Meine Damen und Herren! Die Vorgänge bis zur Vorlage dieses neuen Versorgungsgesetzes sind mit einer Tragödie zu vergleichen, und die Methoden, die hier in Erscheinung treten, sind bei dieser Regierung in der letzten Zeit üblich geworden. Wir haben gestern bereits über ein Gesetz beraten müssen, das dem Bundestag bzw. den Abgeordneten in der letzten Minute zugegangen ist, und bei diesem Gesetz, das uns heute vormittag zuging, haben wir von seinem Inhalt eigentlich erst durch die Presse Kenntnis erhalten.
Die kommunistische Fraktion erklärt mit aller Eindeutigkeit, daß das Gesetz in seiner jetzigen Gestalt den Anforderungen der Körperbeschädigten in keiner Form entspricht, weder nach seinem materiellen Inhalt noch nach seiner ganzen sozialen Gestaltung.
Das Tauziehen der einzelnen Ministerien um den materiellen Inhalt dieses Gesetzes zeigt deutlich den tatsächlichen politischen Inhalt der Regierungspolitik, die einmal von Herrn Dr. Adenauer als „so sozial wie möglich" apostrophiert worden ist. Für uns Kommunisten und für einen großen Teil der Körperbeschädigten war es klar, daß diese Regierung bereit ist, der besitzenden Klasse die größtmöglichen Erleichterungen zu verschaffen, die ganz zwangsläufig von den Armen und in diesem Falle von den Köperbeschädigten getragen werden müssen. Der Inhalt dieses Gesetzes stellt diese Behauptung unter Beweis. Der Bundesfinanzminister Schäffer, der bereit ist, widerspruchslos 41/2 Milliarden Mark für Besatzungskosten zu bezahlen. und der gemeinsam mit seinem Regierungschef für die Entsendung weiterer Divisionen der Besatzungsmächte dankbar ist, welche uns ebenfalls sehr viel Geld kosten werden,
wird auch bereit sein, die notwendigen Mittel für die Aufstellung eines neuen deutschen Heeres aufzubringen.
Das Gesetz, das uns heute vorliegt, verdient in keiner Form das Wort „Versorgungsgesetz". Allein die Tatsache, daß dieses Gesetz bis zum 1. April dieses Jahres versprochen worden ist und erst jetzt, Mitte September, dem Bundestag zur ersten Beratung zugeleitet worden ist, spricht dafür, daß man den Sparhebel bei den Opfern des Krieges ansetzen will. Es ist daher eine der ersten Forderungen, die die kommunistische Fraktion
erheben wird, daß dieses Gesetz rückwirkend ab 1. April, so wie es versprochen war, Geltung haben muß, damit den Körperbeschädigten wenigstens nach der materiellen Seite hin ein bescheidener Ausgleich gewährt wird.
Die größte Enttäuschung, die dieses Gesetz für den betroffenen Personenkreis in sich birgt, ist
neben der Höhe der Renten die Tatsache, daß entgegen den Bestimmungen des alten Versorgungsgesetzes eine grundsätzliche Teilung in eine sogenannte Grund- und Ausgleichsrente vorgenommen worden ist. Wenn wir diese Art der Rentengewährung und -berechnung auf ihre eigentliche Grundtendenz hin untersuchen, müssen wir feststellen, daß es sich hier um eine Verschiebung der bisher gewährten Renten handelt, nämlich in der Form, daß die Renten für Schwerbeschädigte auf Kosten der Leichtbeschädigten garantiert werden sollen. Der Grundsatz, der hier zur Anwendung kommt, muß auf das schärfste zurückgewiesen werden. Diese Tatsache wird durch die Feststellung erhärtet, daß mit der Verabschiedung dieses Gesetzes die bisher gewährten zusätzlichen Wohlfahrtsunterstützungen in Wegfall kommen und damit die angeblichen Verbesserungen eindeutig zu Lasten der Kriegsbeschädigten mit einer Erwerbsminderung von 30 bis 40% gehen.
Der Herr Bundesfinanzminister hat für das Haushaltsjahr 1950 den Bedarf für die Kriegsopferversorgung mit 2,68 Milliarden errechnet. Man versäumte allerdings, den Körperbeschädigten mitzuteilen, daß in dieser Summe von 2,68 Milliarden, die an sich als absolut unzureichend zu betrachten ist. auch noch die Verwaltungskosten in Höhe von 400 bis 500 Millionen DM enthalten sind. Bei einem den zu stellenden Anforderungen einigermaßen entsprechenden Versorgungsgesetz wird mindestens die Summe von 3,6 Milliarden Mark als notwendig erachtet, zu deren Aufbringung der Bund grundsätzlich verpflichtet ist. Nicht eine andere Verteilung der aufgewendeten Mittel verbürgt den Kriegsopfern Gerechtigkeit, sondern eine echte Erhöhung der in dem Gesetz festgelegten unzulänglichen Renten.
Sehr bedenklich und in ihrer sozialen Auswirkung noch gar nicht abzusehen ist die im Gesetz festgelegte Grundrente an alle 30- bis 40 %ig Erwerbsgeminderten, die man fälschlicherweise als Leichtbeschädigte bezeichnet und die vom Bezug der Ausgleichsrente ausgeschlossen sind. Sie erhalten eine Grundrente von 10 bis 15 Mark und sind bei unverminderter Not auch weiterhin darauf angewiesen, die öffentliche Fürsorge in Anspruch zu nehmen.
Wenn man einmal den Kreis der hiervon Betroffenen betrachtet, muß man feststellen, daß als Leichtbeschädigte im Sinne dieses Gesetzes alle gelten, denen die Finger und Zehen amputiert sind, die an Lähmungen und den verschiedensten Störungen des Nervensystems leiden, daß selbst Unterschenkelamputierte darunterfallen, die nach der Formel des „Sichdarangewöhnens" beurteilt werden. Die Zahl der davon Betroffenen beträgt ca. 45 % aller Anspruchsberechtigten. Es ist ganz selbstverständlich, daß die Anwendung dieses unsozialen Versorgungsgesetzes eine Nachuntersuchungswelle mit all ihren Begleiterscheinungen auslösen wird, die wir aus der Vergangenheit als sogenannte Rentenquetsche kennen.
Bedenklich erscheint uns in diesem Versorgungsgesetz weiter die Tatsache, daß die Krankenversorgung bei nicht versicherten Hinterbliebenen absolut unzulänglich geregelt und an den Bezug der Ausgleichsrente gebunden ist. Damit wird ein großer Kreis der ärztlichen Betreuung und Behandlung verlustig gehen und in unmittelbare Not geraten.
Direkt unverständlich erscheint uns bei diesem neuen Gesetz die Bestimmung, daß die Lehrvergütung auf die Ausgleichsrente angerechnet wird. Das hat logischerweise die Konsequenz, daß damit vielfach der Verlust der Ausgleichsrente verbunden ist.
Wenn wir uns einmal in aller Nüchternheit den Katalog derjenigen ansehen, die nach diesem Gesetz Ausgleichsrente erhalten, müssen wir feststellen, daß dazu alle sogenannten Leichtbeschädigten, alle Schwerbeschädigten, die 70 % beschädigt sind und Invaliden- oder Angestelltenversicherungsrente von 80 oder 90 Mark beziehen, alle pensionierten Beamten, die Landwirte, Gewerbetreibenden, Besitzer eines Häuschens und alle Lohn- und Gehaltsempfänger gehören, die voll in einem Arbeitsverhältnis stehen.
Nach dem Gesetz ist der allgemeine Freibetrag auf ein Drittel bis ein Fünftel des bisherigen Betrags gekürzt, und die Anrechnung von 75 % beträgt bei Verdiensten über den Freibetrag hinaus das Doppelte. Der arbeitende Schwerbeschädigte wird bei dieser Methode der Gewährung einer Ausgleichsrente also direkt bestraft. Wie kann man einem Schwerbeschädigten zumuten, entsprechend seinen geistigen Fähigkeiten und körperlichen Möglichkeiten zu arbeiten, wenn er bei einem Verdienst von über 100 Mark statt einer Mark Tariflohn nur 35 Pfennig erhält!
Wenn man die Ablehnung der gestellten Forderungen mit dem Fehlen der Mittel begründet, so muß ich demgegenüber zitieren, was ,einmal der Herr Arbeitsminister Storch gesagt hat, der das Wort prägte: Sozialreform geht vor Steuerreform. Sollten also die Haushaltsmittel nicht ausreichen, so daß man die notwendigen 3,6 Milliarden DM nicht zur Verfügung stellen kann, so muß eben das auf Initiative des Herrn Bundesfinanzministers verabschiedete Finanzgesetz einer Revision unterzogen werden. Mit deklaratorischen Bestimmungen ist den Körperbeschädigten nicht geholfen.
Wir haben in diesem Hause nicht nur einmal, sondern mehrmals — in den Diskussionen, die sich um die Frage der Versorgung der Körperbeschädigten drehten — festgestellt, daß ein fauler Wechsel auf die Zukunft ausgestellt wird. Dieser faule Wechsel liegt Ihnen heute zur Einlösung vor. Wenn der vom Nationalsozialismus geborene Gedanke, daß die Kriegsbeschädigten, die noch im Erwerbsleben stehen, keinen Anspruch auf nennenswerte Rentenleistungen haben, in diesem Gesetz im Prinzip verwirklicht worden ist, so zeigt das den wahren „sozialen" Inhalt des Gesetzes.
Die kommunistische Fraktion stellt als primäre Forderung das Verlangen nach Sicherung einer Vollrente in Höhe von mindestens 1800 Mark. Damit wäre auch den Vollerwerbsbeschränkten die Möglichkeit gegeben, ihren Lebensunterhalt und ihre sonstigen Bedürfnisse kultureller und anderer Art und den aus ihren Beschädigungen resultierenden Mehraufwand zu decken.
Die im Gesetz festgelegte Bestimmung über die Elternversorgung ist ein Hohn auf das primitivste Rechtsgefühl und zwar nicht nur in bezug auf die Rentensätze, sondern auch im Hinblick auf die lächerlich niedrigen Einkommensgrenzen, die das Gesetz festlegt.
Wir sind uns darüber im klaren, daß bei der hier herrschenden Regierungsmehrheit — und meine verehrte Vorrednerin hat das sehr deutlich zum
Ausdruck gebracht, indem sie sagte, daß die Körperbeschädigten dieses Gesetz begrüßen sollten - mit einer Verbesserung dieses Gesetzes auch im Ausschuß kaum zu rechnen sein wird. Wir sind aber auch der Überzeugung, daß sich die Körperbeschädigten mit diesem Gesetz nicht zufriedengeben werden. Seien Sie versichert, meine Damen und Herren: der Marsch der Körperbeschädigten nach Bonn ist nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben; er wird kommen!