Rede von
Alfred
Gleisner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen der Kollegin Niggemeyer waren so treffend, daß ich nur noch unterstreichen kann, was sie sagte. Gestatten Sie mir, daß ich noch etwas ergänze.
Mit Genehmigung der Militärregierung wurden in diesem Werk 15 Millionen Mark investiert. Wir hatten damals alle den Eindruck, daß es der Militärregierung sehr darauf ankam, dieses Werk der produktionsfähigproduktionsfähig zu machen. Als dann aber
das Werk wieder intakt war und man glaubte, die Produktion anlaufen lassen zu können, kam die Demontage der Anlage für die Fischer-TropsehSynthese. Trotz der auf dem Werk stattfindenden Demontage arbeitete die Werksleitung weiter und erfand ein neues Entgiftungsverfahren für die Gasproduktion. Sie wollte hiermit dem Werk und der Bevölkerung die Existenz erhalten, weil sie glaubte, daß nun für diese Ausweichproduktion, die insbesondere für die Ferngasversorgung im Ruhrgebiet von außerordentlicher Wichtigkeit ist, von der Militärregierung ein Permit ausgestellt würde.
Dieser Wunsch blieb leider unerfüllt. Die augenblickliche Situation aber sollte die Alliierten mahnen, eine zukunftsweisende Politik zu treiben und die deutschen Möglichkeiten wahrzunehmen, Gas, Paraffin-Gatsche und Lösungsmittel für die chemische Industrie in eigener Produktion herstellen zu können. Gleichwie geartete Konkurrenzbestrebungen internationaler Art werden störend empfunden und hindern den notwendigen Ausbau dieser so wichtigen Industrie.
Dies gilt nicht nur für die chemischen Werke in Bergkamen. Auch in Scholven liegt ein chemisches Werk brach, wie auch die Ruhröl G.m.b.H. nicht produzieren kann.
Die chemischen Werke in Bergkamen sind aber nicht nur ein wirtschaftliches, ein ökonomisches Problem. Die Gemeinde Bergkamen, die von diesem Werk abhängig ist, hat einen Leidensweg hinter sich gebracht, der eben schon von der Kollegin Niggemeyer treffend angedeutet wurde. Mir scheint es aber wichtig, zu sagen, daß das gar nicht alles war.
1944 verheimlichten die Nazis ein großes Grubenunglück mit 107 Toten in dieser Gemeinde. Der
Bombenkrieg forderte, eben weil dort dieses Werk lag, 509 Tote. Aus dem Krieg kehrten 280 Soldaten nicht zurück, und im Februar 1946 ließen 404 Bergknappen ihr Leben. 1200 Tote gleich 20% der Bevölkerung sind in dieser Gemeinde zu beklagen. Die Witwen setzten ihre ganze Hoffnung auf die Wiederingangsetzung des Werkes in Bergkamen. Sie wollen dort arbeiten, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Trotz der Tatsache, daß 80 % aller Wohnungen vernichtet waren, daß keine Schule, keine Kirche mehr stand, duldete es die Bevölkerung, ja, sie begrüßte es, daß mehr als eine Million Steine zum Wiederaufbau dieses Werkes verwandt wurden, während die Bevölkerung in Kellern wohnte.
Innerhalb Deutschlands wurde schwerlich ein Gemeinwesen in seiner sozialen und wirtschaftlichen Existenz so hart getroffen wie Bergkamen. Wohl nirgendwo in Deutschland gibt es eine Gemeinde mit soviel Witwen und Waisen. Man hatte geglaubt, die Militärregierung würde auf diese Dinge Rücksicht nehmen und die Witwen und Waisen würden dort eine Arbeitsstelle finden. Sie wurden enttäuscht. Nochmals ging der Name dieser Gemeinde durch alle Zeitungen, und die Tatsache, daß eine Abteilung belgischer Panzer erstmalig in Deutschland eingesetzt wurde, um die Demontage des Werkes zu schützen, dessen Erhaltung von den Frauen Bergkamens mit legalen Mitteln versucht wurde, gelangte zu einer traurigen Berühmtheit. Die Zerstörung war allen unverständlich, und mir scheint, die Entwicklung wird den Witwen von Bergkamen recht geben. Heute aber kann die Militärregierung durch ihre Hohen Kommissare erstmalig Freude bereiten, indem sie der Notwendigkeit folgt und dem Werk ein Permit auf seine Ausweichproduktion gibt. Die Bundesregierung sollte mit besonderem Nachdruck für die beiden Anträge eintreten und nicht nur für die Werke Bergkamen, sondern auch für die Chemischen Werke in Scholven und für die Ruhröl ein Permit erwirken. Ich bitte das Hohe Haus, diesem Antrag die Unterstützung nicht zu versagen.