Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der von dem Herrn Finanzminister gestern mit tiefem Ernst vorgetragene Bericht zur Begründung seiner Vorlage hat uns die ganze Problematik und die ganzen moralischen Pflichten und Sorgen, die uns auferlegt sind, schlagartig erhellt, und es ist schon so, wenn auch aus dem Munde des Herrn Kollegen Schoettle so ganz per Zufall, ohne sein Wollen das Wort „Genosse" gefallen ist.
— Gat! Und trotzdem, Herr Kollege Schoettle: Ich greife das Wort auf. Ich glaube, es ist in dem Sinne gemeint - und dazu können wir uns alle auf Grund der Ausführungen, die Sie, Herr Schoettle, gemacht haben, ohne parteipolitische Unterschiede verstehen —: Genossen im Sinne einer echten Genossenschaft in dieser nationalen Not.
— Ja, ich weiß nicht, was Sie darunter verstehen! Jeder begreift den Geist, den er versteht.
Aus den Ausführungen und aus der Vorlage des Herrn Bundesfinanzministers ergeben sich, wenn man sie einmal analysiert, vier wichtige Positionen, uns das Verhältnis unserer Wirtschaftspolitik insbesondere zur Sozialpolitik klarlegen: die Besatzungskosten mit 4,6 Milliarden — 36% des Gesamtetats machen sie aus —, dazu die Sozialaufwendungen und Kriegsfolgelasten mit 5,2 Milliarden — das sind etwas über 40% an Aufwendungen und Lasten, die wir übernehmen müssen und die für uns unabänderlich sind, die vor allen Dingen hinsichtlich des Sozialaufwandes und der Kriegsfolgelasten wirklich keine Luxusausgaben sind und auch nicht so aufgefaßt werden; sie zusammen machen mit den Ausgaben für die staatliche Verwaltung 80 % des gesamten Etats aus, so daß uns für den Wiederaufbau einschließlich der BerlinHilfe — und das in Anbetracht der katastrophalen Lage, in der sich die deutsche Wirtschaft und das deutsche Staatsleben befinden — nur 20% zur Verfügung stehen, nämlich 2,8 Milliarden.
Und wie, meine Damen und Herren, müßte es in Wirklichkeit aussehen? Müßten wir nicht, um eine gesunde Sozialpolitik zu treiben, in erster Linie den wirtschaftlichen Aufbau mit allen Mitteln und viel größeren Mitteln, als uns zur Verfügung stehen, vorantreiben, um eben eine gesunde Sozialpolitik treiben zu können, eine Sozialpolitik, die nicht den Selbsthilfewillen im deutschen Volke unterdrückt, sondern im Gegenteil ihn noch fördert?
Das Problem ist für meine politischen Freunde nicht die Frage von Preisen und Löhnen in erster Linie, sondern die Wiedereingliederung aller der Menschen, die durch den Krieg und die Kriegsfolgen aus ihrer sozialen Position herausgeworfen wurden. Es ist das Problem einer produktiven Sozialpolitik. Unter produktiver Sozialpolitik verstehen wir eine gute Wirtschaftspolitik. Das heißt: wir lehnen eine konsumtive Verrentung als Staatsgrundsatz ab. Nur durch die Schaffung von Arbeitsplätzen und damit durch die Vergrößerung des Sozialprodukts sind wir in der Lage, den Lebensstandard der Massen zu heben und alle diejenigen einzugliedern, deren Arbeitskraft infolge der Kriegszerstörungen freigesetzt worden ist. Durch die Belebung des Produktionsprozesses erreichen wir eine Erhöhung des Steueraufkommens und ermöglichen damit eine menschenwürdige Versorgung aller derjenigen, die aus eigener Kraft nicht in der Lage sind — ich betone: die nicht in der Lage sind —, ein menschenwürdiges Dasein zu führen.
Es handelt sich hierbei um eine Frage von vitaler Bedeutung für die Bundesrepublik, und wir warnen davor, bei der Lösung dieser Frage den Fehler zu begehen, die Dinge von der Einseitigkeit der verschiedensten Interessentenstandpunkte aus zu sehen. Eine solche Einseitigkeit von Interessentenverbänden aller Art, auf allen Seiten der deutschen Wirtschaft würde zu einer Politik führen, bei der man je nach dem Gewicht dieser Interessentenverbände das eine oder andere Loch zustopft und damit Mittel raubt, die den anderen, schwächeren Teilen gerechtermaßen zukommen müßten. Dabei sollte man auch nicht übersehen, daß jede Lohnerhöhung und jede Preiserhöhung eine Minderung der Kaufkraft der Rentenempfänger bedeutet.
Die Wirtschaftspolitik der Gewerkschaften scheint diesen Gesichtspunkt bei ihren ständigen Forderungen auf Lohnerhöhung bei der geringsten temporären Preiserhöhung außer acht gelassen zu haben. Wir sind uns bewußt, daß die Aufgaben der produktiven Sozialpolitik nicht allein aus den Kräften des dafür viel zu kleinen Wirtschaftsraumes der Bundesrepublik bewältigt werden können. Eine wirkliche Lösung der Sozialprobleme dieses Jahrhunderts — d. h. eine gerecht verteilte Erhöhung des Lebensstandards - kann nur in einem größeren Wirtschaftsraum erreicht werden.
Ehe wir uns über die Verteilung des Sozialprodukts unterhalten — und das ist heute auch wieder hier zum Ausdruck gekommen —, sie kann nicht im Vordergrund stehen —, geht jedoch primär die Erhöhung des Sozialproduktes voraus, und wir sehen in dieser Hinsicht einen Vorteil in der Verwirklichung des Schuman-Plans. Hier wird der Versuch unternommen, eine solche Vergrößerung des Sozialproduktes durch eine Vergrößerung des Wirtschaftsraums zu erzielen. Vorgestern erst ist in diesem Hohen Hause der Verdacht geäußert worden, daß der Schuman-Plan auf Kosten des Reallohns der Arbeitnehmerschaft gehen werde. Diese Behauptung ist nach allen Unterlagen, die uns zur Verfügung stehen, durch nichts gerechtfertigt, man müßte denn dem Schuman-Plan unterstellen, daß durch ihn eine Art Interessentenanteil — Kartell wollen wir es mal nennen — auf dem Rücken Deutschlands geschaffen werden soll. Eine solche Annahme ist aber bei einer vernünftigen Würdigung des bisherigen Verhandlungsergebnisses wirklich nicht begründet. Es werden hier in einer fast frivolen Weise Ressentiments und Vorurteile mobilisiert, die letzthin darauf abzielen, den Plan nicht zustandekommen zu lassen aus gewissen ideologischen Erwägungen. Das bedeutet aber die Vernichtung des ersten Ansatzpunktes für die Organisation eines größeren Wirtschaftsraumes, die, wie
gesagt, allein die Voraussetzung bietet, die sozialpolitischen Probleme in einer großzügigeren Weise anfassen und lösen zu können. Wenn man die Zusammenhänge überblickt, so ergibt sich, daß die grundsätzlichen Ausgangspunkte der Problematik im ideologischen Bereich liegen. Sie hängen aufs engste zusammen mit dem weltweiten Gegensatz zwischen Ost und West allerdings, und dieser Gegensatz ist die grundsätzliche Hypothek, die auf allem liegt, und eine Hypothek, mit der auch diese Bundesregierung in dieser oder jener Weise fertigwerden muß.
Wir brauchen den gesicherten Frieden, um eine Ordnung zu gewährleisten, die die grundsätzliche Voraussetzung für das Anfassen der wirtschaftlichen und sozialen Fragen bietet. Daher sind alle Bemühungen auf die Sicherung des Friedens zu richten. Die Sicherung des Friedens ist die Forderung Nummer eins.
Meine Damen und Herren! Die Bearbeitung der Einzelheiten dieser Vorlage der Regierung, die einen Aktenstapel von mehr als zehn Zentimeter Höhe darstellt, in zwei mal vierundzwanzig Stunden ist nicht möglich. Ich erlaube mir aber, den Herrn Finanzminister auf eine Möglichkeit hinzuweisen und bei der angestrengten Suche nach neuen Einnahmequellen sein Augenmerk darauf zu richten, wie es meine politischen Freunde bereits vor kurzer Zeit angeregt haben: Die erfolgreiche Bekämpfung der Schwarzarbeit.
Statistisch ist nachgewiesen, daß im Durchschnitt des Jahres 1949 1,2 Milliarden D-Mark für Schwarzarbeiten aufgewendet worden sind. Das bedeutet, in Arbeitsplätze umgerechnet, Arbeitsplätze für 250 000 Arbeitskräfte, mithin bei einem durchschnittlichen Jahresverdienst von 5000 Mark einen Steuerausfall von zirka 125 bis 126 Millionen D-Mark.
Wenn man dazu ungefähr überschlägt, welche korrespondierende Summe bezüglich der Sozialbeiträge dazugehört, die unseren Rententrägern zur Verfügung gestellt werden könnte, wenn man weiter berücksichtigt, was bei erfolgreicher Bekämpfung der Schwarzarbeit dann an Arbeitslosenunterstützung eingespart werden kann, dann ergibt sich, daß das Beträge sind, die erheblich zu Buche schlagen.
Meine Damen und Herren, es hat sich in den letzten Monaten etwas vollzogen, was außer dem Ost-West-Konflikt die Arbeiten und die guten Ansätze zu einer Gesundung der deutschen Wirtschaftspolitik sehr gefährdet; das, was man auch unter dem Stichwort Liberalisierung zusammenfassen kann. Weiß Gott, die deutsche Bundesrepublik hat im weitesten Maße bis an die Grenze des Verantwortlichen auf diesem Gebiet vorgeleistet, in einem Maße, wie man es nie erwarten konnte. Jetzt haben wir, nachdem wir der Welt bewiesen haben, daß wir guten Willens sind, zahlungsbilanzmäßige Schwierigkeiten, und diese Schwierigkeiten — das muß sich die deutsche Öffentlichkeit auch vor Augen halten — beweisen nicht einen Mißerfolg der deutschen Bundesrepublik, sondern liegen in der Verantwortung nicht zuletzt der Alliierten; denn die Europäische Zahlungsunion hat uns in eine ganz gefährliche Zwangsjacke von vornherein hineingepreßt. Man hat der deutschen Wirtschaft ein Kreditvolumen von 320 Millionen Dollar zugemessen, bei einer Einwohnerzahl von ungefähr 45 Millionen Menschen. Was diese Zahl bedeutet und welche gefährliche Zwangsjacke sie darstellt, ergibt sich, wenn man vergleichsweise den Kreditplafond für Frankreich berücksichtigt. Für Frankreich, dessen Einwohnerzahl nicht größer ist, eher geringer, sind 520 Millionen Dollar vorgesehen und für die weit, weitaus niedrigere Bevölkerungsziffer der Niederlande, für diese Wirtschaft Hollands, 330 Millionen Dollar. Schon aus diesem äußerlichen Anzeichen ist ersichtlich, in welch gefährliche Situation man uns von außen her hineingepreßt hat. Diese Situation scheint mir noch bedeutend prekärer zu werden in allernächster Zeit, und zwar dadurch, daß wir jetzt auf dem Weltmarkt Rohstoffeinkäufe zu weit erhöhten Preisen tätigen müssen, den Export der daraus hergestellten Fertigwaren aber vertragsgemäß zu den bisherigen alten Preisen. Das führt zu einer weiteren Verengung und Verschlechterung unserer Devisenlage.
An dem Beispiel Kautschuk läßt sich unsere Lage auf dem Exportgebiet am besten charakterisieren. Die gleiche Monatsmenge Kautschuk, für die wir bislang 4,6 Millionen Dollar aufzuwenden hatten, muß heute mit 16 Millionen Dollar bezahlt werden. So können wir wohl damit rechnen — und es ist nicht zu schwarz gemalt —, daß wir in Zukunft monatlich ein Defizit von 70 Millionen Dollar praeter propter haben werden. Man ist sich im Lager der Hohen Alliierten über diese unverschuldete prekäre Lage der deutschen Wirtschaft gar nicht im unklaren. Das erhellt daraus, daß man uns einen kurzfristigen Kredit von 120 Millionen Dollar anbieten will, aber unter der Bedingung der konsequenten Beibehaltung der Liberalisierung. Wir sollen also von einer Zwangsjacke in die andere gebracht werden. Hier scheint es uns Aufgabe der deutschen Wirtschaftspolitik zu sein, alles zu versuchen, um weitere Knebelungen zu verhindern.
Mein Kollege Wellhausen hat sich bereits in anerkennnenswerter Weise über die Verknappung der Rohstoffe ausgelassen, insbesondere über die unseres wichtigsten Rohstoffs Kohle. Ich schließe mich seinen Ausführungen bezüglich der Forderungen zugunsten der Besserstellung der Bergarbeiter in vollem Umfange an. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir 1950 nur eine Förderquote von 1,4 t haben gegenüber einer solchen von 2,1 t im Jahre 1936. Das ist so zu begründen, wie mein Kollege Wellhausen das bereits aufgezeigt hat. Die Auswirkungen der Kohlenknappheit sind erheblich und wurden auch mir gestern und werden heute wieder in verstärktem Maße aus meinem Heimatlande Niedersachsen gemeldet. Warum man dann noch ausländischerseits absolut einen Kohlenexport von uns verlangt, obwohl in keinem Lande Europas auch nur so etwas wie eine Kohlennot besteht, ist schlechterdings nicht verständlich und scheint uns in die heutige politische Landschaft nicht hineinzupassen.
Die Beseitigung der Engpässe, meine Damen und Herren, ist das, was uns weitere Sorge macht. In bezug auf die Erhöhung der Stahlkapazität hat meine Fraktion mit besonderem Interesse die Pläne des Herrn Bundeswirtschaftsministers verfolgt, die er neuerdings unter dem Titel „Engpaßprogramm" zusammengefaßt hat und die zum Ziele haben, diejenigen wirtschaftlichen Objekte zu fördern, die, wie gesagt, einen Engpaß darstellen: die Eisen-, Stahl- und Kohlewirtschaft. die Waggon- und Lokomotivindustrie sowie den Seeschiffbau.
Mit Befremden und mit Bedauern stellen wir aber fest, daß Landwirtschaft und Flüchtlingsbetriebe nach unseren Informationen und nach den Ausführungen des Bundeswirtschaftsministers nicht mehr berücksichtigt werden können. Der Bundesregierung ist doch jedenfalls bekannt, daß der Konjunkturanstieg, den wir im Gebiet von Rhein, Main und Neckar haben, der zweifellos — wir erkennen das neidlos und mit Bewunderung an — zu einer Gesundung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse geführt hat, bezüglich der östlichen Teile des Bundesgebietes, derjenigen Gebiete, die an der Grenze der sowjetischen Satellitenstaaten liegen, bei weitem nicht in dieser Höhe zu verzeichnen ist. Wir fragen uns jetzt: was soll geschehen, wenn auch dieses neue Programm der Wirtschaftsförderung sich in erster Linie nur auf die westlichen Gebiete der Bundesrepublik auswirkt?
Dabei gibt es in den Gebieten Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hessen und Bayern komplexe Arbeitsmöglichkeiten von eminenter Bedeutung. Wie sehr die Lage gegenüber der der westlichen Gebiete der Bundesrepublik unterschiedlich ist, darf ich Ihnen an einigen wenigen, aber einleuchtenden Zahlen demonstrieren. Die Arbeitslosigkeit hat im Bundesgebiet im März dieses Jahres rund 14 % betragen. Sie beträgt zur Zeit noch nicht einmal 9 % als Durchschnitt des Bundesgebietes. Die Arbeitslosigkeit in Schleswig-Holstein beträgt aber heute noch 27,5 %, in Niedersachsen 16,3 % und in Bayern nahezu 12 %. Die Arbeitslosenziffern von Nordrhein-Westfalen, von Württemberg-Baden und Baden liegen dabei weit, weit unter dem Bundesdurchschnitt. Ich glaube, daß diese wenigen Zahlen genügen, um im Rahmen dieser Ausführungen der Bundesregierung und der deutschen Öffentlichkeit mit allem Ernst vor Augen zu führen, in welcher prekären Lage wir uns in den Gebieten entlang des Eisernen Vorhanges befinden. Ich glaube nicht, daß der Herr Bundeswirtschaftsminister verlangen kann, daß wir Hände im Schoß zusehen, wie weiterhin die Konjunkturkurve in diesen Gebieten stark abfallend bleibt.
Ich erinnere den Herrn Bundeswirtschaftsminister und auch die gesamte Bundesregierung mit allem Nachdruck noch einmal an Watenstedt-Salzgitter. Ich weiß: die ehemaligen Reichswerke haben als produktiver Betrieb, als eisen- und stahlerzeugender und eisenverarbeitender Betrieb keinen einzigen Freund in der Bundesrepublik und sie haben ihren schärfsten Gegner in der britischen Besatzungsmacht. Um so mehr ist es für meine Freunde und mich Verpflichtung gewesen, uns für Watenstedt-Salzgitter und seine um jede Existenzmöglichkeit bedrohten Menschen zu kümmern. Wir sind nicht des Glaubens, daß die bisher für dieses Notstandsgebiet vorgesehenen Kreditvolumen, diese finanziellen Maßnahmen, die so eine Art Selterbudenwirtschaft in diesen Gebieten aufziehen sollen, ausreichend sind, um auf die Dauer eine soziale Befriedung in diesem Gebiet herbeizuführen. Wir werden uns erlauben, noch in diesen Tagen der Bundesregierung in dieser Hinsicht mit einer parlamentarischen Initiative aufzuwarten.
Meine Damen und Herren! Wir haben auch mit großer Befriedigung festgestellt, daß der Herr Bundesfinanzminister die Berechtigung hatte, von einem harmonischen und erfolgreichen Zusammenarbeiten zwischen Bund und Ländern zu sprechen. Das ist sehr wichtig für diesen jungen Staat und in Anbetracht seiner föderalen Verfassung. Ich weiß aber auch, daß an der Herstellung dieses gesunden Klimas, das zwischen Bund und Ländern besteht und hoffentlich auch weiterhin bestehen wird, das Ministerium für Angelegenheiten des Bundesrats seinen erheblichen Anteil hat.
Ich muß unsere Auffassung und unsere Wünsche zu der eigentlichen Sozialpolitik hier kurz formulieren. Wir begrüßen die endliche Verabschiedung des Selbstverwaltungsgesetzes und die Mehrheitsentschließung des Bundestages und des Bundesrats für die Parität in der Selbstverwaltung der Sozialversicherung und glauben, daß damit eine neue Ära der Verantwortung eingeleitet werden wird und daß dies gleichzeitig dazu beiträgt, die sozialen Versicherungen in echter Selbstverwaltung zu entpolitisieren und damit Arbeitnehmer und Arbeitgeber für ihre Fortentwicklung und sichere Gestaltung nicht nur zu interessieren, sondern auch verantwortlich zu machen.
Wir haben mit Erstaunen die Auffassung der Opposition gehört, daß die Sozialgesetzgebung des Bundes etwa das Niveau von 1883 verteidigen wolle. Es ist schon notwendig, festzustellen, daß die Sozialdemokraten, die seinerzeit gegen die Bismarcksche Sozialgesetzgebung gestimmt haben,
die Auffassung vertreten, daß die Zusammensetzung der Organe etwa so aussehen müsse, wie es 1883 und in den folgenden Jahren beschlossen worden ist.
Abg. Schoettle: Das haben Sie nicht verstanden, Herr Kollege!)
— Ich glaube doch, Herr Schoettle.
— Das ist eine sehr eigenwillige Behauptung, Herr Schoettle. - Wir glauben, daß die Bedürfnisse unserer Epoche andere sind als die der Jahrhundertwende, und wir meinen auch, daß sie nur gelöst werden können auf der Grundlage einer gesunden Wirtschaftspolitik und mit einer echten sozialen Verantwortung aller in der Wirtschaft Tätigen.
Was die umstrittene Frage der Wiedererrichtung von Betriebs- und Innungskrankenkassen, von Land- und Ersatzkassen angeht, so glauben wir, daß gerade die Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse der Berufsgruppen nicht nur die beste Grundlage einer echt sozialen Zusammengehörigkeit und für ein natürliches Selbstbestimmungsrecht und Mitbestimmungsrecht gibt. Wir glauben, daß sie darüber hinaus auch in weiten Schichten unseres Volkes ein echtes Bewußtsein für die Selbstverantwortung wecken wird, die wiederum die beste Grundlage jeder guten Sozialpolitik ist. Selbstverantwortung und Selbsthilfe sind die beiden Kernforderungen, die wir mit großen Lettern über die gesamte Sozialgesetzgebung des Bundes schreiben möchten, auch im Hinblick darauf, daß durch alle Gesetze, die bisher beraten wurden, wie ein roter Faden der Wille nach totaler Staatsfürsorge, nach einer absoluten Sicherung für alle geht, einer Sicherung, die es an sich nicht gibt und die nur dann zu gestalten ist, wenn jeder aus eigener Kraft und eigener Verantwortung soviel als möglich dazu tut, um den Wechselfällen des Lebens zu begegnen.
Unter Berücksichtigung unseres Sozialetats dürfen wir bei aller Anerkennung der hervorragenden Leistungen, die das Bundesversorgungsgesetz weit über die deutsche Möglichkeit hinaus gibt, nicht vergessen, daß noch eine große Anzahl Kriegs- und
Währungsgeschädigter, Alter und Kranker draußen stehen, die auf die Erfüllung ihrer Ansprüche warten. Der Antrag meiner Fraktion zur Wiedererrichtung der Angestelltenversicherung wird die Frage der Altersversorgung des Handwerks und der Angestellten ihrer eidlichen, schon längst notwendigen Lösung hoffentlich recht bald entgegenführen.
Meine Damen und Herren, meine Redezeit scheint in kurzem abgelaufen zu sein. Bedauerlicherweise kann ich mich über diese unsere Wünsche und Kritiken nicht mehr länger auslassen. Wir fordern aber, daß bei allen Maßnahmen der Sozialpolitik da eine Grenze gezogen wird, wo die Möglichkeit der Hilfe aus eigener Kraft noch besteht, und daß die Fürsorge dort einsetzt, wo diese Möglichkeit nicht mehr gegeben ist.
Nun noch ein Wort zu Berlin. Wir haben die Verwaltungsvereinbarung mit Berlin ebenfalls begrüßt und wünschen nichts mehr, als daß Berlin schnellstens zwölftes Land wird. Wir glauben auch, daß Berlin selbst mehr dazu tun könnte, eine echte Anpassung an das Bundesgebiet vorzunehmen, um allen seinen Bürgern die soziale Sicherstellung nach der Rechtsgrundlage zu gewähren, die bei uns durch die Reichsversicherungsordnung geschaffen ist. Wir hoffen, daß es recht bald möglich ist, eine echte Anpassung in Berlin durchzuführen, um auch den Berlinern die Leistungen der Rentenversicherung zu ermöglichen und vom Bedürftigkeitsprinzip und der damit verbundenen Bedürftigkeitsprüfung abzukommen. Wir fordern also im großen und ganzen die Beseitigung des Berliner Experiments der Einheitsversicherung und die echte Anpassung an die Gesetzgebung des Bundes. Wir freuen uns sehr, daß das Bundesversorgungsgesetz auch für Berlin gilt und daß es auf Antrag unserer Fraktion gelungen ist, auch die Opfer des Stalinismus mit in dieses Gesetz einzubeziehen und erstmalig einen guten Weg der Wiedergutmachung zu beschreiten.
Meine Damen und Herren! Es ist schon immer ein großes Anliegen meiner politischen Freunde gewesen, gerade im Zusammenhang mit der Sozialpolitik die Stelle zu sehen, wo Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik sehr, sehr ineinandergreifen. Das ist nicht zuletzt in der Agrarpolitik der Fall, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der Unterbewertung der landwirtschaftlichen Arbeit sieht. Die Preise für die Agrarwirtschaft sind ausgesprochen politische Preise mit dem Erfolg, daß die Landwirtschaft die übrige deutsche Wirtschaft in großem Umfang subventioniert.
Ich möchte hier noch einen dringenden Wunsch meiner politischen Freunde aussprechen, den wir heute nicht zum ersten Male äußern. Es scheint so, als habe man in der Bundesregierung nur sehr wenig Verständnis für die Notlage und .die Bedeutung eines für uns an der Küste, in Schleswig-Holstein und Niedersachsen, ganz bedeutenden Wirtschaftszweiges, nämlich der Fischwirtschaft und der Fischindustrie. Es ist kaum zu glauben, daß in unserem Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten für dieses Gebiet nur ein einziges kleines Referat, mit drei Leuten besetzt, vorgesehen ist.
Ich erinnere die Bundesregierung und insbesondere den Herrn Landwirtschaftsminister daran, wie die Verhältnisse in England, in Norwegen, in Dänemark, in Island, in Holland und in den USA sind. Dort hat man eine eigene Abteilung Fischerei und
nennt das ganze Ministerium Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Fischerei. Wie wollen wir die Nöte dieser Industrie vertreten und ihre Bedeutung gegenüber dem Auslande hervorheben, denn wir werden gerade in nächster Zeit erhebliche Kämpfe für dieses Wirtschaftsgebiet zu führen haben, wenn wir nicht von uns aus das nötige Optische dazu tun, nämlich nach außen hin zu zeigen, was uns dieser Wirtschaftszweig wert ist?
Die Folgen der Liberalisierung sind für die Landwirtschaft bis vor ganz kurzer Zeit noch sehr nachteilig gewesen. Ich erinnere nur an den Obst-
und Gemüsebau und bitte die Bundesregierung, sie möge ihre Aufmerksamkeit darauf richten, ob man nicht dem hart bedrängten deutschen Gemüsebau dadurch helfen kann, daß man ihm die Möglichkeit gibt, auf den Rübenbau umzuwechseln. Es gibt Preismanipulationen, die zu diesem Ziele führen könnten. Dazu gehört natürlich auch der Bau von Zuckerfabriken.
Meine Damen und Herren, meine Redezeit ist abgelaufen; ich betone nur noch einmal eins: Wir stellen mit großer Genugtuung fest, daß diese Regierung eine Regierung ist, die nicht einer Ideologie verhaftet ist und keiner Dogmatik, sondern daß sie Politik treibt nach den Realitäten und nach den Gesetzen des Lebens.
Ein großer Deutscher hat einmal gesagt, es sei uns Deutschen allzu häufig im Laufe der Geschichte der Fehler unterlaufen, uns vor den Sorgen und Nöten des täglichen Lebens in irgendeine Idee zu retten, um von dieser Idee das Heil und die Heilung zu erwarten. Wir stellen dieser Regierung das Zeugnis aus, daß in ihr keine Rezeptemacher sind, daß sie keiner Dogmatik huldigt, sondern daß sie das Leben so anpackt, wie es angepackt werden muß — nach seinen Gesetzen. Die Prinzipien der Vollbeschäftigung, des Mitbestimmungsrechts, das Prinzip der Planung und der Restauration, es sind Ausflüsse einer einseitigen Ideologie. Ich bestätige dem Herrn Abgeordneten Schoettle sehr wohl die Wahrheit seines Satzes: Wir werden immer hart — und werden es in den nächsten Jahren noch tun — am Abgrund entlang fahren. Ich frage aber auch, meine Kollegen, ob es möglich ist, den Absturz in den Abgrund zu vermeiden, wenn man sich dem statischen Moment einer Idee, einem Rezept verschreibt statt dem dynamischen der Realitäten.