Rede von
Dr.
Carlo
Schmid
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Die Rednerliste ist erschöpft. Wir kommen nunmehr zur Abstimmung darüber, ob und an welche Ausschüsse wir die beiden Gesetzentwürfe überweisen wollen. Es ist der Antrag auf Überweisung an den Ausschuß für innergebietliche Neuordnung als federführenden Ausschuß und an den Rechtsausschuß gestellt worden. Ist das Haus damit einverstanden?
— Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe als nächsten Punkt der Tagesordnung auf:
4 a) Erste Beratung des von der Fraktion der KPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Sofortmaßnahmen für die schaffende, lernende und arbeitslose Jugend ;
b) Beratung des Mündlichen Berichts des Ausschusses für Fragen der Jugendfürsorge über den Antrag der Fraktion des Zentrums betreffend Vorlage eines Gesetzentwurfs zum Schutze der heimat- und berufslosen Jugend (Nrn. 1681, 572 der Drucksachen).
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, für die Begründung des Antrages unter Punkt 4 a der Tagesordnung und für die Berichterstattung zu Punkt 4 b) je 20 Minuten vorzusehen und für die Aussprache über 4 a) und 4 b) insgesamt 60 Minuten. Kein Widerspruch? — Es ist so beschlossen.
Das Wort zur Begründung des Antrags unter Punkt 4 a) der Tagesordnung hat der Herr Abgeordnete Paul.
Paul (KPD), Antragsteller: Meine Damen und Herren! Die kommunistische Fraktion hat Ihnen in Anbetracht der Lage unserer Jugend eine Gesetzesvorlage über Sofortmaßnahmen für die schaffende, lernende und arbeitslose Jugend zur Beratung vorgelegt. Ich halte es für erforderlich, mich mit der Lage der Jugend in West- und Ostdeutschland zu beschäftigen, weil die Lage der Jugend in Westdeutschland eine durchgreifende Hilfe und Besserung dringend erforderlich macht. Nach den letzten Berichten des Bundesarbeits-
ministeriums haben wir in Westdeutschland bei den Jugendlichen eine Arbeitslosigkeit von rund 20 % der Gesamtarbeitslosenzahl. Nach der Dezemberausgabe des vergangenen Jahres, in der ein Bestand von rund 926 000 Arbeitslosen angegeben wurde, hatten wir unter den Jugendlichen von 14 bis 25 Jahren — gemessen an der Gesamtzahl der Arbeitslosen — eine Arbeitslosigkeit von rund 17 %. Bei den weiblichen Arbeitslosen im Alter von 14 bis 25 Jahren hatten wir, gemessen an der Gesamtzahl, eine Arbeitslosigkeit von 28 %. Inzwischen ist aber die Arbeitslosigkeit weiter gestiegen, und auch die Zahlen der arbeitslosen Jugendlichen haben zugenommen.
Die Kohlenknappheit, die Verknappung in unserer Wirtschaft bei wichtigen Rohstoffen bringt in diesen Tagen weitere Betriebsschließungen und Entlassungen mit sich. Von dieser Tatsache wird auch in starkem Maße die arbeitende Jugend betroffen. Es fehlt nicht nur an Lehrstellen, sondern aus der amtlichen Statistik ergibt sich sogar, daß auch sehr geringe Möglichkeiten für verstärkte Einstellungen von jungen Hilfsarbeitern gegeben sind. Ich möchte weiter auf die ungeheure Beteiligung der Jugend an der Arbeitslosigkeit in West-Berlin hinweisen. Rund 25 % aller Arbeitslosen West-Berlins sind junge Menschen unter 25 Jahren. Über 300 000 junge Menschen besitzen keinerlei Möglichkeit, eine Lehre durchzumachen. In einer Reihe von Städten Westfalens z. B. kamen auf eine Lehrstelle im vergangenen Jahr 7 Bewerber. — Ein anderes Beispiel: Im Arbeitsamtsbezirk Braunschweig waren Ostern 1948 noch insgesamt 3663 Lehrstellen gemeldet; Ostern 1949 konnten noch 2109 Lehrlinge untergebracht werden, aber 1950 gab es nur noch 700 Lehrstellen für 5700 Schulentlassene. Die Schulentlassungen werden aber in den nächsten Jahren nicht abnehmen, sondern sie werden zunehmen. 1949 wurden 559 303 junge Menschen aus der Schule entlassen, 1951 werden es bereits 632 531 sein, und 1955 werden 684 992 aus der Schule entlassen. Steigende Schulentlassungen bei absinkender Bereitstellung von Lehrstellen, das ist die Lage, wie wir sie hier in Westdeutschland vorfinden. 1950 standen z. B. in Niedersachsen nach amtlichen Berichten 33 000 Lehrstellen für 110 700 Jugendliche zur Verfügung.
Aber es fehlt nicht nur an Lehrstellen, sondern die Lehrlinge, die tätig sind, genießen keine genügende Facharbeiterausbildung. Wir hätten allen Grund, uns um eine bessere Ausbildung unserer jungen Facharbeiter zu kümmern. Massenweise sind gute Facharbeiter im Hitlerkrieg umgekommen, sie stehen der deutschen Wirtschaft jetzt nicht zur Verfügung. Führen wir uns an einigen Beispielen vor Augen, wie mangelhaft die Lehrausbildung heute ist. Mir liegen einige Ziffern aus dem Handelskammerbezirk der Stadt Solingen vor. Wir haben dort z. B. über die gewerblichen und kaufmännischen Lehrlinge, die sich einer Lehrabschlußprüfung unterzogen, festgestellt, daß der Leistungsrückgang bei einer geringen Beteiligung von Prüflingen 6% betrug. Von 338 gewerblichen und kaufmännischen Lehrlingen, die an den Lehrabschlußprüfungen teilnahmen, hatten nur 280 die Prüfung mit „gut" bestanden. Im Stadtkreis Solingen haben die gewerblichen Lehrlinge nur zu 69 % und in dem mir sehr bekannten RheinWupper-Kreis nur zu 82 % die Prüfung erfolgreich abgelegt. Das kommt auch auf das Konto des Fehlens an anständigen, gut organisierten Berufsschulen. Es wird z. B. aus Schleswig-Holstein gemeldet, daß von 107 000 Berufsschulpflichtigen im vergangenen Jahre 40 000 aus Mangel an Räumen nicht eingeschult werden konnten.
Besonders schlecht ist die Lage für die weiblichen Lehrlinge. In Essen z. B. standen 1950 für 4500 weibliche Lehrlinge nur 590 offene Lehrstellen zur Verfügung; und in Ahlen gab es für 1520 Bewerberinnen nur 120 Lehrstellen, d. h. auf 13 Bewerberinnen entfiel eine Lehrstelle.
Diese Lage wird auch durch die Tatsache gekennzeichnet, daß Zehntausende von Jugendlichen, zum Teil Kinder von Flüchtlingen, heute obdachlos umherirren, daß Zehntausende polizeilich nicht angemeldet sind und dem Vagabundenleben verfallen.
Der Gesundheitszustand unserer Jugend ist nach Berichten der berufenen Ärzte wirklich erschreckend. Die „Hannoversche Allgemeine Zeitung" z. B. schrieb vor einigen Monaten, daß in einem Regierungsbezirk Niedersachsens 30 000 Kinder kein eigenes Bett besitzen. 16 000 Mütter waren in diesem Regierungsbezirk gezwungen, tagsüber berufstätig zu sein, während die Kinder nur in geringer Zahl in Kinderhorten aufgenommen werden konnten. Nach amtlichen Erhebungen gibt es z. B. in Bayern 45 000 Schulkinder, die an Lungen-Tbc erkrankt sind, und weitere 6000 Kinder leiden an anderen tuberkulösen Erkrankungen. Die Wiesbadener Jugendzeitschrift „Für Alle" berichtet z. B., daß das Stadtjugendamt München eine Befragung durchgeführt hat, bei der 75 000 Kinder erfaßt wurden. 32 000 erklärten, daß sie kein eigenes Bett besäßen, bei 25 000 fehlte es an Bettwäsche und an Zudecken und 38 000 dieser Kinder lebten in mangelhaften und sehr schlechten Wohnverhältnissen.
Eine weitere wichtige Frage, die mit der Sorge um unsere Jugend in Verbindung steht, betrifft das Grassieren der Geschlechtskrankheiten. Wir wissen, daß nach jedem Krieg als Auswirkungen der kriegerischen Ereignisse zusätzliche Erkrankungen eintreten, aber der jetzige Stand der Geschlechtserkrankungen liegt weit über jener Quote nach dem ersten Weltkrieg. Herr Dr. Gerfeld, ein berufener Mediziner im Sozialministerium von Nordrhein-Westfalen, mußte auf einer Konferenz, in der er zur Gesundheitslage der Bevölkerung Stellung nahm, erklären, daß die heutige gesundheitspolitische und sozialkulturelle Ausnahme situation in Westdeutschland viel gefährlicher sei als die nach dem ersten Weltkrieg. In Niedersachsen z. B. haben die Geschlechtskrankheiten in den letzten drei Jahren um 200 000 Fälle zugenommen. Es gibt Städte, wo man ärztlicherseits festgestellt hat, daß die Zunahme 200 und 300 % beträgt. Ich brauche nicht auf jene Tatsache hinzuweisen, daß vor allen Dingen in den mit alliierten Truppen stark belegten Städten die Geschlechtskrankheiten ganz besonders zugenommen haben.
Die ganze Lage der Jugend hat es mit sich gebracht, daß die Jugendkriminalität nicht zurückgeht, sondern im Gegenteil sogar noch zunimmt. In den letzten Monaten haben sich in den Fällen der Schrottdiebstähle, in dem Falle des Diebstahls von Buntmetallen ganze Kolonnen schulpflichtiger Kinder beteiligt. Zahlreiche Jugendliche, die auf Grund dieser Lage von den Jugendämtern als „verwahrlost" angesprochen werden, werden in Zwangsfürsorgeanstalten überwiesen. In verschiedenen Ländern konnte aber ein großer Teil in Anstalten nicht aufgenommen werden, weil es an Betten und Unterkunft fehlte. Uns allen ist bekannt, daß Zehntausende von Jugendlichen durch
diese Situation in die Arme der Werber der französischen Fremdenlegion getrieben wurden. Selbst bürgerliche Zeitungen müssen zugeben, daß in dem schmutzigen Krieg für die französischen Monopolkapitalisten 40 000 junge Deutsche in Vietnam ihr Leben gelassen haben.
Aber nicht nur die arbeitende, sondern auch die akademische Jugend lebt in einer schlechten Situation. Wir als Bundestagsabgeordnete erleben doch sehr oft, daß wir in den Zugen von Studenten angesprochen, zum Kauf von Postkarten oder Rasierklingen zur Unterstützung der Studentenheime und der notleidenden Studenten aufgefordert werden. Wir wissen, daß es nach Beendigung des Krieges, nachdem die Universitäten ihre Horten wieder geöffnet hatten, einen starken Andrang zu den Universitäten gab. Dafür ein Beispiel, das der Universität Göttingen. Im Jahre 1945/46 waren in Göttingen 4513 Hörer, 1948 waren es bereits 5020. Wir hatten an dieser Universität gegenüber 1937/38 einen Anstieg um rund 270 %. Erlangen erfuhr sogar einen Hörerzustrom um 400 % gegenüber dem Jahre 1937/38. Viele sind sich daruber im klaren, daß es für sie nach Ablegung ihres Examens nur sehr geringe Berufsaussichten gibt. Wir sehen das ganz besonders bei der medizinstudierenden Jugend. Verschiedene Landtage haben sich schon mit dieser Lage beschäftigt. Ich habe hier einen Bericht aus Württemberg, der besagt, daß 60 % der Assistenzärzte in Heidelberg überhaupt keine Bezahlung erhalten. Verschiedene Länder haben die Stipendien und die Zuwendungen für die notleidenden Studenten rigoros gekürzt, so daß die monatlichen Zuwendungen z. B. in Bayern nur noch 25 Mark betragen.
Wie ist nun die Lage der Jugend in der Deutschen Demokratischen Republik? Vor kurzer Zeit wurde in der Deutschen Demokratischen Republik durch die Volkskammer ein Gesetz zur Förderung der Jugend angenommen. Dieses Gesetz
bedeutet wirklich eine wesentliche Verbesserung und Gleichstellung der Jugend auf allen Gebieten. Wir erleben dort, daß die Jugend auf allen Gebieten das volle Mitbestimmungsrecht hat. In zahlreichen Verwaltungspositionen, als Bürgermeister und Landräte sehen wir heute junge Menschen aus dem Arbeiterstand, aus den Bauernschichten, die treu und brav arbeiten und im Interesse des deutschen Volkes ihre Pflicht erfüllen. Während in Westdeutschland bis zur Verkündung des sogenannten Jugendplans herzlich wenig getan wurde, wurde in der Deutschen Demokratischen Republik ganz systematisch an der Verbesserung der Lage der Jugend gearbeitet. Allein von der Zentralregierung wurden im vergangenen Jahr 154,1 Millionen Mark für die verschiedensten Zwecke zur Förderung der Jugend bewilligt. Wir sehen zahlreiche Jugendheime und Jugendhäuser im Bau. Wir erleben, daß für die Kinder zahlreiche Kinderhorte gebaut werden, um so den Kindern die Möglichkeit zu geben, sich in einer guten Gemeinschaft zu erholen und zu bilden. Wir sehen einen Aufschwung in der Sportbewegung, ein wirklich aktives Eingreifen der jungen Sportler bei der Wiederherstellung ihrer Sporthallen und Sportplätze. Und erst recht nach dem großen Treffen der deutschen Jugend zu Pfingsten in Berlin sehen wir eine ungeheure Aktivität der Jugend. In den volkseigenen Betrieben, auf den staatlichen Gütern, kurz überall setzt sich die Jugend aktiv für den demokratischen Neuaufbau ein. Auf den Universitäten hat man wirklich jetzt — erstmalig in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung — für den erforderlichen prozentualen Anteil der arbeitenden Jugend aus der Arbeiterklasse und aus der Bauernschaft Platz gemacht.
Das ist der Unterschied gegenüber der Lage, wie wir sie hier in Westdeutschland haben.
Es ist bezeichnend und beschämend zugleich, daß man z. B. die Aufführung des Farbfilms über das Deutschlandtreffen vor der deutschen Jugend in Westdeutschland verboten hat. Aber die Herren Minister in Nordrhein-Westfalen und auch der Landtagspräsident Gockeln haben sich diesen Film im kleinen Kreise angesehen, und sie waren sehr stark beeindruckt.
Wir haben von dem Jugendplan der Regierung Kenntnis genommen. Wir sagen: dieser Plan ist absolut unzulänglich.
Er führt die Gefahr der Remilitarisierung und der Einführung des Arbeitsdienstes herauf.
Wir haben deshalb unseren Gesetzentwurf vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf ist mit maßgeblichen Jugendorganisationen und mit Gewerkschaftsfunktionären besprochen worden. Wir sind der Meinung, daß er einer ernsten Beratung bedarf.
Wir wollen im ersten Abschnitt dieses Entwurfs die Herstellung des vollen Mitbestimmungsrechts der Jugend. Wir wollen, daß die Jugendlichen mit 18 Jahren das Wahlrecht erhalten und mit 21 Jahren
wählbar sind. Wir schlagen weiter eine Verbesserung der Schulbildung und der Berufsausbildung vor, indem man den Eltern, deren Bruttogehalt und Einkommen nur 300 Mark im Monat beträgt,
eine monatliche Ausbildungsbeihilfe von 30 Mark bewilligt.