Rede von
Louise
Schroeder
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Frau Kalinke, ich bedauere nicht nur, daß Sie keine Zeit hatten, der letzten Berlin-Ausschuß-Sitzung in Berlin beizuwohnen. Denn ich glaube, Sie hätten dann genau so wie alle anderen Mitglieder des Berlin-Ausschusses, der sich ja aus den Angehörigen aller Fraktionen oder des größten Teils der Fraktionen dieses Hauses zusammensetzt, einen Eindruck gehabt, was in Berlin an Not zu überwinden war und was tatsächlich in diesen Jahren geschehen ist, um wenigstens das Höchstmaß dieser Not zu überwinden. Aber ich darf hinzufügen, ich bedauere noch mehr, daß Sie nicht Gelegenheit genommen haben, in den ersten Jahren nach Kriegsende sich einmal dieses Berlin mit seiner Not anzusehen, die in nichts mit einer anderen Not in Deutschland zu vergleichen ist. Denn anderswo war die Demontage nicht bereits innerhalb der ersten 8 Wochen vollendet; im übrigen Deutschland waren nicht alle Sparkassen- und alle Bankkonten gesperrt; und im übrigen Deutschland hatten nicht die Frauen die ungeheure Aufgabe, die Stadt wieder einigermaßen aufzuräumen. Wenn Sie das erlebt hätten, dann, glaube ich, würden Sie nicht immer wieder mit Ihrem Steckenpferd, der VAB, kommen, sondern dann würden Sie einsehen, daß, wenn auch Fehler gemacht werden mögen — die werden überall gemacht, wo gearbeitet wird —, die VAB die Bevölkerung Berlins in Berlin vor dem schlimmsten Elend gerettet hat, in das sie zu geraten drohte, nicht nur die Arbeiter, sondern genau so die Angestellten, aber darüber hinaus alle anderen Schichten der Bevölkerung. Es war trotz alledem eine Tat, in diesem Augenblick der höchsten Notlage in Berlin diese Organisation zu schaffen.
Wenn Sie nun sagen: Wir wollen das gemeinsame Schicksal tragen, so bin ich Ihnen sehr dankbar dafür. Aber, Frau Kalinke, dieses Schicksal ist auch heute noch in Berlin ein anderes. Sehen Sie sich einmal die Statistiken an, vergessen Sie nicht die Tatsache, daß wir in Berlin trotz aller Aufgaben, die wir in diesen Jahren erfüllt haben — mit Hilfe des Bundes, ich will es gern anerkennen, und noch mehr mit Hilfe des Auslandes —, immer noch fast 300 000 Arbeitslose haben und daß davon der größte Teil weibliche Arbeitslose sind! Betrachten Sie einmal den ganzen Bevölkerungsaufbau der Stadt Berlin: Die Zahl der über 65 Jahre Alten hat sich seit der normalen Zeit mehr als verdoppelt, und wir haben einen Frauenüberschuß, der in keinem anderen Teil Deutschlands in dieser gewaltigen Zahl zu verzeichnen ist. Glauben Sie, daß wir es da verantworten können, nun in sozialpolitischer Hinsicht noch Verschlechterungen vorzunehmen? Helfen Sie uns, daß auch hier im Bunde eine wirkliche Neuordnung der Sozialversicherung erfolgt, eine Neuordnung, die aber auch gleichzeitig den vollkommen veränderten bevölkerungspolitischen Verhältnissen Rechnung trägt. Was ist es für ein Unsinn, daß wir heute noch eine Arbeiter- und eine Angestelltenrentenversicherung haben, in einer Zeit, in der — das wissen auch Sie — das Arbeits- und Berufsschicksal der Menschen nicht mehr so gesichert ist, wie es einmal der Fall war, und in der — das tritt heute ganz besonders in Berlin zutage — die Hälfte der Berufstätigen aus Frauen besteht?
Wenn Sie uns nun einen Vorwurf gemacht haben, daß wir das Versorgungsgesetz noch nicht durchgeführt haben, so möchte ich sagen: Ich bedauere, daß nicht vorher der Etat des Bundesarbeitsministeriums beraten worden ist.
Dann hätte unser Kollege Herr Bazille Ihnen sagen können, daß auch im Bund das Gesetz infolge der allgemeinen Verzögerung an diesem Gesetz noch nicht durchgeführt ist. Daß die Bestimmungen des Gesetzes in Berlin noch nicht durchgeführt sind, ist nicht Schuld Berlins. In Berlin durfte ja infolge der Art unserer Besatzung jahrelang überhaupt noch nicht von Kriegsopfern gesprochen werden. Und haben Sie vergessen, daß wir 11 Monate Blockade durchgemacht haben mit den ganzen schweren Folgen, die sie mit sich gebracht hat? Nun haben wir unter den größten Schwierigkeiten ein Versorgungsgesetz in Berlin geschaffen. Wir haben aber den Wunsch, in das Bundesversorgungsgesetz eingeschlossen zu werden; und sobald hier im Westen Deutschlands dieses Gesetz wirklich durchgeführt wird, wird es auch in Berlin durchgeführt werden.
Im übrigen kann ich Ihnen auf Ihre Klagen nur eines antworten. Sie sagen: Wir wollen das gemeinsame Schicksal mit Berlin tragen. Dann sorgen Sie dafür, daß Ihre Regierung — es ist ja Ihre — dafür sorgt, daß Berlin zunächst einmal de facto und in absehbarer Zeit auch de jure in den Bund eingeschlossen wird.