, parteipolitische Gesichtspunkte hintanzustellen.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, meine Ausführungen deshalb nicht als parteipolitisch bedingte Opposition zu verstehen, sondern zu erkennen, daß es bei der augenblicklich sehr ernsten Situation nicht um die Frage Regierung oder Opposition, sondern um die Verteidigung des Ansehens und damit letztlich um den Bestand der parlamentarischen Demokratie in Deutschland geht.