Rede von
Helene
Wessel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der im vorliegenden Antrag Drucksache Nr. 1583 aufgezeigte Weg ist bereits in der außenpolitischen Debatte dieses Hohen Hauses am 18. November von mir als Sprecherin der Zentrums-Fraktion als ein Weg bezeichnet worden, der angesichts der weltpolitischen Spannungen von der Bundesregierung gegangen werden sollte. Das wäre ein sinnvoller deutscher Beitrag zur Sicherung des Weltfriedens. Inzwischen sind die Spannungen in der Welt, insbesondere durch den Fortgang des Koreakriegs, nicht geringer geworden und damit auch die Auseinandersetzungen um die Beteiligung Deutschlands an der Verteidigung Europas und seiner eigenen Verteidigung weitergegangen. Sie haben aber auch zu Vorschlägen geführt, die sowohl von der Bundesregierung wie von den politischen Parteien als eine für Deutschland unmögliche Verhand-
lungsgrundlage bezeichnet worden sind. Auch die gegenwärtige Konzeption der Atlantikpakt-Mächte zeigt nach wie vor die Einstellung, das deutsche Volk als Objekt, nicht aber als Subjekt in der Verteidigungslinie Deutschlands und Europas zu sehen. Vom deutschen Standpunkt aus gesehen — und auch mir als Sprecherin einer deutschen Partei — scheint es notwendig zu sein, von dieser Poistion aus die Möglichkeiten und Aussichten einer Einbeziehung Deutschlands in den Weltsicherheitsplan zur Erhaltung des Friedens zu prüfen und die Sicherheitsfrage von unserem eigenen Lande aus zu bewerten.
Deutschland liegt mitten in Europa, das vermutlich in absehbarer Zeit nicht durch den Europarat oder den Schumanplan politisch geeinigt werden wird. Damit ist die Aussicht für jene Konzeption, die von einer dritten Macht „Europa" ausgeht, immer geringer geworden. Das mag für viele eine bittere Enttäuschung sein, insbesondere für jene, die den Eintritt Deutschlands in den Europarat mit sehr vielen Hoffnungen begleitet und für eine Wende in der europäischen Einigungsbewegung gehalten haben. Vielleicht ist noch bitterer die Erkenntnis, daß die heutige schwache Position Europas hinsichtlich der fehlenden Übereinstimmung seiner politischen Auffassungen wie auch seiner militärischen Verteidigungsbereitschaft von Anfang an genährt wurde durch Fehler der Alliierten, insbesondere hinsichtlich ihrer Deutschlandpolitik. Dies scheint mir eine Erklärung für das psychologische Verhalten des deutschen Volkes zu seiner Einbeziehung in den Verteidigungsplan der Alliierten zu sein.
Meine Damen und Herren! Angesichts der Gefahren, von denen sich die westliche Welt von den Mächten des Ostens bedroht fühlt, bemüht man sich nun um den Aufbau einer militärischen Front, die auch im Politischen noch nicht vorhanden ist. Diejenigen also, die ihre militärische Position auf der dritten Kraft „Europa" aufbauen, übersehen dabei völlig, daß das in Nationalstaaten und Nationalländchen zerrissene Europa erst zu einer politischen Kraft gemacht werden muß. Hier erhebt sich nun doch die Frage, ob die Welt endgültig in zwei Teile gespalten bleiben muß und ob sich jeder Staat entweder der östlichen oder der westlichen Weltanschauung zu verschreiben hat. Wer diese Auffassung vertritt, muß sich darüber klar sein, daß eine solche Entwicklung nur in der politischen Kapitulation einer Seite oder in einem Krieg enden kann. Wer bei dieser Sachlage den „unvermeidlichen Krieg" als der Weisheit letzten Schluß betrachtet, muß sich auch darüber klar sein, daß diese Auseinandersetzungen dann in Europa und nicht zuletzt in Deutschland ausgetragen werden. Wenn erst einmal die Waffen zu sprechen beginnen, dann ist Europa ein einziges großes Schlachtfeld.
Deshalb sind auch von deutscher Seite aus jene Bemühungen der Westalliierten zu begrüßen, mit Rußland zu einer Viererkonferenz zu kommen und zu versuchen, die Weltspannungen auf dem Weg über Beratungen zu lösen.
Meine Damen und Herren! In dieser grundsätzlichen Situation gilt es auch die Position Deutschlands zu sehen. So sehr wir wünschen, daß beim etwaigen Zustandekommen von Verhandlungen der drei westlichen Staaten mit Rußland die deutsche Frage in ihrer vollen Bedeutung und Wichtigkeit für den Westen wie für den Osten gesehen werden möge, ebenso sollten wir unsere Aufgabe darin sehen, in ein System eingeordnet zu werden, dessen Bestand von Rußland nicht als ein gegen sich gerichteter Angriff bezeichnet werden kann. Solange ein Teil der europäischen Staaten glaubt, die Rettung Europas nur in der Stärkung der Atlantikfront sehen zu müssen, solange steht auf der anderen Seite der Kreml unter dem Eindruck einer ihn bedrohenden Einschließungsfront, die vom Atlantik bis Asien reicht.
Jedenfalls vertritt Moskau diese Auffassung — und ich muß sagen, nicht ohne Geschick — in seiner Friedenspropaganda, hinter der es ohne Zweifel -- das gestehe ich Ihnen gern zu - seine eigenen Expansionspläne zu tarnen versucht.
Auch die Lage Deutschlands aber, meine Damen und Herren, und die militärische Schwäche Europas sollten die Bundesregierung veranlassen, dem vorliegenden Antrag der Zentrums-Fraktion die gebührende Beachtung zu schenken. Der Herr Bundeskanzler hat in seiner außenpolitischen Rede vom 8. November die militärische Stärke Rußlands dargelegt. Seine Ausführungen werden nun unterstützt in einem soeben erschienenen Buch des ehemaligen Generalobersten Guderian: „Kann Westeuropa verteidigt werden?" Guderian schreibt:
Die militärische Sinnlosigkeit liegt für jeden
Soldaten auf der Hand: auf russischer Seite
175 Divisionen, die im Kriegsfall auf 500 verstärkt werden können. Demgegenüber sind es
im Westen nach dem Stand vom Oktober 1950
12 Divisionen, die man in absehbarer Zeit
bestenfalls auf 20 vermehren kann. Damit
soll eine Verteidigungslinie am Rhein von
1000 km Länge gehalten werden. Von einer
Elbelinie kann überhaupt ernsthaft nicht die
Rede sein, weil sie zum größten Teil in den
Händen der Russen ist, vom Angreifer also
gar nicht überschritten werden muß.
Unter diesen Umständen hält Guderian einen deutschen Verteidigungsbeitrag für zwecklos, solange nicht die militärischen und politischen Voraussetzungen geschaffen werden, wozu er entsprechende Truppenverstärkungen der Alliierten, Einigung Europas und Freiheit und Gleichberechtigung für Westdeutschland zählt.
Angesichts dieser Sachlage sollte es auch die Alliierten nicht verwundern, wenn das deutsche Volk in seiner Verteidigungsbereitschaft zurückhaltend ist; und sicherlich wird ein nicht geringer Teil Deutscher sein, der der Auffassung Guderians zustimmt, wenn er sagt:
Die westdeutsche Bundesrepublik muß sich bezüglich ihrer äußeren Sicherheit ganz auf die Besatzungsmächte verlassen. Diese wollten es so und tragen damit auch allein die ganze Verantwortung für Westeuropa.
Nun hat die Art, wie man die Frage der deutschen Wiederbewaffnung aufs Tapet gebracht hat, und zwar nach rein militärischen Gesichtspunkten und ohne einen Hauch von psychologischer Rücksicht auf die Verfassung des deutschen Volkes, die ohnehin vorhandene Mißstimmung in weiten Volkskreisen noch verstärkt. Auch das Verhalten der französischen Regierung, die einer Beteiligung Deutschlands an einer Europaarmee nur unter Bedingungen zustimmen will, die für das deutsche
Volk unmöglich sind und als diskriminierend empfunden werden, hat diese Situation im deutschen Volke noch verschärft. Worauf es jetzt noch ankommt ist, dem deutschen Volke klarzumachen, daß nicht sinnlose Opfer von ihm verlangt und erwartet werden in einem militärischen Verteidigungszustand von Deutschland und Europa, wie er z. B. von Guderian dargelegt worden ist.
Die Perspektive, von der aus ein deutscher Sicherheitsbeitrag gesehen werden muß, ist meines Erachtens in den darüber geführten Debatten falsch gestellt worden.
Die Frage, vor der das deutsche Volk in der Bundesrepublik steht, lautet zunächst nicht, ob es für einen unvermeidlichen Krieg gerüstet werden soll, sondern ob es eine Aktion verstärken soll, die dazu bestimmt ist, einen Krieg zu verhindern,
und zwar dadurch, daß diese Aktion auf den Angriffslustigen abschreckend wirkt und ihm die Chance eines Sieges nimmt. Nur durch die Solidarität aller freien Völker und nur durch den echten Zusammenschluß aller, die Gemeinsames zu verteidigen haben, kann der Weltfriede noch gesichert werden. Für die Sicherung eines solchen Weltfriedens wird auch das deutsche Volk bereit sein, seinen Beitrag zu leisten, weil er ihm sinnvoll und auch notwendig erscheint.
In der gegenwärtigen Weltsituation und der Situation Deutschlands glauben meine politischen Freunde und ich, den Eintritt Deutschlands in die Vereinten Nationen als den Weg zu einem echten Sicherheitsbeitrag Deutschlands bezeichnen zu sollen. Aus der Forderung, daß Deutschland an der Sicherheitsbereitschaft der Welt teilnehmen soll, ergibt sich die Notwendigkeit und Möglichkeit, den Antrag auf Eintritt Deutschlands in die Vereinten Nationen zu stellen. Der Atlantikpakt ist nur ein Teilgebäude in dem Rahmen des weltumspannenden Bundes der Vereinten Nationen und scheint uns aus der dargelegten Situation Europas und zu seiner Sicherheit nicht ausreichend zu sein.
Sobald Deutschland die Möglichkeit eigener Außenpolitik durch die Einrichtung eines Außenministeriums hat, dürfte der Zeitpunkt gekommen sein, einen Antrag auf Aufnahme in die UNO zu stellen. Wie durch die Presse mitgeteilt wurde, ist Deutschland bereits im Ernährungsausschuß der UNO vollberechtigt vertreten, und gestern las ich in der Zeitung, daß auch von der Bundesregierung der Antrag gestellt worden ist, Deutschland vollberechtigt in die UNESCO aufzunehmen. Ich meine deswegen, daß hier wirklich ein Ansatzpunkt vorhanden ist, in der Debatte um den Sicherheitsbeitrag Deutschlands jetzt einen konstruktiven Weg zu gehen, indem wir unsere Aufnahme in die UNO beantragen.
Wer den so oft gerühmten und berühmten Pulsschlag des Volkes nur ein wenig fühlt, der weiß, daß jetzt alles darauf ankommt, die ungeheure Erregtheit und Nervosität des deutschen Volkes in der Frage der Wiederbewaffnung durch die Überzeugung zu bezwingen, daß diese Frage nicht zu einer Angelegenheit der Regierung und der Regierungsparteien gestempelt wird und eventuell durch Mehrheitsbeschlüsse in diesem Hause erledigt werden soll. Man würde einen verhängnisvollen Irrtum begehen, zu glauben, daß eine solche Schicksalsfrage für Deutschland auch gegen einen erheblichen Teil dieses Hohen Hauses entschieden werden könnte.
Dafür steht zuviel auf dem Spiel, auch hinsichtlich des Schicksals der 18 Millionen deutscher Menschen in der Ostzone, die wir doch bei unseren Überlegungen nicht vergessen dürfen. Was in dieser frage beschlossen wird, sollte möglichst die Unterschrift aller in diesem Hohen Hause tragen können.
In vielen Fragen, die uns hier beschäftigen, kann man durchaus verschiedener Meinung sein, aber auf keinen Fall darin, wie man in dieser, unser gemeinsames Schicksal betreffenden Frage vor dem Volke bestehen soll. Wir halten diese Angelegenheit für so wichtig, daß wir mit dem vorliegenden Antrag darum bemüht sind, eine gemeinsame Basis in diesem Hohen Hause zwischen Regierung und allen verantwortungsbewußten Parteien zu finden. Angesichts der weltpolitischen Entwicklung können wir die Entscheidungen, die auf uns zukommen, in ihrer ganzen Tragweite nicht ernst genug sehen. Sie benötigen eines Basis im Bundestag, die keinen Zweifel über die Meinung des deutschen Volkes zuläßt. Darum sollten auch juristische oder sonstige völkerrechtliche Bedenken, die von der einen oder anderen Seite in diesem Hohen Hause vielleicht gegen den Antrag der Zentrumspartei erhoben werden, um des gemeinsamen Bemühens willen in diesem Augenblick zurückgestellt werden. Meine politischen Freunde und ich sind auch durchaus damit einverstanden, daß unser Antrag zur weiteren Beratung dem Außenpolitischen Ausschuß überwiesen wird.
Den Besatzungsmächten, die vielleicht auf Grund des Besatzungsstatuts oder aus völkerrechtlichen Gründen oder aus technisch-politischen Fragen heraus ihre Bedenken anmelden, möchte ich sagen, daß Deutschland seine Pflicht gegenüber der Rettung und Erhaltung Europas und seiner Menschheitswerte keineswegs vergißt, daß man aber auch dem deutschen Volke in dieser Frage gerecht werden muß. Nur in völliger Gleichberechtigung und als ein Teil der Vereinten Nationen werden wir unseren Anteil an dem Schicksal der Welt tragen können.
Ich möchte mit dem Ausspruch schließen, den Lincoln mitten im Bürgerkrieg den schwankenden Kongreßmännern machte: „Meine Herren! Sie können der Geschichte nicht entgehen." Man sollte sich dieser politischen Weisheit eines Lincoln auch heute erinnern.