Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Herr Abgeordnete Lütkens hat die Ablehnung seiner Fraktion gegenüber dem Antrag Drucksache Nr. 1600 zuerst damit begründet, daß der Europarat für die Frage der Verteidigung überhaupt nicht zuständig sei. Dieses Argument ist formell richtig. Aber es ist um so seltsamer, daß es von der Sozialdemokratie vorgetragen wird, die ihre grundsätzliche Stellungnahme zum Europarat — als es sich darum handelte, ob Deutschland dem Europarat beitreten solle — davon abhängig machte, daß zunächst einmal dem Europarat die Zuständigkeiten gegeben werden, die Voraussetzung für eine materielle Wirksamkeit seien. Damals hat die Sozialdemokratie grundsätzlich geltend gemacht, daß der Europarat in seinen Zuständigkeiten eben allzusehr beschränkt sei.
Nun, meine sehr geehrten Damen und Herren, man kann das Verhalten des Europrates sonderbar finden, aber es ist nicht sonderbar, daß er in jenen Augusttagen in den ersten Wochen des Krieges in Korea, seine Zuständigkeit bewußt überschreitend, das Wort zu den Verteidigungsfragen erhob, wenn man sich vergewissert, unter welchen Umständen der Europarat damals zu diesen Fragen Stellung nahm.
Damals standen alle Völker der freien Welt unter
dem Eindruck des kommunistischen Angriffs in
Korea, jenes von langer Hand vorbereiteten
Gangsterstreichs, der seit jener Zeit die Besorgnisse aller Völker auf das Äußerste erhöht hat,
und unter dem frischen Eindruck dieses Angriffs, der die sowjetische Bedrohung, die über die gesamte Welt verhängt ist, besonders sichtbar machte, war es Ausdruck dessen, was alle europäischen Völker fühlten, als die Churchill-Entschließung vom Europarat angenommen wurde.
Damals, in dieser Situation, trat etwas hervor, was inzwischen manche wieder vergessen haben, seitdem die akute Gefahr zurückgewichen ist, daß nämlich ein Europa, wie wir es haben wollen, als eine „Organisation der friedlichen Werke" allerdings, wie Herr Kollege Lütkens es bezeichnete, eben leider gar nicht möglich ist, wenn nicht eine starke Abwehr geschaffen ist, die in der Lage ist, diese Organisation zum Zweck der friedlichen Werke gegen Angriffe aus dem Osten zu verteidigen. Dies scheint in Vergessenheit zu geraten, und andere Momente treten wieder in den Vordergrund, wie das häufig in der Politik der Fall ist. Das unmittelbar starke Empfinden einer Lebensnotwendigkeit, das unter dem Eindruck einer aktuellen Gefahr plötzlich durchschlägt, schwächt sich wieder in dem Maße ab, als die Situation eine Abschwächung der Gefahr erkennen läßt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sind der Auffassung, daß dieses Hohe Haus dem folgen sollte, was damals die Mitglieder der Regierungsparteien im Europarat zum Ausdruck gebracht haben; sie haben sich damals der ChurchillEmpfehlung für eine europäische Verteidigung und der anderen Empfehlung über die Notwendigkeit des Schuman-Plans angeschlossen, weil damit dem starken deutschen Willen, nicht nur an den Rechten, sondern auch an den Pflichten teilzunehmen und eine europäische Organisation zu schaffen, die beides trägt, Ausdruck gegeben wurde. Wenn wir heute die damalige Stellungnahme der Regierungsparteien in Straßburg zu bekräftigen wünschen, dann geschieht das unter Betonung aller Vorbehalte, die vom deutschen Standpunkt geltend zu machen sind. Wir verweisen mit Nachdruck darauf, daß sowohl die Regierung wie die Regierungsparteien bei der kürzlichen Debatte den Gedanken der deutschen Gleichberechtigung mit großem Nachdruck herausgestellt und unzweideutig ausgesprochen haben, eine deutsche Verpflichtung hinge davon ab, daß die Gleichberechtigung erst in weitgehendem Umfang verwirklicht sein müsse. Wir möchten der Regierung in diesem Zusammenhang zurufen, daß sie diese damals hervorgehobene Notwendigkeit, die deutsche Gleichberechtigung durchzusetzen, nicht leicht nehmen möge. Es handelt sich dabei um eine ernste Angelegenheit, und wir werden, wenn die Frage der deutschen Teilnahme an europäischer Verteidigung demnächst praktisch zu entscheiden ist, unsere Stellungnahme allerdings davon abhängig machen, inwieweit von einer Verwirklichung der deutschen Gleichberechtigung unter den dann gegebenen Umständen gesprochen werden kann.
Nun ist noch ein zweiter Punkt, der demnächst, wenn diese Frage zu entscheiden ist, von uns auf das kritischste geprüft werden wird. Das ist nämlich die Frage, ob die Vorbereitungen für eine gemeinsame europäische Verteidigung unter solchen Umständen erfolgt, daß den gegebenen Vorbelastungen der Bundesrepublik in finanzieller Hinsicht auch in dem erforderlichen Umfange Rechnung getragen wird. Wir haben neulich bei der Debatte über diese Angelegenheit mit aller Entschiedenheit hervorgehoben, daß es sich bei den Schutzmaßnahmen auf deutschem Boden um eine Gesamtaktion der freien Völker handelt, an deren Durchführung alle freien Völker interessiert sind, weil sie auch ihrem Schutzbedürfnis entsprechen. Daraus muß die Konsequenz gezogen werden, daß die finanzielle Sicherstellung dieser Schutzmaßnahmen auf deutschem Boden unter dem anteiligen Einsatz aller erfolgt.
Schließlich ergibt sich eine besonders starke Vorbelastung der Bundesrepublik daraus, daß die Maßnahmen, die die Alliierten im Zuge einer völlig verfehlten Politik auf Grund des Morgenthauplanes in den Jahren 1944/45 mit der Sowjetunion verabredet haben, gerade uns in so außerordentlich starkem Maße mit sozialen Verpflichtungen belastet haben. Die Erfüllung dieser sozialen Verpflichtungen gegenüber 7,5 Millionen Heimatvertriebenen und gegenüber den 1,5 Millionen Ostzonenflüchtlingen, den Opfern der verfehlten Jalta- und Teheranpolitik der Alliierten aus einer Zeit, als sie bemüht waren, ihren guten Freund Churchill zu einem guten Demokraten und Pazifisten anglo-amerikanischer Herkunft zu machen, muß uns heute zu unserer finanziellen Entlastung gutgebracht werden.