Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Fraktion hat sich entschlossen, in der dritten Lesung dieses Gesetzes keine Abänderungsanträge zu stellen außer einem einzigen, nämlich dem Antrag: Sitz des Bundesgerichtshofes soll Berlin sein.
Zu dieser Haltung bestimmen uns im wesentlichen zwei Gründe: erstens soll dadurch die bloße Vorläufigkeit dieser Justizreform als der sogenannten kleinen Justizreform unterstrichen werden, und zweitens halten wir es gerade bei Justizgesetzen für unerläßlich, den eigentlichen Zeitpunkt der Reife abzuwarten. Unsere Zustimmung zu diesem Gesetz bedeutet also keineswegs, daß wir die Justizgesetze nicht für reformbedürftig hielten, im Gegenteil, wir bedauern durchaus die vielen Reden, die der Herr Bundesjustizminister zu halten pflegt und für die im allgemeinen das gelten soll, was der Herr Kollege Euler heute morgen hier im Hause gesagt hat. Wir sind der Auffassung, daß eine grundsätzliche Reform notwendig und eine ganz andersartige Gestaltung des Rechtsganges, besonders in Strafsachen, denkbar und wünschenswert ist. Aber darum handelt es sich heute nicht, und wir sind bewußt entschlossen zu einer Sparsamkeit der Mittel und zum Maßhalten und haben uns dieser Haltung allseits — das gilt für alle Fraktionen – auch im Ausschuß befleißigt.
Ein typisches Beispiel hierfür sollte der § 81 c der Strafprozeßordnung sein, den das Hohe Haus in der zweiten Beratung gestrichen hat. Derartige Dinge lassen sich nicht sozusagen zwischen Tür und Angel und durch eine eilige Abstimmung hier im Hause regeln. Dazu sind solche Bestimmungen viel zu weittragend. Allein die Überlegung, was „ein körperlicher Eingriff" heißt, was die Rechtsprechung daraus machen kann, welche Gefahren daraus entstehen, ist so schwierig, daß sie sich nicht in wenigen Minuten anstellen läßt. Meine Freunde und ich haben gerade in den letzten 24 Stunden noch einmal darum gerungen, zu prüfen, ob es möglich ist, hier eine Bestimmung in das Gesetz einzufügen, die allen Erfordernissen rechtsstaatlichen Denkens Rechnung trägt. Aber wir sind darauf gestoßen, daß es heute viel zu schwierig wäre, den Begriff der Zumutbarkeit eines solchen Eingriffs zu bestimmen. Denn was ist zumutbar? Ist Narkose unter den modernen Verhältnissen zumutbar? Ist ein Eingriff, der im Schneiden besteht, zumutbar? Ist es der Person, die nicht beschuldigt ist, zumutbar, starke Schmerzen auszuhalten? Alles das sind so offene Fragen, die sich ohne genaueste Überlegung und gutachtliche Beratung durch alle dazu berufenen Vereinigungen nicht entscheiden lassen. Wir sind deshalb der Überzeugung, daß man gerade im Bereich der Justizgesetzgebung nichts überhasten soll, sondern äußerst behutsam vorgehen muß.
Zu § 81 c würden wir, falls die Bundesregierung Gewicht darauf legen sollte, unter Umständen bereit sein, einer sehr vorsichtigen Formulierung zuzustimmen, die nicht über die bisherige Rechtsprechung hinausgeht und einerseits der Würde und Unversehrtheit des Menschen Genüge tut, aber andererseits den Erfordernissen der Wahrheitserforschung entspricht.
Aber, meine Damen und Herren, durch die Selbstbeschränkung, die wir uns bei Stellung der Anträge auferlegt haben – obgleich wir sehr, sehr viele
Wünsche hätten; auch sehr viele ernste Wünsche, z. B. gerade in der Frage der Zuständigkeitsgrenze zwischen Amts- und Landgerichten in der Zivilgerichtsbarkeit —, bemühen wir uns, den Blick auf das Wesentliche dieses Gesetzes zu lenken. Das Wesentliche ist doch heute, die Rechtseinheit und die Rechtssicherheit wiederherzustellen.
Das ist der Gesichtspunkt, der allem anderen und allen möglichen Wünschen, die in sehr vieler Hinsicht denkbar sind, unbedingt vorausgestellt werden muß.
Die Bedeutung dieser beiden Grundgedanken, Rechtseinheit und Rechtssicherheit wiederherzustellen, geht über die Sphäre des rein Rechtlichen weit hinaus. Denn das Recht als Kulturerscheinung ist doch von außerordentlich ausstrahlender Wirkungskraft. Letzten Endes handelt es sich dabei doch um die deutsche Einheit, die auf dem Rechtsgebiet und durch das einheitliche Recht auch wiederhergestellt werden soll, und um unser Einssein mit der europäischen Kultur.
Ich bitte Sie herzlich, in diesem Sinne auch unseren Antrag zu sehen, Berlin zum Sitz des oberen Bundesgerichts für Zivil- und Strafsachen zu machen. Es darf sich dabei um keinen Streit um Städte handeln. Der Herr Kollege Ewers hat bei der zweiten Lesung von diesem Platze aus die sachlichen Erfordernisse sehr richtig aufgezählt, die an den Ort gestellt werden müssen, an den das obere Bundesgericht gesetzt werden soll: daß es sich um eine Großstadt mit pulsierendem Leben handeln muß, aber auch um eine Stadt mit Hochschule — Universität — und Bibliothek. Der Herr Kollege Ewers hat mit Recht darauf hingewiesen, daß nur einige wenige Städte, die er genannt hat, diesen Erfordernissen gerecht werden.
Aber, meine Damen und Herren, es geht um noch mehr. Es geht nicht nur um die Entscheidung für oder gegen eine Stadt, sondern es geht hier bei diesem Gesetz und bei diesem Beschluß um eine gesamtdeutsche Entscheidung.
Ich habe bange Sorge, ob es mir in dieser späten Minute noch gelingen wird und gelingen kann, Ihr Gehör zu finden, da der eine oder der andere landsmannschaftlich die eine oder die andere Stadt liebt, die sicherlich alle ihre Vorzüge haben. Aber ich bitte Sie doch dringend, mir dieses Gehör zu schenken und die Gründe zu erwägen und zu wägen, die uns zu unserem Antrage veranlaßt haben. Ich habe unter allem, was eingewandt worden ist, eigentlich nur eins gehört, was überlegbar wäre, nämlich die Erwägung des Herrn Kollegen Ewers, daß Berlin ja die deutsche Hauptstadt sei und es einem alten Brauch entspreche, das höchste Gericht nicht an den Sitz der Regierung zu verlegen. Aber dieser Grundsatz ist kein Dogma, und dieser Grundsatz entspricht auch durchaus nicht immer der Geschichte. Ich darf Sie daran erinnern, daß zum Beispiel, ehe das Deutsche Reich gegründet war, die Landeshauptstädte wie Berlin, Dresden oder München ganz selbstverständlich auch Sitz der höchsten Gerichte gewesen sind. Aber unsere Lage ist ja doch auch eine andere, als sie zu bestehen pflegt, wenn man in aller Freiheit einen solchen Entschluß trifft. Denn die erste Stadt, die einen wirklich unbestreitbaren Anspruch darauf hätte, Sitz des höchsten Gerichts zu werden, ist ja Leipzig. Da wir aber Leipzig nicht wählen können, muß und kann nur Berlin stellvertretend für Leipzig Sitz des höchsten Gerichts sein.
Ich bin gefragt worden, was denn diese „Demonstration" — wie man es bezeichnet hat — hier soll, ob wir uns das nicht überlegen wollen. Ich bin darauf hingewiesen worden, wir machten unter Umständen durch einen Antrag, der der Ablehnung verfiele, mehr Schaden als Nutzen. Wir haben uns das auf das allerernsteste überlegt. Ich kann Ihnen sagen, wenn wir den Antrag, Berlin zum Sitz des oberen Bundesgerichts für Zivil- und Strafsachen zu machen, hier stellen, so handelt es sich für uns nicht um eine Demonstration, sondern um Integration. Es handelt sich darum, durch diese Wahl das gesamtdeutsche Schicksal zu symbolisieren und damit erkennen zu geben, daß Berlin mehr als eine Stadt und sogar mehr als eine Hauptstadt ist, daß Berlin vielmehr der erste Ort in Deutschland ist, der sich die Achtung der freiheitlichen Welt für uns alle wiedergewonnen hat.
Wodurch hat sich Berlin diese Achtung wiedergewonnen? Denken Sie an die Tage, als die Blokkade begann. Bei aller Wertschätzung der technischen Leistung der Luftbrücke und bei aller Anerkennung, daß ohne die Luftbrücke der Kampf um Berlin nicht hätte gewonnen werden können, muß man doch aussprechen, daß es nicht nur die Luftbrücke, sondern auch die eigene Entscheidung der Berliner und die eigene Haltung der deutschen Menschen in Berlin gewesen ist, die den Erfolg gesichert und herbeigeführt hat.
Diese eigene Haltung ist auch heute für uns alle erforderlich. Denken Sie bitte daran, was für Worte über den Ernst der Stunde und die Not unseres geschichtlichen Augenblicks heute morgen hier seitens des Herrn Vizekanzlers, des Herrn Kollegen Euler und des Herrn Kollegen von Merkatz gesprochen worden sind. Dürfen wir uns gegenüber diesem Ernst selber als zu klein erweisen? Müssen wir nicht gerade deshalb den Blick auf das Ganze richten und erkennen, daß die Gefahr in Berlin nicht größer ist als an jedem anderen Orte Deutschlands, Europas und der Welt?
Wir dürfen nicht aus irgendwelchen technischen Gesichtspunkten, weil angeblich das Reisen nach Berlin schwierig ist, hier vor einer Entscheidung zurückschrecken, die politisch eine notwendige und unausweichliche Entscheidung ist.
Ich darf noch einmal auf die Gefahr zurückkommen. Die Gefahr in Berlin ist nicht größer, aber sie ist sichtbarer als anderswo. Es ist gerade gut, daß sie sichtbar ist. Denn hüten wir uns doch vor der Flucht in die Unwirklichkeit, dieser Flucht, der man hier im idyllischen Bonn allzu leicht zu erliegen droht. In dieser Stunde und bei diesem Gesetz gilt es, ein Bekenntnis abzulegen. Man kann die Fragen, die uns aufgegeben sind, nicht durch Ausweichen lösen, sondern einzig durch Glauben. Berlin hat den Glauben bewiesen, den Glauben an sich selbst, den Glauben an Deutschland und den Glauben an Europa, an die Menschenrechte und die Freiheiten. Heute sind die Blicke von Berlin her auf uns, auf Sie, meine Damen und Herren, gerichtet. Berlin wartet auf eine solche Entscheidung. Berlin ist in einer Notlage, die diejenige des übrigen Deutschlands leider noch übertrifft, zumal Berlin früher Verwaltungshauptsitz war, so daß ein unverhältnismäßig großer Anteil der Bevölkerung, bis zu 45 %, als Beamte und Angestellte in der Verwaltung tätig war. Diesen Menschen können Sie nur dadurch Arbeit
geben, daß Sie Berlin wieder zu einem hauptsächlichen Verwaltungssitz machen.
Man hat bisher gegenüber diesem Verlangen stets einzuwenden gepflegt, obere Bundesbehörden seien noch nicht errichtet und infolgedessen sei es noch nicht möglich gewesen, Berlin zu bedenken. Tatsächlich hat man allerdings eine Behörde wie das Bundespatentamt von Berlin fortgenommen. Heute handelt es sich um die erste derartige Bundesbehörde, die errichtet wird. Bei der Errichtung dieser ersten Bundesbehörde können und dürfen wir an Berlin nicht vorbeigehen. Dies muß ein Prüfstein für unsere Stellung zu diesem Problem sein.
Ich darf bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, daß die Sprache der Gesetze, die Sie heute verabschieden sollen, ja nicht von ungefähr ist. Wenn Sie darauf achten, werden Sie sehen, daß die Worte „Bundesgebiet" oder auch „Bundesrepublik Deutschland" darin nicht oder nur an den richtigen Stellen vorkommen. Warum? Weil nach der einhelligen Auffassung im Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht entgegen dem leider weitum eingerissenen Mißbrauch Bundesgebiet stets das ganze deutsche Gebiet ist und weil die Bundesrepublik identisch ist mit dem einen gesamten deutschen Staat, der nie einen Tag zu existieren aufgehört hat. Deshalb muß die Einheit des Rechts, die wir heute hier wieder schaffen wollen, auch die Einheit Deutschlands symbolisieren. Darum muß, wie der Kollege Bucerius mit Recht gesagt hat, die höchste Behörde auf dem Gebiete der Rechtsprechung mit sichtbarer Leuchtkraft gerade in die umkämpfte Stadt gelegt werden.
Meine Damen und Herren! Ich beschwöre Sie in diesem Sinne, sich so zu entscheiden, daß es nach Verabschiedung dieses Gesetzes heißt: Das deutsche Recht wird in Berlin gesprochen!