Rede von
Ernst
Paul
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Fraktion beantragt die Neufassung des § 1 des Entwurfes. Wir stellen diesen Antrag, weil wir der Meinung sind, daß die Jugendlichen den Schutz des Gesetzes nicht nur dann genießen sollen, wenn es dunkel ist, sondern zu jeder Tageszeit. Wir sind ferner der Meinung, daß der Begriff „Herumtreiben" nicht so zu definieren ist, daß es keine Mißstände und Übelstände bei der Kontrolle geben wird. Jeder, der sich mit Fragen der Jugendpsychologie beschäftigt hat, weiß, daß junge Menschen
vom 12. bis 16. Lebensjahr im sogenannten Hordenzeitalter leben, und zu diesem Zustand gehört geradezu das Sichzusammenfinden zu kleinen Gruppen, so daß man, wenn man ein Gesetz bösartig auslegen will, auch das als Herumtreiben bezeichnen kann. Überhaupt ist es zu beachten, daß die jungen Menschen von heute ja unter außerordentlich großen Schwierigkeiten zu leben haben.
Die Wohnungsnot ist so kraß, daß der junge Mensch kein gemütliches, angenehmes Heim hat, in dein er sich in den Abendstunden aufhalten kann. Wir haben nicht genügend Jugendheime, wir haben nicht genügend Räume für den Sport, vor allem nicht in den Wintermonaten. Es fehlen soviele Dinge, die notwendig wären, um der Jugend Gelegenheit zu geben, sich in angenehmer und moralisch nützlicher Umgebung aufzuhalten. Es bleibt daher einem großen Teil der Jugend — auch der moralisch gefestigten Jugend — oft nichts anderes übrig, als auf die Straße zu gehen.
Wenn wir dieses Gesetz beschließen, das in § 1 die Bestimmung enthält, daß Jugendliche unter 16 Jahren sich während der Dunkelheit nicht herumtreiben dürfen, so müssen wir gleichzeitig die Frage beantworten, was ein junger Mensch während der Wintermonate, wo die Dunkelheit um 5 Uhr nachmittags anbricht, tun soil. Soll ein 151 jähriges Mädchen nicht mehr in der Lage sein, mit ihrer Freundin einen Schaufensterbummel zu machen? Ja, das sind Fragen, über die wir uns klar werden müssen. Wenn wir eine solche Bestimmung in das Gesetz aufnehmen, müssen wir damit rechnen, daß es vom ersten Tag des Bestehens an übertreten wird. Ein Gesetz, das übertreten wird, das geradezu übertreten werden muß, ist in der Anlage unrichtig. Dann muß entweder der Gesetzgeber die Konsequenz ziehen und anerkennen, daß er einen gesetzgeberischen Akt beschlossen hat, der nicht eingehalten werden kann, oder wir müßten einen Fürsorge- oder Polizeiapparat entfalten, den wir uns heute einfach nicht leisten können, weder materiell noch aus sachlichen Erwägungen.
Wir werden auch bei den übrigen Paragraphen dieses Gesetzes immer wieder den Hinweis machen müssen, daß es in dieser hier vorgesehenen Fassung nicht eingehalten werden kann. Aus diesem Grunde ist es abzuändern.