Ich nehme an, daß jetzt der Herr Bundesminister für Vertriebene die Interpellation beantworten will.
— Ich bitte, Wortmeldungen schriftlich hierher zu
geben. Die Aussprache ist keineswegs geschlossen.
Dr: Lukaschek, Bundesminister für Angelegenheiten der Vertriebenen: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße die Interpellation, und ich begrüße auch die Einbringung des Gesetzentwurfs der Fraktion der SPD in der Frage der Umsiedlung. Ich begrüße die Interpellation deshalb, weil sie uns Veranlassung gegeben hat, die große Problematik und die ganze Schwere des Vertriebenenproblems einmal vor aller Öffentlichkeit aufzurollen.
— Ich möchte darauf hinweisen, daß mein Ministerium über diese Dinge immer ganz offen gesprochen und die Dinge insbesondere mit den Ländervertretungen in vollstem Einvernehmen erörtert hat, denn die ganze Flüchtlingsfrage ist nach dem Grundgesetz eine Länderfrage, und der Bund ist nur koordinierend tätig. Ich sage das nicht, um hinsichtlich der Verpflichtung des Bundes zur Lösung dieses schwersten Problems der Bundesrepublik beizutragen, irgendwie abzuschwächen, etwa wegen mangelnder Zuständigkeit. Ich habe die bayerische Interpellation bereits schriftlich eingehend beantwortet, und dort ist sehr viel Material unterbreitet.
Ich will kurz zusammenfassen: Ich kann vollinhaltlich unterstreichen, was hier von Vertretern aller Parteien — abgesehen von den rein politischen Bemerkungen — gesagt worden ist. Das ist erfreulich, denn es zeigt, daß die Frage der Vertriebenen weit hinaus über das Niveau jeder Parteipolitik reicht. Ich möchte am Anfang meiner Ausführungen unterstreichen, daß den Ländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern unbedingt geholfen werden muß, und ich darf hervorheben, daß der Bund bisher getan hat, was nur irgendwie in seinen Kräften stand, um die Dinge vorwärtszutreiben.
Mit der Notverordnung auf Grund des Art. 119 haben wir es unternommen, in diesem Jahr 300 000 Flüchtlinge umzusiedeln. Diese Notverordnung ist Gesetz; sie hat Gesetzeskraft, völlig gleichgültig, ob der Bundestag sie beschlossen hat oder nicht. Jedes Land ist verpflichtet, diesem Gesetz Folge zu leisten. Von den 300 000 Flüchtlingen sind bis zum 15. November 220 000 umgesiedelt worden, davon in gelenkten Transporten 148 000. Wir werden bis zum Ende dieses Jahres noch weitere 30 000 Flüchtlinge umgesiedelt haben, so daß 250 000 umgesiedelt worden sind. Ein Überhang von 50 000 Flüchtlingen wird bis zum 1. April nächsten Jahres umgesiedelt sein. Daß dieser Rest nicht umgesiedelt worden ist, liegt daran, daß die Wohnungen nicht fertig geworden sind. Das ist der Grund dafür, daß diese sehr bedauerlichen Stockungen eingetreten sind, die auch zum plötzlichen Zurückrufen von Transporten geführt haben, wodurch ein sehr schwerer individueller Mißstand eingetreten ist. Es sind dabei auch Verschulden vorgekommen, Verschulden mancher Behörden. Sie wissen, daß der Sozialminister von Rheinland-Pfalz erklärt hat, er habe ein Disziplinarverfahren gegen den Oberbürgermeister von Frankenthal eröffnet, weil dieser seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei.
Ich habe es, ganz offen gesagt, bedauert, daß sich die Aufnahmeländer bei dieser Debatte nicht zum Wort gemeldet haben, denn die Aufnahmeländer weisen ja mit allem Nachdruck darauf hin, daß sie „nicht mehr können". Ich könnte Ihnen unzählige Schreiben vorlegen, worin mir erklärt wird: Wir können nicht mehr. Ich bin jedoch verpflichtet, in aller Objektivität auch für die Aufnahmeländer ein Wort zu sagen. Die Aufnahmeländer haben sich alle Mühe gegeben. Sie haben darauf hingewiesen, daß es keinen Sinn habe, Flüchtlinge aus einem Massenlager in Schleswig-Holstein in ein Massenlager nach Rheinland-Pfalz oder Baden zu überführen. Sie haben errechnet, daß die Aufnahmefähigkeit ihrer Länder soundso groß ist und daß die Möglichkeit, neue Flüchtlinge aufzunehmen, nur dann bestehe, wenn für die Vertriebenen Wohnungen gebaut werden und wenn ihnen die Gründung einer Existenz ermöglicht wird. Davon ist das richtig, daß das ganze Problem der Umsiedlung überhaupt nur gelöst werden kann im Zusammenhang mit der Lösung der Frage des Wohnungsbaues und der Schaffung einer Existenz für die Vertriebenen.
Aber ich möchte gleichzeitig auch ein Wort der Kritik sagen. Die mit Flüchtlingen überlasteten Länder weisen mit Recht darauf hin, daß sie seinerzeit nicht gefragt worden sind, sondern daß sie aus einer selbstverständlichen Haltung heraus die Vertriebenen haben aufnehmen müssen, und daß es deshalb nicht ganz begründet sei, wenn von den Aufnahmeländern jetzt diese Frage aufgeworfen wird. Ich möchte feststellen, daß die Rechnung der Aufnahmeländer wissenschaftlich begründet ist. Aber es handelt sich hier nicht darum, diese Dinge jetzt mit rein rechnerischen Maßnahmen zu lösen, sondern darum, daß man sie auch mit dem Herzen lösen muß, und daß man etwas mehr tun muß, als sich unter Anwendung nur des Rechenschiebers ergibt. Und die Aufnahmeländer haben ja auch fünf Jahre Zeit gehabt, sich einzurichten. Sie wissen, meine Damen und Herren, daß die Länder der französischen Zone überhaupt keine Vertriebenen aufzunehmen brauchten, weil die französische Militärregierung erklärt hat, das Potsdamer Abkommen sei von ihr ja nicht mit unterzeichnet worden, und deshalb könne sie auch nicht verpflichtet sein, Vertriebene aufzunehmen. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die Belegung der Wohnungen in Rheinland-Pfalz und in Baden nicht so groß ist wie in 'den Flüchtlingsländern. Aber unterdessen ist ja die Wohnungsgesetzgebung gelockert worden. Es müßte da erst ein anderes Wohnungsgesetz erlassen werden.
Noch eines kommt hinzu: Wir- können die Umsiedlung natürlich nur vornehmen auf Grund von freiwilligen Meldungen. Derjenige aber; der sich freiwillig meldet, hat den verständlichen Wunsch, sein Leben nun etwas besser einzurichten. Er will also vor allen Dingen eine Wohnung haben, und er will eine Existenz haben. Er muß also, um eine Existenz zu finden, also um Arbeit zu finden, in der Nähe der Städte angesiedelt werden. Die Städte der Aufnahmeländer leiden aber auch stark unter den Kriegsverwüstungen. In solche Gegenden, in denen es zwar Wohnungen, aber keine Arbeit gibt, will der Heimatvertriebene nicht angesiedelt werden; er kann dort auch nicht angesiedelt werden. Im hohen Hunsrück und im hohen Schwarzwald können zwar Heimatvertriebene unterge-
bracht werden; sie finden dort aber niemals Arbeit, und sie passen nicht dorthin.
Die Gründe also, die die Aufnahmeländer für ihre Weigerung anführen, entbehren nicht der Berechtigung, wenn ich auch immer sage, ,daß eine rein rechnerische Begründung nicht genügt und daß man etwas mehr von ihnen verlangen muß. Das, was Herr Abgeordneter Dr. Edert so stark hervorgehoben hat, müßte auch hinzukommen. — Es ist also unsere Aufgabe, die Dinge zu koordinieren mit dem Wohnraum und mit der Schaffung einer Existenz.
Herr Abgeordneter Albers hat vorhin gesagt, er habe den Verdacht, daß die Notverordnung erst auf Grund der Interpellation erlassen worden sei. Lieber Herr Kollege Albers, das können Sie wohl nicht mit Recht behaupten, denn Sie waren ja seit Monaten an den vorbereitenden Arbeiten beteiligt. Wenn ich nicht vorige Woche darum hätte bitten müssen, die Beantwortung und Besprechung der Interpellation auf den heutigen Tag zu verschieben, dann wäre diese Interpellation in der vorigen Woche beantwortet worden, ohne daß die Notverordnung vorlag. Aber ich bin doch froh, diese Notverordnung jetzt zu haben.
Es ist Kritik daran geübt worden, daß wir nur 200 000 Heimatvertriebene umsiedeln wollen. Ich bitte aber zu bedenken, daß diese 200 000 Heimatvertriebenen bis zum 15. September umgesiedelt werden sollen, und wir werden dann zur gegebenen Zeit eine neue Verordnung erlassen. Wenn Sie mich fragen, warum wir nur 200 000 Heimatvertriebene umsiedeln, so will ich Ihnen ganz offen sagen, daß wir erst nach sehr mühevollen Erwägungen zu dieser Zahl gekommen sind, nachdem wir auch ein großes Gutachten des Instituts für Raumforschung beim Marshall-PlanMinisterium eingeholt haben, in dem uns gesagt wurde, daß nach dem Ergebnis der wissenschaftlichen Arbeiten, die dort durchgeführt worden sind, die Möglichkeit bestehe, in diesem Jahre, wenn eine intensive Koppelung mit Wohnungsbau und Existenzgründung erfolge, 200 000 Heimatvertriebene umzusiedeln.
Wir werden uns im Bundesrat über alle diese Dinge noch eingehend unterhalten müssen. Ich für meine Person kann erklären, daß ich in diesem Jahre lieber 600 000 als nur 200 000 Heimatvertriebene umsiedeln würde. Für mich ist selbstverständlich der Beschluß des Bundestages, wonach außer diesen 200 000 Heimatvertriebenen noch weitere 600 000 Heimatvertriebene umgesiedelt werden sollen, eine Verpflichtung. Nur kommt es darauf an, innerhalb welcher Zeit das geleistet werden soll. Mit der Nennung der Zahl von 200 000 umzusiedelnden Heimatvertriebenen soll also nicht etwa der Beschluß des Bundestags, der die Umsiedlung von weiteren 600 000 Heimatvertriebenen fordert, unter den Tisch fallen.
Ich darf aber noch etwas anführen, meine Damen und Herren, um Ihnen zu zeigen, wie schwer dieses Problem zu lösen ist. Wenn wir 200 000 Menschen umsiedeln, so müssen für sie 50 000 Wohnungen erstellt werden. 50 000 Wohnungen zu erstellen bedeutet aber, daß wir zu ihrer Finanzierung ein Kapital von 500 000 Millionen DM aufbringen müssen. Sie sehen also, daß es nicht so einfach ist, dieses Problem zu lösen. Und wir müssen alles tun, damit die Gelder, von denen Herr Abgeordneter Kuntscher vorhin gesprochen hat und für deren Nennung ich dankbar bin, so schnell wie möglich aufgebracht werden, damit die Umsiedlung überhaupt finanziert werden kann. Die Gelder müssen rechtzeitig kommen, damit wir nicht wie in diesem Jahre nachhinken. Von den in den Aufnahmeländern zu bauenden Wohnungen für Vertriebene sind in diesem Jahr bisher 25°/o fertig geworden, daher auch der Überhang, der tief bedauerlich ist. Alle diese Dinge sind wichtig.
Herr Kollege Albertz hat insbesondere auf die Frage der gesetzlichen Grundlage hingewiesen. Nach den Artikeln 83 und 84 des Grundgesetzes ist die Ausführung der Gesetze des Bundes, also auch der Notverordnung, ausschließlich Sache der Länder. Der Bund hat gesetzlich nicht die Möglichkeit, das durchzuführen. Wenn man das ändern will, braucht man ein verfassungänderndes Gesetz. Alle die Bedenken, die heute dagegen bestehen, die Verfassung zu ändern, sind auch Ihnen bekannt. Ich weiß nicht, ob ein Gesetz, mit dem die Verfassung geändert würde, indem nämlich in den Ländern Auftragsverwaltungen für das Flüchtlingswesen geschaffen würden, von allen Flüchtlingsländern, selbst Bayern, angenommen würde. Ich habe erhebliche Bedenken, ob nicht der Bundesrat diese Dinge ablehnen würde. Mir würde es natürlich recht sein, wenn es so wäre.
Nun zu dem Gesetzentwurf der SPD. Auch ich begrüße an sich diesen Gesetzentwurf, möchte aber erklären, ,daß er noch ganz erheblich der Ergänzung bedarf. Daher bitte ich, ihn außer dem Vertriebenenausschuß und dem Verfassungsausschuß auch dem Wohnungsbauausschuß zu überweisen; die Dinge sind nicht voneinander zu trennen. Der Entwurf muß insbesondere hinsichtlich der Kontingente ergänzt werden. Wir müssen zu festen Kontingenten kommen und fragen, was nach der soziologischen Struktur. aus den Ländern umgesiedelt werden soll. Sie wissen, meine Damen und Herren, daß ja bisher die Aufnahme- und Abgabekommissionen ausgesucht haben und dabei die Arbeitsfähigen, möglichst die Facharbeiter, auszuwählen versuchten, die Sozialrentner, die Pensionäre aber zurückließen. Da besteht für die Flüchtlingsländer die Gefahr, daß sie Armenhaus und Altersheim werden.
Alle diese Dinge regelt nun die Notverordnung, die ich dem Bundesrat vorlege. Will der Bundesrat sie annehmen — und wir kommen ja mit dem Bundesrat schneller zum Ziel als über die gewöhnliche Gesetzgebungsmaschine —, dann ist es recht; hält er eine Gesetzgebung für richtiger wie zum Beispiel bei dem Notaufnahmegesetz, — nun, auch gut; mir ist es gleichgültig. Aber dann müssen wir diesen Gesetzesvorschlag der SPD ganz erheblich durcharbeiten, und da wird die Notverordnung, die das Kabinett gestern beschlossen hat, eine sehr gute Grundlage sein.
Sie wissen, wir haben vorgeschlagen, im nächsten Jahre aus Schleswig-Holstein 120 000, aus Niedersachsen 50 000 und aus Bayern 30 000 umzusiedeln. Diese Zahlen werden erheblicher Kritik unterliegen, und auch für mich besteht kein Zweifel, daß es zu wenig sind, wie ja überhaupt über der Vertriebenenpolitik das Wort „zu wenig" steht. Nur: es einzuordnen und das meiste herauszuholen, das ist die Schwierigkeit. An mir und der Bundesregierung soll es nicht fehlen. Ich kann auch nur betonen, daß die Vertriebenenfrage der Frage einer Verteidigung zum mindesten gleichwertig ist, weil ihre Lösung die Voraussetzung für die Möglichkeit einer Verteidigung ist.