Rede von
Ernst
Kuntscher
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Die Annahme, daß zu diesen bereitgestellten Mitteln ja auch noch Landesmittel gekommen sind, Mittel aus kommunalen, privaten und genossenschaftlichen Geldinstituten, aus Bau-
sparkassen und Versicherungen, ist berechtigt. Hinzu kommen Eigenmittel, Selbsthilfe und erste Hypotheken. Die Rechnung ist deshalb nicht übertrieben, daß 500 Millionen DM für Schaffung neuen Wohnraumes im Rahmen des sozialen Wohnungsbaues für Umzusiedelnde zur Verfügung standen. Wenn wir annehmen, daß zur Erstellung einer Wohneinheit 10 000 DM benötigt werden, so waren es immerhin 50 000 Wohnungen, die von den bereitgestellten Mitteln erbaut werden konnten. Es wurde also seitens des Bundes und aller interessierten Kreise wahrhaftig viel getan, um diese Umsiedlung reibungslos durchzuführen.
Kollege Dr. Edert hat in der Begründung der zur Verhandlung stehenden Interpellation insbesondere auf die Verhältnisse in Schleswig-Holstein Bezug genommen. Die Verhältnisse in Schleswig-Holstein sind uns bekannt und es liegt mir ferne, seine Ausführungen abzuschwächen; aber ich kann und muß Ihnen sagen, daß die Verhältnisse im nördlichen Niedersachsen ganz gleich gelagert sind. Vor der „großen Völkerwanderung" war das nördliche Niedersachsen — das sind die Regierungsbezirke Stade, Oldenburg, Ostfriesland und Lüneburg — ein Gebiet, wo die Bevölkerung zu 75 % in der Landwirtschaft tätig war. Nur 25 % fanden ihren Erwerb in der industriellen und gewerblichen Wirtschaft. Die industrielle und gewerbliche Wirtschaft dieser Gebiete bestand aus dem Schiffbau, den Werften der Kriegsmarine und den Zubringerindustrien für die Kriegsmarine. Diese Industrien sind verschwunden. Neue Industrien sind trotz aller Bemühungen wenig dazugekommen.
Dazugekommen ist aber in diesen Gebieten eine zahlenmäßig ebensostarke Bevölkerung, wie ehedem vorhanden war. Die Bevölkerung hat sich nahezu verdoppelt. Im Regierungsbezirk Stade mit seinen 665 000 Einwohnern ist der Anteil der Alteingesessenen 59 %, der Anteil der Vertriebenen 41 %. Im Regierungsbezirk Lüneburg liegen die Verhältnisse ähnlich: 60,8 % Alteingesessene, 39,2 % Vertriebene. So liegen die Verhältnisse auch in Ostfriesland und in Oldenburg.
Aus der Struktur dieser Gebiete ergibt sich die Zahl der Arbeitslosen. Im Regierungsbezirk Stade ist die Zahl der Arbeitslosen bereits wieder über 40 000 gestiegen; d. h. an die 20 % aller Erwerbstätigen sind arbeitslos; dies bei einem Bundesdurchschnitt von 9 %. Der Anteil der Heimatvertriebenen an diesem ungeheuren Prozentsatz von Arbeitslosen beträgt 60 %.
Diese Zahlen beinhalten aber nicht nur unsägliche Not, unsägliches Leid und Elend, sondern sie werden auch immer mehr zu einer staatspolitischen Gefahr. Diese verbitterten und enttäuschten Menschen können es einfach nicht verstehen, wenn die Umsiedlung in einem derartigen Schneckentempo weiter vor sich geht. Die Radikalisierung nimmt zu. Nationalbolschewistische Propheten finden in diesem Lande, bei diesen verbitterten und aufgewühlten Menschen Zulauf und Gehör.
Bemerken möchte ich nur, daß die Umsiedlung der bisher wenigen tausend Menschen aus unserem Gebiet für uns absolut keine Entlastung bedeutet; denn ich will Ihnen sagen: wir sind eben einmal ein Land an der Grenze. In den Frühjahrs-, Sommer- und Herbstmonaten betrug der tägliche Zugang aus der Ostzone an die 400 Menschen. Ein Großteil dieser Menschen sind und bleiben in den Gebieten an der Grenze. Es ist statistisch nachgewiesen, daß die Regierungsbezirke Lüneburg und Stade trotz der Umsiedlung einiger tausend Menschen im Zuge der heurigen Umsiedlungsaktion an Bevölkerung nicht ab-, sondern zugenommen haben. Gliedert man die Bevölkerung in Vertriebene und Alteingesessene auf, so ergibt sich, daß der Prozentsatz der Vertriebenen nicht gefallen, sondern gestiegen ist.
Zusammenfassend möchte ich feststellen: der Bevölkerungsausgleich ist nicht nur eine der inner-politischen Verpflichtungen zur Lösung des Vertriebenenproblems, sondern ein wesentlicher Beitrag zur Erhaltung des sozialen Friedens. Sonderinteressen einzelner Länder müssen vor der Größe dieser deutschen Schicksalsfrage zurücktreten, und dem zuständigen Ministerium müssen seitens des Hohen Hauses auch die gesetzlichen Mittel in die Hand gegeben werden, um die fehlende Solidarität zu erzwingen. Aus diesem Grunde erachten es meine politischen Freunde und ich auch als richtig, daß auf dem Wege eines Gesetzes die weitere Umsiedlungsaktion durchgeführt werden kann, damit sie für die überbelegten Länder wirklich eine Entlastung bringt. Es geht in dieser Frage um lebendige Menschen. Wir stehen unter Zeitdruck und wir haben aus staatspolitischen Gründen wahrhaftig die Verpflichtung — das möchte ich noch einmal unterstreichen —, das Problem in der ganzen Größe zu erkennen und die Umsiedlung so schnell wie möglich und zahlenmäßig so hoch wie möglich zügiger und energischer durchzuführen.