Rede von
Otto
Arnholz
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die nicht Eingeweihten waren einigermaßen überrascht, als sie, nachdem uns am 18. Dezember vorigen Jahres in diesem Saal der Bundesjugendplan beschert worden war, schließlich merkten, daß die bei diesem Bundesplan genannten Zahlen nicht neu zur Verfügung gestellte Beträge darstellen, sondern daß es sich bei ihnen zum weitaus größten Teil um bisher bei den verschiedensten Ansätzen im Haushaltsplan verstreute Summen handelt. Es mehren sich jetzt die Stimmen, die darauf hinweisen, daß bisher keine praktischen Auswirkungen des Bundesjugendplans festzustellen seien. Es wächst die Enttäuschung darüber, daß von der Bundesregierung bisher erkennbar Positives für die Jugendpflege nicht in ausreichendem Maße geleistet worden ist. Wir müssen daher aus dem Stadium der hervorragend guten Reden heraus und über die bedingungslose Anerkennung der Notwendigkeit der Jugendpflege hinweg zu sichtbaren und ausreichenden Ergebnissen kommen.
Ein Gebiet, das dringend der Förderung der Bundesregierung und der Länder bedarf, ist das Jugendwandern, für das das Vorhandensein einer genügenden Zahl von Jugendherbergen die Voraussetzung ist. Im Bundesgebiet gab es vor 1939 über 1200 Jugendherbergen; jetzt sind es nicht einmal mehr 600, trotz der starken Bevölkerungszunahme und trotz des starken Anwachsens der Jugendjahrgänge. Aber nicht nur das zahlenmäßige Anwachsen der Jugend steht im umgekehrten Verhältnis zur Zahl der Herbergen, sondern auch die Not unserer Zeit mit ihren Ruinen, mit der Enge der Behausungen, mit der notdürftigen Unterbringung in Baracken, Bunkern, Kellern und unzureichend hergerichteten Räumen, eine Unterbringung, die oftmals die Gesundheit gefährdet und geeignet ist, die Sittlichkeit zu untergraben. Diese Lage breitester Schichten unseres Volkes
macht es dringend erforderlich, daß die Zahl der Jugendherbergen weit größer wird als vor 1939.
Die Gründe des Rückgangs sind zweierlei Art. Es sind einmal die Kriegszerstörungen, zum andern ist es die zweckentfremdete Verwendung.
Unter anderem wurden die Jugendherbergen als Krankenhäuser oder Altersheime, als Flüchtlingswohnungen, als Verwaltungsdienststellen verwandt, oder aber sie wurden von alliierten Dienststellen beschlagnahmt. Die Unterbringung von Krankenanstalten in Jugendherbergen kann aber doch immer nur ein Provisorium sein. 6 Jahre nach Einstellung der Kriegshandlungen sollte es nunmehr endlich möglich sein, für Kranke zweckentsprechende Häuser bereitzustellen. Auch die Jugendherbergen, die als Altersheime benutzt werden, müßten endlich ihren ursprünglichen Zwecken wieder zugeführt werden. Nicht verständlich ist zum Beispiel aber, daß der Neubau des Alterheims als Ersatz für die Jugendherberge in Soltau bisher daran gescheitert ist, daß von den Gesamtkosten, die auf 203 000 Mark veranschlagt und von denen 50 000 Mark durch Staatszuschuß und 100 000 Mark durch 1. Hypothek gedeckt sind, der Restbetrag von 53 000 Mark aus Landesmitteln noch nicht zur Verfügung gestellt werden konnte und daher das Landeskirchenamt die Baugenehmigung versagte. Bei dem Interesse, das doch auch die Kirche dem Jugendwandern entgegenbringt, wäre es doch wohl erwünscht, wenn auch sie sich nicht allein auf das Land verließe, sondern ihrerseits zu den Baukosten beizutragen suchen würde.
Jugendherbergen, die von Flüchtlingen bewohnt sind, freizumachen, sollte keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bieten. Aus den betreffenden Wohnungsbaufonds müssen die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Das ist besonders in den Fällen nicht zu umgehen, in denen Familien in den Jugendherbergen untergebracht sind, die deswegen von anderen Hauseigentümern nicht aufgenommen wurden oder gegen die sich die Hauseigentümer deswegen mit Erfolg gewehrt haben, weil sie kinderreiche Familien sind oder weil sie die Miete nicht bezahlen können. Wenn in solchen Fällen nicht mit allem Ernst für Abhilfe gesorgt wird, werden diese Jugendherbergen niemals frei werden, zumal manche Gemeinden sehr gern diesen Ausweg der Inanspruchnahme der Jugendherbergen als bequemen Weg gewählt haben, weil sie hier den geringsten Widerstand erwarteten. Daß es auch anders geht, zeigt das Beispiel Hamburgs, das der Stadt Cuxhaven Mittel zum zweckgebundenen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt hat. Die betreffende Jugendherberge ist frei.
Daß es vokommt, daß man ausgerechnet in Orten des Fremdenverkehrs sehr wenig Verständnis für das Jugendwandern aufbringt, sollte man nicht für möglich halten. Dafür trotzdem zwei Beispiele. In Berchtesgaden-Strub ist die Herberge mit 100 Betten für Flüchtlingswohnungen beschlagnahmt. „Großzügigerweise" hat man Speicher und Kellerräume für die wandernde Jugend zur Verfügung gestellt! Noch im Februar 1949 hat man in Hahnenklee-Bockswiese die Jugendherberge zur Unterbringung von Flüchtlingen erfaßt. Obwohl der Erfassungsbescheid vom Regierungspräsidenten als rechtswidrig aufgehoben werden ist, soll die Gemeinde für eine anderweitige Unterbringung der Flüchtlinge sich nicht bemüht haben, so daß der
Landesverband des Deutschen Jugendherbergswerkes gezwungen war, Räumungsklage gegen die Flüchtlinge anzustrengen. Ob man in HahnenkleeBockswiese nicht erkennt, daß das Ansehen der Selbstverwaltung durch solches Verhalten in starkem Maße geschädigt werden kann, das ist die Frage, die hier wohl mit Recht zu stellen ist.
Ein anderes Beispiel: In Niederwenigern bemüht sich die Kreisverwaltung sehr darum, Ersatzwohnraum für die in der Jugendherberge untergebrachten Flüchtlinge zu beschaffen. Die Amtsverwaltung dagegen macht, wie mir mitgeteilt wurde, dauernd Schwierigkeiten und weist die Wohnungen anderen Wohnungsuchenden — und nicht den vorgesehenen Vertriebenen — zu. Sicher ist die Wohnungsnot auch dort sehr groß. Aber wenn die Kreisverwaltung helfen will, die Jugendherberge frei zu bekommen, wird sie das aus sehr wohlerwogenen, triftigen Gründen tun. Es dürfte keinem Zweifel unterliegen, daß der Herbergsraum in der Nähe des Industriegebiets besonders wichtig und die Freigabe sehr dringend ist, da die Jugendherbergen in jenem Gebiet besonders knapp sind.
Daß Klagen über die Beschlagnahme von Jugendherbergen durch Alliierte vorliegen, nimmt nach der Aussprache, die vor kurzem in diesem Hause geführt worden ist, nicht mehr besonders wunder. Zum Teil weiß niemand, wie stark die Belegung ist, also ob die Jugendherbergen überhaupt ausgenutzt werden. Zum Teil ist die Belegung gering. Die Jugendherberge Reisenbach mit 110 Betten wird von einer militärischen Dienststelle benutzt, die ganze fünf bis sechs Mann dort untergebracht hat. Der Vorschlag, diese fünf bis sechs Soldaten in einer Baracke unterzubringen, konnte von dem Jugendoffizier bisher angeblich nicht durchgesetzt werden. Ich muß leider sagen: ich bin sehr unangenehm überrascht, daß bei amerikanischen militärischen Dienststellen so starker Mangel an Verständnis für das Jugendwandern besteht. Ich glaube, daß frühere deutsche militärische Dienststellen mehr Verständnis aufgebracht hätten. Hoffentlich bringen aber auch die zuständigen Stellen recht bald nicht nur Verständnis dafür auf, sondern sorgen auch dafür, daß die Jugendherberge Wiesbaden mit ihren 250 Betten ihrem ehemaligen Bestimmungszweck wieder zugeführt wird. Sie wird zur Zeit von einer Polizeischule benutzt. Da man Polizeischulen auch früher anderweitig unterzubringen wußte, sollte das auch in dieser Zeit nicht unmöglich sein. Daß in Wassenberg eine Jugendherberge mit 50 Betten noch immer als Rathaus benutzt wird, dürfte sich auch nicht mehr rechtfertigen lassen. Gemeinden, die es nicht so bequem hatten, eine Jugendherberge in Anspruch nehmen zu können, wußten sich auch zu helfen; wenn nicht anders, dann dadurch, daß sie ihre Verwaltung in einer Baracke unterbrachten. Die Jugend von Nordrhein-Westfalen dürfte einen Anspruch darauf haben, daß in solchen Fällen endlich die Freigabe erfolgt.
Eines der unerfreulichsten Kapitel dürfte es sein, daß in der Jugendherberge Düsseldorf — einer besonders großen Jugendherberge mit 567 Betten — ein Ministerium, und ausgerechnet das Wiederaufbauministerium, untergebracht ist. Das Land Nordrhein-Westfalen war in der Lage, sehr erhebliche Mittel aufzuwenden und sehr schnell Raum zur Verfügung zu stellen, als es sich darum handelte, den vorläufigen Bundessitz nach Bonn zu legen. Die Jugend wird mit vollstem Recht kein Verständnis dafür haben, daß fünf Jahre nach Bildung dieses Landes, das unter den deutschen Ländern eines der leistungsfähigsten ist, immer noch diese Jugendherberge als Verwaltungsgebäude verwendet wird.
Wie die angeführten Beispiele gezeigt haben, ist es durchaus nicht immer die Unmöglichkeit, Abhilfe zu schaffen, sondern auch mangelndes Verständnis, wenn noch immer zahlreiche Jugendherbergen zweckentfremdet verwendet werden. Wie groß dieser Mangel sein kann — man sollte es nicht für möglich halten; aber die Mitteilung ist mir von sehr zuverlässiger Seite zugegangen —, zeigt die Äußerung eines Regierungsrates in einem Bundesministerium, die also lautete: „Wir haben früher auch nicht gewandert und sind doch tüchtige Menschen geworden. Wandern ist Luxus. Wer wandern will, muß auch entsprechend zahlen."
Diesem Herrn wäre es sicher dienlich, wenn ihm mit seiner Familie für einige Jahre nur die Kaufkraft des Einkommens eines ausgebombten oder vertriebenen Arbeiters zur Verfügung gestellt würde. Sicher verginge ihm die großsprecherische Art, zu fordern: Wer wandern will, muß auch entsprechend zahlen. Und wenn er nicht von allen guten Geistern verlassen ist, wüchse auch wohl selbst bei ihm das Verständnis dafür, daß zur Förderung des Jugendwanderns Schaffung und Erhaltung von Jugendherbergen gerade in der heutigen Zeit dringendes Gebot ist. Wir sollten uns freuen und es als ein gutes und sehr erfreuliches Zeichen für die Entwicklung in unserer Jugend ansehen, daß sich ein so starker Trieb zum Jugendwandern bemerkbar macht und sich offenbar weiterhin verstärken wird.
Bei dieser Sachlage darf der jetzige Zustand nicht fortdauern wie im Vorjahre, daß in der Hauptwanderzeit — zwischen Pfingsten und den Herbstferien — bei weit über 3 Millionen Übernachtungen in den Jugendherbergen eine ebenso große Zahl abgewiesen werden mußte. In Rüdesheim allein konnten 42 000 Übernachtungen nicht gewährt werden. Wenn die zur Zeit noch zweckentfremdeten Herbergen wieder ihrem ursprünglichen Zweck zurückgegeben würden, könnten sie, wenn man nur einen Durchschnittssatz von 120 Übernachtungen je Bett in Ansatz bringt, rund 950 000 Übernachtungen gewähren. Diese Zahl spricht für sich selbst. Welchen Segen könnte die Freigabe dieser Jugendherbergen stiften! Denken wir daran, daß Jugendwandern zur Zielstrebigkeit, zu starkem Wollen hinleitet, aber auch reine Freude und echten Frohsinn weckt. Ein Jahr lang wird gespart, auf Überflüssiges oder nicht Notwendiges ganz oder teilweise verzichtet. Das lange vorher beginnende Planen schon bereitet Freude, lenkt auf ein schönes und erstrebenswertes Ziel, dem auch während der Wanderung Wollen und Tatkraft gelten. Bei alledem aber begründet es rechte Freundschaft und läßt den Geist wahrer Kameradschaft sich besonders stark entwickeln. Es kann zur Enthaltsamkeit von Alkohol und Nikotin führen; das sollte nach meiner persönlichen Meinung als erstrebenswertes Ziel des Jugendwanderns auch in Zukunft wieder anerkannt werden. Zweifellos aber macht es empfänglich für unsere alten und neuen schönen Volks- und Wanderlieder und es lenkt vielleicht auch ab von Schlagern und den hypermodernen Melodien und Texten. Keine Unterkunft ist besser als die Jugendherberge geeignet, die wanderfreudige Jugend aus Gasthäusern und teuren Hotels fernzuhalten, ihr eine ihr gemäße Unterkunft zu geringem Preis zu sichern, der für die meisten die Voraussetzung der Möglichkeit zu
wandern überhaupt erst eröffnet. Sie entheben die Jugend aber auch der Benutzung primitiver Strohlager, die nicht immer gesundheitlich einwandfrei sind und zuweilen Unglücksgefahren bieten.
Schließlich dienen Jugendwandern und zweckentsprechende gute Herbergen im Zeitalter der Technik, mit viel geistiger Arbeit und viel Arbeit, die Körper und Nerven sehr viel mehr beansprucht und schädigt als früher, besonders bei jungen Menschen, der Erhaltung und Entwicklung von Volkskraft und Volksgesundheit im weitesten Sinne des Wortes und bieten den notwendigen Ausgleich. Wer sich wandernd ganz der Natur hingibt, dem gibt sie nicht nur einen gesunden Körper; dem schenkt sie auch einen freien, offenen Blick und frohen Sinn und sie weckt in ihm immer von neuem die Sehnsucht, hinauszuwandern in die Weite. Sie erfüllt seine Seele ganz. Wer die Freuden des Wanderns einmal selbst erlebt hat und wer ein rechter Wanderer ist, der wünscht auch allen anderen, daß sie diese Freude selbst genießen können, daß ein möglichst weiter Kreis unseres Volkes instand gesetzt wird, das Jugendwandern zu pflegen. Daß ein möglichst großer Kreis an diese Möglichkeit herangebracht wird, ist der Zweck unseres Antrages, die zweckentfremdeten Jugendherbergen nunmehr mit größter Beschleunigung wieder dem Jugendwandern zur Verfügung zu stellen.
Aus diesem aufrichtigen Wunsch wollen wir der Jugend wirklich mit der Tat helfen. Daraus ist der vorliegende Antrag geboren. Ich darf wohl annehmen, daß dieses Haus sich unserem Antrag einstimmig anschließt und damit der Bundesregierung zuruft: Gebt der Jugend die Jugendherbergen zurück!