Rede von
Dr.
Hans-Joachim
von
Merkatz
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es handelt sich um einen Antrag des Oberstaatsanwalts in Düsseldorf, der mit Schreiben vom 26. Oktober 1950 auf dem Dienstwege über den Bundesjustizminister das Ersuchen auf Aufhebung der Immunität der Abgeordneten Frau Thiele gestellt hat. Ursprünglich ist dieses Verfahren gegen Unbekannt gerichtet. Der Herr Bundesjustizminister hat das Schreiben des Oberstaatsanwalts in Düsseldorf aber als das Nachsuchen um die Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens gegen die Bundestagsabgeordnete Thiele behandelt, um nicht nur ihre Vernehmung in einem Strafverfahren gegen Unbekannt, sondern auch, da sie als Täterin oder als Mittäterin in Frage kommt, das Verfahren gegen sie selbst zu ermöglichen.
Der Ausschuß hat daher den Sachverhalt unter Berücksichtigung des vom Bundesjustizminister gestellten Antrags beraten müssen, d. h. unter dem Gesichtspunkt der Herbeiführung einer Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens gegen die Abgeordnete Frau Thiele.
Dem Antrag liegt folgender Sachverhalt zugrunde. Der Herr Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Herr Dr. Adenauer, hat durch Schreiben vom 7. Juli 1950, das am 12. Juli bei der Staatsanwaltschaft in Düsseldorf eingegangen ist, Strafantrag gestellt gegen Verfasser, Verbreiter und Drucker der Flugschrift „Was ist mit den Kriegsgefangenen los?" wegen der in ihr enthaltenen Beleidigungen seiner Person sowie wegen der herabwürdigenden unwahren Tatsachenbehauptungen. Als Herausgeber der Flugschrift ist der Landesvorstand der Kommunistischen Partei in Nordrhein-Westfalen und als Hersteller die „Alsterdruck-G.m.b.H." in Hamburg festgestellt worden.
In dieser Druckschrift finden sich außerordentlich diffamierende Äußerungen und Tatsachenbehauptungen, die insgesamt in Tateinheit Delikte der Verleumdung- — § 187 Strafgesetzbuch — darstellen oder, falls der Nachweis, daß die angeführten Tatsachen wider besseres Wissen behauptet worden sind, nicht gelingt, den. Tatbestand der üblen Nachrede — § 186 Strafgesetzbuch — erfüllen.
Ferner sind in dieser Druckschrift Beleidigungen enthalten, die nach § 185 des Strafgesetzbuches strafbar sind. Da der Verletzte im öffentlichen Leben steht und die öffentlich behaupteten und verbreiteten ehrenrührigen Tatsachen geeignet sind, den Verletzten des Vertrauens unwürdig erscheinen zu lassen, dessen er zu seinem öffentlichen Wirken bedarf, greifen auch die verschärften Strafbestimmungen des § 2 und des § 1 der Vierten Notverordnung zum Schutze des inneren Friedens, erster Teil Kap. 3 vom 8. Dezember 1931 Platz. Wie erwähnt, sind diese Verleumdungen oder üblen Nachreden und Beleidigungen in Tateinheit begangen worden, da sie alle in derselben Druckschrift enthalten sind.
Der Herr Bundeskanzler hat von dem Inhalt der Flugschrift erstmalig am 22. Juni 1950 Kenntnis erhalten. Der nach § 194 des Strafgesetzbuches erforderliche Strafantrag ist rechtzeitig gestellt worden. Der Vorschrift des § 61 des Strafgesetzbuches ist damit genügt. Die formellen Voraussetzungen sind also gegeben. Als Mitglied des als Herausgeber auf der Flugschrift angegebenen Landesvorstandes der Kommunistischen Partei in Nordrhein-Westfalen ist unter anderem auch die Bundestagsabgeordnete Frau Grete Thiele ermittelt worden.
Bei der sehr sorgfältigen Prüfung des Sachverhalts haben sich im Ausschuß zwei fast gleich starke, sich gegenüberstehende Meinungen gebildet. Es handelt sich bei der Frage der Immunität um eine politische Ermessensentscheidung, indem das Privileg des Parlaments auf die ungestörte Arbeit gegenüber den Interessen der Rechtspflege abgewogen werden muß.
Nach den vom Ausschuß für Geschäftsordnung und Immunität entwickelten Grundsätzen war zu prüfen, ob es sich hier um eine Beleidigung, eine verleumderische Beleidigung oder gar eine Verleumdung handelte, die im Ursprung und nach dem Ergebnis politischen Charakters war. Die Meinungen sind in diesem Fall sehr nahe und sehr scharf auf der Grenze gewesen. Auf der einen Seite war die Möglichkeit eines politisch infizierten Verfahrens zu erwägen, andererseits, daß bei Frau Thiele, wenn sie als Täterin in Frage kam, unter Umständen nur eine fiktive Täterschaft vorlag. Diese Gesichtspunkte stützten die Meinung, daß der vorliegende Fall, obwohl an der Grenze stehend, nicht geeignet sei, zu einer Aufhebung der Immunität zu führen. Die Mehrheit des Ausschusses hat demgegenüber andere Momente ins Feld geführt. Insbesondere ist darauf hingewiesen worden, daß immerhin die Möglichkeit einer Verleumdung und nicht nur eine politische Beleidigung vorlag. Mit Rücksicht auf den ersten Absatz des Art. 46 des Grundgesetzes, in dem die verleumderische Beleidigung selbst dann, wenn sie im Plenum des Bundestags erfolgt, entgegen dem traditionellen Recht als strafbar erklärt wird, kam die Mehrheit des Ausschusses zu dem Ergebnis, daß hier die Grenze für die Aufrechterhaltung der Immunität überschritten sei und unter allen Umständen dem Interesse der Rechtspflege Raum gegeben werden müsse.
Auf Grund dieser sorgfältigen Abwägung aller Umstände kam der Ausschuß Zu dem Antrag, dem Plenum des Hauses zu empfehlen, die Immunität der Frau Abgeordneten Thiele gemäß dem durch den Bundesjustizminister weitergeleiteten Antrag des Herrn Oberstaatsanwalts in Düsseldorf aufzuheben.