Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Die SPD-Fraktion hatte bereits in der Drucksache Nr. 1330 einen Antrag gestellt, der die gleiche Materie behandelte. Wir haben dies deshalb getan, damit die Frage der
Neuerrichtung von Krankenkassen nicht in dem Gesetz über die Wiederherstellung der Selbstverwaltung geregelt werden sollte, mit dem sie in keinem Zusammenhang steht. Im Interesse der ohne Zweifel allseitig anerkannten Reform der Sozialversicherung hätten wir es für richtiger gehalten, wenn auch mit diesem Teil gewartet worden wäre, bis das Organisationsgesetz über die Sozialversicherung vorliegt. Wie ein Vertreter des Bundesarbeitsministeriums in einer der letzten Sitzungen des Ausschusses für Arbeit erklärte, soll dieses Organisationsgesetz in Kürze vorgelegt werden. Trotzdem wollen Sie hier die mit der Organisation zusammenhängende Frage der Gründung neuer Kassen vorwegnehmen.
- Jawohl, Herr Abgeordneter, es sind Fragen, die in die Organisation hineingehören.
In diesem Zusammenhang darf ich an die Ausführungen des Herrn Kollegen Sabel erinnern, als er in der Bundestagssitzung vom 21. September zu dem von meiner Fraktion eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Änderung von Bestimmungen in dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung sprach und die Frage stellte: Ist es zweckmäßig, vor der Behandlung der Reformvorschläge des Bundesarbeitsministeriums nun hier stückweise Flickarbeit zu leisten? Ich bin der Auffassung, daß eine solche Frage wegen des § 14 in dem heute zur Beratung stehenden Gesetz mit viel größerer Berechtigung gestellt werden müßte. Denn ob die Entscheidung über die Gründung neuer Kassen jetzt oder später fällt, das bringt weder den Versicherten noch den Arbeitgebern irgendeinen Schaden. Dagegen kann und darf es uns allen ganz bestimmt nicht gleichgültig sein, ob wir unsere Jugend, die wir für den demokratischen Gedanken und Aufbau gewinnen wollen, noch länger zum Wohlfahrtsamt schicken müssen, weil die Wiedereinführung der Versicherungspflicht der Lehrlinge zur Arbeitslosenversicherung im letzten Lehrjahr, wie es unser Antrag vorsah, noch immer nicht wieder hergestellt ist.
Eines muß hier mit aller Deutlichkeit gesagt werden. Wenn die Zulassung von weiteren Trägern von Krankenkassen, von Zwergbetriebs-
und Innungskrankenkassen, wie in dem Gesetz vorgesehen, beschlossen würde, so würde ,das eine Zersplitterung des Krankenkassenwesens und der gesamten Sozialversicherung bedeuten. Die Auswirkungen wären jetzt noch gar nicht absehbar, und zwar nicht nur für die Krankenkassen allein. Auch die Erhaltung der Volksgesundheit und der Arbeitskraft würde ernstlichen Schaden erleiden, weil Leistungsminderungen durch die ungünstige Verteilung der Risiken und Leistungen die Folge wären. Bei den Ortskrankenkassen reichen die verfügbaren Betriebsmittel nach meinen Informationen — das braucht gar nicht als Geheimnis behandelt zu werden - zur Zeit nur für 20 Tage aus, was durch die ungewöhnliche Höhe der Beitragsrückstände, wie es mein Parteifreund Richter heute schon angedeutet hat, mit verursacht worden ist. Das Bild würde sich wesentlich verschlechtern, wenn der § 14 des vorliegenden Entwurfs Gesetz würde.
Diese Folgen und Gefahren wurden auch vom Länderrat des Vereinigten Wirtschaftsgebiets ganz richtig gesehen. In seiner 17. Öffentlichen Sitzung vom 8. Juli vorigen Jahres wurde zu dem Gesetz des Wirtschaftsrats über die Wiedererrichtung von Land-, Betriebs- und Innungskrankenkassen sowie Ersatzkassen mit überwältigender Mehrheit, nämlich mit 7 zu 2 Stimmen, ein Veto eingelegt mit der Begründung, daß die Annahme dieses Gesetzes zu einer Zersplitterung im Krankenkassenwesen führen würde. Deshalb müsse das Gesetz abgelehnt werden. Die Bildung von Krankenkassen, die einen möglichst weiten Kreis von Mitgliedern verschiedenster Berufe und Altersklassen umfassen, dient mit dem Ausgleich der Risiken und der allgemeinen Leistungsfähigkeit der Krankenkassen. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher und finanzieller Anspannung, so heißt es in dem Gutachten weiter, müsse eine möglichst hohe Leistungsfähigkeit der Krankenkassen oberstes Gesetz sein.
Ich bin also grundsätzlich der Auffassung, daß die im vorliegenden Entwurf beantragte Zulassung von weiteren Krankenkassen nicht im wohlverstandenen Interesse aller Versicherten liegt, daß vielmehr die Vereinheitlichung der Krankenkassen nach wie vor angestrebt werden sollte. Sozialer Ausgleich und soziale Sicherung erfordern eine Zusammenfassung aller Kräfte, damit mit dem geringsten Aufwand ein höchstmöglicher Gesundheitszustand für alle Versicherten gewährleistet wird.
Da aber nun im Ausschuß für Sozialpolitik die Vertreter der Regierungsparteien gegen unseren Willen beschlossen haben, den § 14 in dem vorliegenden Gesetzentwurf über die Wiederherstellung der Selbstverwaltung aufzunehmen, hat meine Fraktion mit der Ihnen heute vorliegenden Änderung einen dahingehenden Antrag eingereicht. Er behandelt die gleiche Materie wie unser Antrag auf Drucksache Nr. 1330. Lassen Sie mich zur Begründung nur einige wesentliche Gesichtspunkte herausstellen und daran, meine Herren und Damen, die Bitte knüpfen, daß Sie und auch Sie, Herr Bundesminister für Arbeit, die von uns angestellten Erwägungen sehr eingehend und ernsthaft prüfen mögen.
Durch die von uns vorgeschlagene Neufassung des § 225 a Abs. 1 RVO wollen wir sicherstellen, daß Krankenkassen nur mit Zustimmung der Mehrheit der Versicherungspflichtigen und Arbeitgeber innerhalb eines Versicherungsbezirks errichtet werden dürfen. Die Entscheidung erfolgt nach demokratischen Grundsätzen in geheimer Abstimmung. Wenn für einen Träger der Sozialversicherung Versichertenälteste gewählt sind, so stimmen diese an Stelle der Versicherten ab. Es soll also die Mehrheit der gesamten Versicherungsgemeinschaft eines Bezirkes maßgebend sein.
In Abs. 2 beantragen wir die Änderung des § 245 Abs. 1 RVO. Die dort zur Errichtung einer Betriebskrankenkasse vorgeschriebene Zahl von 150 Versicherungspflichtigen ist auf 1000 zu erhöhen und die für landwirtschaftliche oder Binnenschiffahrts-Betriebskrankenkassen in Betracht kommende Zahl von 50 auf 500.
Das gleiche gilt entsprechend für § 250 Abs. 1 RVO, der die Innungskrankenkassen betrifft. Herr Kollege Arndgen hat heute in seiner Berichterstattung gesagt, daß die in den Beschlüssen des 21. Ausschusses vorgesehene Zahl von 300 Versicherten eine Bremse sei, die gewissen Gefahren entgegenwirken würde. Meine Parteifreunde und
ich können diese Meinung nicht teilen. Wir betrachten die Mindestzahl von 1000 versicherungspflichtigen Beschäftigten vielmehr als die Zahl, die für die Errichtung einer Betriebs- oder Innungskrankenkasse erforderlich ist; sie ist die Voraussetzung, um betriebsegoistische Absichten möglichst weitgehend auszuschalten und gleichzeitig eine lebensfähige Versicherungsgemeinschaft zu gewährleisten. Diese Mindestzahl entspricht auch durchaus der bisherigen Erfahrung. Sie ist übrigens auch für Orts- und Landkrankenkassen in der Reichsversicherungsordnung vorgeschrieben.
Wenn § 14 Abs. 2 des vorliegenden Gesetzentwurfes die Mindestzahl von 300 vorsieht und in der Sitzung des Bundestags vom 21. September behauptet wurde, daß dabei ein Angestellter mit der sozialen Aufgabe der Krankenkasse voll ausgelastet sei, dann muß ich dem widersprechen, wie dies auch schon in jener Sitzung von meinem Fraktionskollegen Richter und Troppenz geschehen ist. Übrigens, meine Herren und Damen, besagt ein Gutachten, das vom Sachverständigenausschuß zur Neuordnung der deutschen Sozialversicherung beim Länderrat der US-Zone verfaßt wurde und bei dem auch der damalige Ministerialrat Sauerborn, der jetzige Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium mitgewirkt hat, „daß die Betriebskrankenkassen selbstverständlich eine tragfähige Versicherungsgemeinschaft bilden müssen. Deshalb würde man das Fortbestehen von Betriebskrankenkassen mit weniger als 500 Mitgliedern nicht empfehlen können."
Nebenbei möchte ich an dieser Stelle auf den letzten Satz des § 14 Abs. 2 der Vorlage eingehen, in dem der Bundesminister für Arbeit ermächtigt wird, für einzelne Betriebe eine geringere Mindestzahl als 300 festsetzen zu können. Der § 245 Abs. 1 Satz 3 und der § 250 Abs. 1 Satz 2 letzter Halbsatz der Reichsversicherungsordnung in der Fassung des § 14 des Gesetzentwurfs verstoßen nach meiner Meinung gegen den Art. 80 Abs. 1 des Grundgesetzes. Die in den aufgeführten Stellen enthaltene Ermächtigung für den Bundesminister für Arbeit ist nämlich in ihrem Inhalt und in ihrem Ausmaß nicht bestimmt. Die Ermächtigung ist vielmehr weitgehend unbestimmt, weil die „besonderen Verhältnisse", die die Errichtung einer Betriebskrankenkasse oder einer Innungskrankenkasse angezeigt erscheinen lassen, in keiner Weise im Gesetz selbst erkennbar sind und die Festsetzung einer „geringeren Mindestzahl" als 300 wirklich alles andere als dem Ausmaß nach bestimmt erscheint.
Die von uns beantragte Mindestzahl von 1000 Versicherten muß aber auch mit Rücksicht auf diejenigen dienstordnungsmäßigen Angestellten der Ortskrankenkassen gefordert werden, die durch die künftige Errichtung von Land-, Innungs- und Betriebskrankenkassen entbehrlich werden. Nach den für alle Krankenkassen verbindlichen Richtlinien wird nämlich bis zu 1000 Versicherten eine Stelle für einen dienstordnungsmäßigen Angestellten errichtet. Wenn diese Mindestzahl durch die Errichtung neuer Krankenkassen dauernd unterschritten wird, wäre die entsprechende Anzahl dienstordnungsmäßiger Angestellter dann übrig. Falls also der Bundestag die Aufhebung des Verbots der Errichtung von Krankenkassen beschließen sollte, ist nach unserer
Auffassung eine Vorschrift in § 14 einzufügen, wonach die neuerrichteten Krankenkassen verpflichtet sind, die entbehrlich gewordenen Bediensteten von Ortskrankenkassen zu übernenmen und sich an der Mehrleistung zu beteiligen, die den Ortskrankenkassen gegenüber den Ruhegehaltsversicherungseinrichtungen entstehen.
Ich bitte Sie nunmehr namens meiner Fraktion, über den Abänderungsantrag abzustimmen. Abschließend möchte ich noch einmal an Sie, meine Herren und Damen, und insbesondere an Sie, Herr Bundesarbeitsminister, die dringende Bitte richten, bei Ihrer Entscheidung über diese Materie sich nur davon leiten zu lassen, daß die Versicherungsträger für .das Wohl der Versicherten geschaffen sind. Seien wir uns alle unserer großen Verantwortung bewußt und handeln wir nach dem menschlich gesehen einzig richtigen Grundsatz: „Der Reiche für den Armen, der Gesunde für den Kranken"!