Rede von
Ernst
Kuntscher
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 13. Dezember vorigen Jahres hat das Hohe Haus in einer dreistündigen Generalaussprache das Problem der Umsiedlung von Heimatvertriebenen aus den drei Abgabeländern Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein erschöpfend behandelt. Ich glaube, daß es, nachdem wir heute in der zweiten Lesung stehen, wahrhaftig nicht notwendig ist, nun noch einmal eine Grundsatzaussprache über die Dringlichkeit des Problems herbeizuführen.
Alle gesammelten Erfahrungen und aufgetretenen Unebenheiten des nicht erfüllten Solls der vorjährigen Umsiedlungsaktion wurden bei der Ausschußarbeit weitestgehend verwertet und berücksichtigt. Selbst hinsichtlich der Höchstzahl der Umzusiedelnden wurde zwischen dem Gesetzentwurf, der 300 000 Personen vorsieht, und der Verordnung der Regierung, die nur von 200 000 spricht, in den Ausschußberatungen eine tragbare Synthese gefunden. Die größte Schwierigkeit bereitet aber nach wie vor die Wohnraumbeschaffung in jenen Gegenden, in denen nach menschlicher Voraussicht auch Arbeitsplätze für die Umzusiedelnden geschaffen werden können.
Meine politischen Freunde werden dem Gesetzentwurf, wie er nach den Ausschußberatungen vorliegt, in der zweiten und dritten Lesung zustimmen. Wir haben jedoch zwei Anliegen dem Hohen Hause vor Abschluß der zweiten Lesung vorzutragen.
Das erste Anliegen geht dahin, in der Fassung des Gesetzentwurfes die heimatvertriebenen Spätheimkehrer bei der Umsiedlung besonders zu berücksichtigen. Zweitens sind wir der Meinung, daß das Problem der Rücksiedlung der Evakuierten noch einer Besprechung bedarf.
Am Donnerstag voriger Woche behandelten wir hier im Plenum eine Interpellation betreffend die Spätheimkehrer. Für diesen Personenkreis wurde als Problem Nr. 1 mit Recht die Beschaffung eines Arbeitsplatzes und eine menschenwürdige Unterbringung bezeichnet. Die gut und fürsorglich gemeinten Bedingungen, die das Heimkehrergesetz aufstellt, können aber in den übervölkerten und industriearmen Gebieten Niedersachsens und Schleswig-Hosteins nicht restlos erfüllt werden. Nach dem Spätheimkehrergesetz darf dem Spätheimkehrer ein ehemals innegehabter Arbeitsplatz nicht vorenthalten werden. Ferner ist bestimmt, daß der Spätheimkehrer bei der Zuweisung von Arbeitsplätzen vom Arbeitsamt bevorzugt zu behandeln ist. Die erste Bestimmung kommt für heimatvertriebene Spätheimkehrer überhaupt nicht in Betracht, und die zweite Forderung kann deshalb nicht erfüllt werden, weil die Zahl der Arbeitsplätze zu klein ist. Auch die Bestimmung, daß dem Spätheimkehrer bevorzugt Wohnraum zuzuweisen
sei, nützt in den überfüllten Ländern nichts, weil eben die Wohnraumdecke zu kurz ist. Trotz dieser wirtschaftlichen Notlage sind die meisten heimatvertriebenen Spätheimkehrer in diese Gebiete gekommen. Nach wochenlangem Warten in den Durchgangslagern und nach Einschaltung des Suchdienstes fanden sie ihre Familien in diesen Gebieten. Ohne die strukturelle wirtschaftliche Eigenart dieser rein landwirtschaftlichen, also industriearmen Gebiete zu kennen, haben sie, wie nicht anders zu erwarten ist, ihre Entlassung zu ihren Familien in diese Gebiete beantragt. Die Bemühungen der Arbeitsämter, ihnen Arbeitsplätze zu beschaffen, sind bis auf wenige Ausnahmen gescheitert, so daß dieses Bemühen bis heute im allgemeinen ein vergebliches Beginnen geblieben ist.
Zur Illustration möchte ich Ihnen einige Zahlen nennen. Bei den drei Arbeitsämtern des an und für sich kleinen Regierungsbezirks Stade im nördlichen Niedersachsen sind über 2800 arbeitslose Spätheimkehrer gemeldet. Beim Arbeitsamt Stade allein beträgt die Zahl der arbeitslos gemeldeten Spätheimkehrer über 1000 bei insgesamt 23 000 Arbeitslosen in diesem Arbeitsamtsbezirk. Die Zahl der Arbeitslosen beträgt im Land Niedersachsen im Durchschnitt 18 %, ist also fast doppelt so hoch wie die Durchschnittsziffer im Bundesgebiet. Im Arbeitsamtsbezirk Stade beträgt der Durchschnitt der Arbeitslosenzahl 23 % aller Erwerbstätigen und liegt also noch um 5 % über dem Landesdurchschnitt von Niedersachsen.
Zur teilweisen Behebung dieses Notstandes beantragen wir zu § 4 a die Hinzufügung eines zweiten Absatzes. Unseren ursprünglichen Antrag auf Umdruck Nr. 95 ziehen wir zugunsten eines interfraktionellen Antrags zurück, der dem Sinne nach das gleiche will, aber konkreter zum Ausdruck bringt, wer Spätheimkehrer ist. Ich möchte Sie bitten, diesen Antrag, der folgenden Wortlaut hat, anzunehmen:
Der Bundestag wolle beschließen:
Der § 4 a in dem Gesetzentwurf Drucksache Nr. 1987 wird in der vorgelegten Fassung Abs. 1. Dem § 4 a wird ein neuer Abs. 2 mit folgender Fassung eingefügt:
Heimatvertriebene Heimkehrer, die nach § 9 des Heimkehrergesetzes vom 19. Juni 1950 (BGBl. S. 221) bevorzugt in freie Arbeitsstellen zu vermitteln sind, haben auch Anspruch auf bevorzugte Berücksichtigung bei der Umsiedlung.
Das war unser erstes Anliegen, während das zweite die Evakuierten betrifft. Daß dieses Problem in den Ausschußberatungen über das Umsiedlungsgesetz einer eingehenden Prüfung unterzogen wurde, haben Sie bereits aus den Ausführungen des Berichterstatters gehört. Der Ausschuß für innere Verwaltung wollte, daß in die Gesamtzahl der nach diesem Gesetz Umzusiedelnden eine Quote von 10 % Evakuierter aufgenommen wird. Wir haben volles Verständnis für das dringende Verlangen der Evakuierten, in ihre alte Heimat zurückzukehren, aber der bestehende Wohnraummangel hat dieses Verlangen bis heute nicht Wirklichkeit werden lassen. Trotz unseres zum Ausdruck gebrachten Verständnisses für die Wünsche der Evakuierten bitten wir Sie, dem Verlangen des Ausschusses für innere Verwaltung nicht zuzustimmen; denn es handelt sich hier um zwei wesentlich verschieden gelagerte Probleme, und wir möchten diese an und für sich dringende Aktion nicht mit dem Umsiedlungsgesetz ver-
knüpft sehen. In den meisten Fällen der Umsiedlung von Evakuierten geht es darum, daß Maßnahmen innerhalb des eigenen Landes zu treffen sind. Nur in den angrenzenden Gebieten der Hansestädte und im westlichen Niedersachsen — zum Teil auch in Bayern — wird diese Aktion die Landesgrenzen überschneiden.
Wir vertreten den Standpunkt, daß bei der Bereitstellung von Bundesmitteln für den sozialen Wohnungsbau zweckgebundene Beträge für die Brennpunkte aufgewandt werden müssen, die vordringlich für die Rücksiedlung von Evakuierten in Frage kommen, um dadurch den entsprechenden Wohnraum zu beschaffen, so daß auch für die Evakuierten die Rückführung in die zerstörten Großstädte ermöglicht wird. Durch eine solche Maßnahme wäre auch auf dem Wohnungsmarkt eine wesentliche Erleichterung für die angrenzenden Gebiete der Hansestädte und der stark belegten Abgabeländer zu erreichen.
Diese grundsätzliche Feststellung der für die Evakuierten erforderlichen Hilfsmaßnahmen soll eine Voranmeldung für zeitgerecht einzubringende Anträge meiner politischen Freunde sein. In der Angelegenheit der Umsiedlung der heimatvertriebenen Spätheimkehrer bitte ich Sie nunmehr, dem interfraktionellen Antrag Ihre Zustimmung nicht zu versagen.